Ovids Metamorphosen VII: Eine verrückte, verhexte Welt

Lesedauer 6 Minuten

Was hat Medea nicht alles für „ihren“ Jason gezaubert! Er, der schwächliche Sonnyboy, wäre beim Versuch, das Goldene Vlies „zurückzuholen“ – also zu rauben – ohne sie kläglich gescheitert. Seine Stärke ist, sich selbst zu überschätzen und dennoch die Sympathie vieler anderer zu gewinnen. Das muss man auch können. Für mich nicht gerade das Ideal eines griechischen Helden.

Kaum wieder in der Heimat trifft er auf seinen hilflosen Vater Aeson, der bereits in jungen Jahren seinem rücksichtslosen Bruder Pelias nicht gewachsen war. Nun ist er auch noch altersschwach und dem Tode nah (iam propior leto fessusque sennilibus annis)[1]. Jason bittet deshalb Medea, ihn zu verjüngen und einige seiner Lebensjahre dem Vater zuzuteilen: „so nimm von meinen Lebensjahren einige weg und gib sie meinem Vater! (deme meis annis et demptos adde parenti)“ Typisch Jason, möchte man sagen. Er stellt sich das wohl als eine Art Umverteilung vor: müsste doch möglich sein, wenn alle guten Willens sind, oder?

Demnächst

Natürlich muss Medea fliehen. Und der Flucht folgt noch eine bevor Ovid ihre Spuren sich im Nichts verlieren lässt. Er gibt der Geschichte Medea kein Ende, er lässt sich verenden.

WIR LESEN OVID
Ovid – WikiCommons

Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.

Medea hat für ihn eh schon so viel getan, was allen Glauben übersteigt (excessit fidem), warum dann nicht auch das, wofür er selbst einen spektakulären Beitrag leisten mag. Und was – so fragt Jason – vermögen Zauberlieder nicht (quid enim non carmina possunt)? Wieviel sie vermögen, das hat uns Ovid ja nun in den sechs Büchern der Metamorphosen vorgeführt. Und er wird uns gleich zeigen, wie man sich das vorzustellen hat und durch seine Dichtung (carmen) für uns wirklich wird …

Von der Macht der Zauberei, die sich beweisen muss

Aber das Ansinnen Jasons ist nicht nur „technisch“ fragwürdig, es ignoriert völlig die Interessen Medeas: sie hat sich in ihrer bedingungslosen Hingabe an Jason so vieler Verbrechen schuldig gemacht und sollte dessen Leben nun verkürzen? Was mutet Jason ihr da zu: „Welch ein Frevel, lieber Mann, ist über deine Lippen gekommen. Traust du mir zu, daß ich irgendeinem deine Lebenszeit überschreibe?“ Jasons Ansinnen ist eine einfältige Zumutung, die, „gutgemeint“, aber mit gleichsam autistischer Rücksichtslosigkeit auf seine Umgebung, die Welt auf den Kopf stellen möchte: er ist nicht nur blind für Medeas leidenschaftliche Zuneigung, auch nach der väterlichen Bereitschaft, vom Sohn Leben zugeteilt zu bekommen, vermag er nicht zu fragen. Was er wünscht wird, so Medea, weder die Zustimmung Hekates bekommen, der sie ihre Zauberkraft verdankt, noch sei seine Bitte angemessen und gerecht (aequa) – so als hätte sie sich darum in bisherigen Tun irgendwie geschert.

Das Verlangen Jasons schafft freilich auch in Medea eines, dem sie sich schlecht entziehen kann, nämlich die Begierde, sich und ihm erneut ihre Macht zu beweisen. Sie strebt danach, seinen Wunsch besser zu erfüllen, nämlich so, dass er daran keinen Anteil hat und also keinen Schaden nimmt. Sie willl Aeson verjüngen ohne die Lebenszeit des Sohnes zu verkürzen. Das verlangt das Mitwirken Hekabes und vieler anderer göttlicher Mächte, vor allem aber erfordert es von ihr höchste Anstrengung und konzentrierte Sorgfalt bei der Durchführung. Es genügt nicht die Götter um Mithilfe anzurufen. Die Götter bieten immer und überall vielerlei an, das verständig aufgegriffen und kunstvoll zusammengemischt, das Unmögliche möglich macht. Dazu muss sie selbst tätig werden, sie muss die Welt durchstreifen, um das von den Göttern natürlich Gewährte, das kunstlos unbeachtet und ungenutzt bleibt, in seiner Kraft zu erkennen und kunstreich zu einer erstaunlichen Wirksamkeit zu verbinden. Es ist das Wissen der Kräuter- und Naturkundigen, die oft als Hexen und Zauberer verschrien wurden, später Alchimisten genannt, die Vorfahren der technischen Wissenschaften wurden. Ovid schmückt diese Forschungsreise der Kräuterhexe Medea aus und führt uns in die scheinbaren Abgründe eines dunklen Geheimwissens – je gruseliger, ekliger, schleimig-abstoßender und giftiger die Zutaten klingen, desto mehr fühlen wir Leser uns der Zauberei nahe. Schließlich braut sie unter Ausschluss deren, die des Zaubers unkundig und unwürdig sind –, uns Laien eben –, aber unter Anrufung der beteiligten Götter und vor allem der göttlichen Zauberin Hekate einen Sud. Sie rührt ihn mit einem verdorrten Ast zusammen, der dadurch wieder Blätter und Früchte bekommt und ihr zeigt, dass der Zaubertrank gelungen ist. Aeson wird nun herbeigetragen, Ovid spricht vom „altersschwachen Leib (Aesonis effetum corpus)“, der zu ihr gebracht wird, und dem Medea nun mit gezücktem Schwert die Kehle aufschneidet, das alte Blut entweichen und mit neuem Saft anfüllen lässt. „Nachdem Aeson diese teils durch den Mund, teils durch die Wunde aufgenommen und in sich eingesogen hatte, verloren Bart und Haare die weiße Farbe und wurden im Nu schwarz. Weit entflieht die Magerkeit; Blässe und Alterschwäche verschwinden; was eingefallen und runzelig ist, füllt sich mit nachwachsendem Fleisch, und die Glieder strotzen vor Kraft: Aeson staunt und fühlt sich wie vor vierzig Jahren.[2]

