Ovids Metamorphosen VII: Medea denkt

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Die Argonautensage eine antike Soap Opera, der ich nicht viel abgewinnen kann. Sie ist eine Aneinanderreihung von abenteuerlichen Bewährungsproben, in denen fast das gesamte Heldenpersonal des antiken Griechenlands auftritt. Ovid will sie aber nicht einfach übergehen. Gerade die Art wie er sie in den Metamorphosen ins Spiel bringt ist selbst eine Botschaft: für seine Dichtung, die wie Ovid im Prooemiums sagt, „von den Göttern beflügelt, ununterbrochen vom allerersten Ursprung bis in meine Zeit führt“,[1] spielen die Argonauten keine (große) Rolle.

Der Stoff ist freilich schon alt. Bereits bei Homer finden sich Motive. Zusammengefasst und überliefert wurde sie dann von Apollonios von Rhodos einem Gelehrten aus Alexandria, der von 270 bis 246 v. Chr. der berühmten Bibliothek von Alexandria vorstand. Natürlich schielt er bei der Wiedergabe des mit der Zeit aufgehäuften Heldentamtams auf Homer und versucht dabei vor allem seine beachtliche Gelehrsamkeit zur Geltung zu bringen.[12]

WIR LESEN OVID
Ovid – WikiCommons

Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.

Jason, der Führer der Argonauten, muss das Goldene Vlies von dem entlegenen Kolchis zurück ins heimische, thessalische Iolkos holen. Bei der Fahrt ans Ende der Welt, nämlich ans östliche Ende des Schwarzen Meers, wo bei Aietes am Fuß des Kaukasusgebirges im Hain des Ares das Goldene Vlies von einem Drachen bewachen lässt, kann der alexandrinsiche Gelehrte mit seinen geographischen und nautischen Kenntnisse glänzen. Während uns die Hinreise durch den Hellespont (Dardanellen), die Propontis (Marmarameer) und durch den Pontos (Schwarzes Meer) noch stauen lässt, wird es bei der Rückreise dann doch reichlich „phantastisch“: laut Apollonios sind seine Helden die Donau (Ister) rauf, dann irgendwie in die Adria (über den Taliamento?), dann nach einigem Umherirren den Po (Epidamus) hinauf, hinein und über die Alpen zum Bodensee, ein Stück den Rhein hinauf, dann die Rhone runter wieder ins Mittelmeer, über Elba (Aethalia) und die Straße von Messina (Scylla und Charabdis) zur Insel der Phaeaken (Kerkira) und über einen „kleinen“ Abstecher nach Nordafrika um Kreta herum wieder ins heimatliche Iolkos. Dabei spielen sich zahlreiche abenteuerliche Geschehnisse ab – auch solche die Ovid und seine Kunst der Beschreibung hätten reizen können. Die großen Helden treffen auf der Insel Lemnos z.B. auf Frauen, die ihre Männer wegen deren Untreue umgebracht haben, nun lust- und kinderlos mit den Folgen leben müssen und den Helden Griechenlands deshalb freundliche, sehr intime Aufnahme gewähren. Und natürlich verschoben unsere Helden selbstlos die Weiterreise jeden Tag neu. Nur einer war auf dem Schiff, der Argos, zurückgeblieben und nicht in den Genuss entspannender Gastfreundschaft gekommen: der große Herakles, der schließlich seine Mitstreiter, die sich der Lust ergeben hatten, zur Besinnung riuft und sie zur Wiederaufnahme der Mission auffordert.[2]

Statt sich zumindest einigen der vielen wundersamen Abenteuer zuzuwenden, die unsere argonautischen Supermänner auf der Fahrt zu bestehen hatten, liest sich das über die Hinreise bei Ovid so: „Nach vielen Abenteuern waren sie schließlich unter dem berühmten Iason zu den reißenden Wellen des schlammigen Phasis gelangt.“ Ovid konzentriert sich auf eine Szene und eine Person. Gleich im nächsten Satz heißt es: „Während sie [die Argonauten] vor den König treten [also Aietes], das Goldene Vlies des Phrixus fordern und ihnen als schreckliche Bedingung schwere Arbeiten aufgebürdet werden, entbrennt die Tochter des Aietes in heftiger Liebe.[3] Ovid kann davon ausgehen, dass seine Leser um die auferlegten Arbeiten wissen und was es mit der „Tochter des Aietes“ auf sich hat, deren Namen dann im übernächsten Vers genannt wird: Medea.