Tatsächlich? Wir erfahren darüber nichts weiter. Experiment gelungen, Zauberkraft bewiesen! Schluss. Wie es sich jetzt als Aeson leben lässt? Weiß er von seiner Geschichte und ist er der Alte nur in neuer Gestalt? Oder wurde er in die eigene Jugend zurückgeworfen ohne sich in seinem Leben zu erkennen? Wie lebt es sich „naturwidrig“ als Vater nun mit dem gleichaltrigen Sohn. Kann Jason nun glücklich mit diesem Zaubertrick leben?

Was geht, wurde gemacht, eben weil es geht – und zu unserem Erstaunen und gegen unsere Erwartung auch tatsächlich geht, aber auch ohne Rück- oder besser Vor-Sicht auf die Folgen. Das, so stand zu befürchten – und hat sich inzwischen gezeigt – gilt nicht nur für Hexerei und das Werk von Zauberern und Alchimisten, es ist auch das schwer lastende Erbe der wissenschaftlichen Nachfolger.

Medea und die Pelias-töchter

Aber natürlich beeindrucken die Zauberkräfte und wecken das Interesse mächtiger Herrschaften. „Von der Höhe des Himmels hatte Liber [Dionysos/Bacchus] das erstaunliche Wunder gesehen; da fällt ihm ein, man könnte seinen Ammen die Jahre der Jugend zurückgeben…“ Medea tut ihm den Gefallen und findet bald noch weitere „Bedarfsträger“. Auch Pelias, der machthungrige Bruder des Aeson ist in die Jahre gekommen. Auch seine Macht kommt an seine Lebensgrenze. Und so ersuchen seine Töchter Medea, ihm den gleichen wunderlichen Gefallen zu tun, den sie Aeson gewährte. Wie Jason wissen sie gar nicht, was sie tun und worauf sie sich eigentlich einlassen. Medea und ihresgleichen gehen nämlich über Leichen.

Um die Töchter noch entschlossener zu machen, sich auf den Zauber einzulassen, gibt Medea sich zögerlich. Sie möchte, dass die Auftraggeber sich sicher fühlen, sich ganz der Hexerei verschreiben und selbst ein Teil von ihr werden. Sie gibt deshalb eine Probe ihrer Kunst: „Damit ihr noch mehr Vertrauen zu dieser Gabe gewinnt, wohlan, der älteste Widder in euerer Schafherde wird durch mein Zaubermittel zum Lamm werden.“ Das überzeugt. Und die Töchter bedrängen Medea noch inständiger, mit dem Austausch der Lebenssäfte beginnen, das alte Blut des Pelias durch das neue verhexte zu ersetzen. Nur ist das als Versuchskaninchen gewählte Schaf eben keine Person – es unterscheidet sich nicht nur physisch-biologisch von Personen, die eine eigene Lebensgeschichte und Töchter haben und um sie wissen.

Das wissen wohl auch irgendwie die Zauberer. Es liegt ihnen deshalb dran, Mit-Wisser und Mittäter zu bekommen. Was sie tun, müssen dann andere verantworten. Und so wird Pelias von Medea in einen „totenähnlichen Schlaf“ versetzt, so dass nun die Töchter das Rettungswerk beginnen lassen können. Dazu freilich müssen sie dem Vater die Adern öffnen und die Kehle durchtrennen: „Was zögert ihr jetzt feige? Zückt die Messer und holt das alte Blut heraus, damit ich die leeren Adern mit jugendlichem auffülle! In eurer Hand liegt das Leben des Vaters und sein Alter: wenn ihr einen Funken kindlicher Liebe habt und keine falschen Hoffnungen hegt, dann erweist eurem Vater diesen Dienst; verjagt das Alter mit Waffen und laßt die verdorbenen Säft abfließen, indem ihr den Stahl auf ihn zückt.[3] Es heißt in einem dieser wundervollen Ovidischen Formulierung: „frevelt, um nicht zu freveln! (ne sit scelerata, facit scelus)“[4] Also stoßen sie, den Blick abwendend, „mit grausamer Hand Wunden, die sie nicht sehen“ wollen. Im Todeskampf fragt er verstört „Was tut ihr Töchter?“ Was hat euch zu so etwas ermächtigt?

Manchmal ist der „Stahl“, der „gezückt“ werden muss, sehr dünn. Nur ein Piks ist nötig um die alten, gefährlichen Lebenssäfte zu verhexen. Und der zugemutete Frevel soll den Frevel unsolidarischen Handelns verhindern, der Kinder zu Mördern an ihnen Omas und Opas machen würde. Medea versucht ihre Verschwörung gegen Pelias, die sie vielleicht aus besinnungsloser Hingabe an Jason begeht, als Erfindung von Verschwörungstheoretikern erscheinen zu lassen. Auch hier ist sie nur die Vorläuferin einer langen Tradition. Ethik und Moral haben seither verzweifelt versucht das durch den Appell an den moralischen Sinn, die Ehrfurcht vor der Würde des Menschen und durch die Etablierung von Grundrechten zu verhindern. Wie gut das seither gelungen, muss jeder selber beurteilen.  

[1] VII 163.

[2] VII 287ff.

[3] VII 332ff.

[4] VII 340.

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