Medea steht für eines der erschütternsten Geschehnisse der griechischen Mythologie, das für uns Moderne in ihrer Tragik kaum mehr zu verstehen ist.[4] In der nach ihr benannten Tragödie lässt Euripides (480-406 v. Chr) Medea aus Rache an Jason, der Medea wegen einer anderen verstieß, ihre eigenen Kinder ermorden. Sie tut dies in voller Einsicht in die Ungeheuerlichkeit der Tat.[5] Ovid lässt das außen vor. Ihn interessiert weniger das schreckliche Ende als vielmehr der erstaunliche Anfang ihrer Geschichte mit Jason. Medea „entbrennt“ bei der ersten Begegnung „in heftiger Liebe“. Sie ist sich selbst des Absonderlichen der eigenen Ergriffenheit bewusst, aber sie kann „die Leidenschaft durch Vernunft nicht bändigen“ (ratione furorum vinceret non poterat). Und mit diesem Seelenvorgang macht uns Ovid nun vertraut. Nicht indem er Medea von außen betrachtet und die Beweggründe, die er zu erkennen glaubt, beschreibt und kommentiert. Er lässt Medea selbst zu sich sprechen und gibt vor, nur den „inneren“, seelischen Dialog wiederzugeben, für den er offenbar ein verstehendes Ohr hatte. Und gleich der erste Satz seines Medeischen Gedankenprotokolls sitzt: frustra, Medea, repugnas: „vergeblich, Medea, leistest Du Widerstand“.[6] Er lässt Medea sich selbst mit Namen ansprechen. Ovid lässt sie sich selbst zu erkennen geben und sich ausprechen. Sie weiß sich als widerständig und spricht sich zugleich die Vergeblichkeit zu, die ihr Wollen und Tun ausmacht. Ihr, Medea, wird von ihrer inneren Stimme gesagt, dass sich ihr „ein Gott entgegenstellt“ und dieser Gott wohl das sei, was man Liebe nennt oder – Ovid kann es nicht lassen zu spötteln – „etwas sehr ähnliches“.[7]

Die Argonautensage berichtet, dass Hera Aphrodite gebeten habe, Eros zu beauftragen, Medea mit einem Pfeil aus seinem Bogen in glühende Liebe zu versetzen. Und so schleicht sich Eros zur ersten Begegnung von Jason und Medea im Königspalast und schießt mit viel Emphase, zwischen den Beinen Jasons hervorguckend (!?), seinen Pfeil auf Medea, deren „Herz Unaussprechliches ergreift“.[8] Stolz auf seinen Volltreffer macht er sich dann laut lachend wieder davon. Auch davon ist bei Ovid nichts zu lesen.

Medea (1866/68) von Frederick Sandys (1829-1904)

Aber etwas dem „sehr ähnliches“ sieht er am Werk. Eine Medea bislang „unbekannte Macht“ (nova vis) reißt sie mit sich fort. Sie hat plötzlich Angst, um das Wohl und Wehe eines Fremden, den sie grade zum ersten Mal gesehen hat. „Ob er leben oder sterben soll, liegt [freilich eh] bei den Göttern[9] Sie sucht sich damit zu beruhigen, dass die Rührung des Herzens, die sie empfindet, vielleicht nichts anderes als mitmenschliche Sorge um das Leben eines Unschuldigen sein könnte, die schließlich als lobenswert gilt und die doch jeder mitfühlende Zeitgenosse gegenüber einer leidenden Kreatur haben sollte. Was soll an diesem Menschen schon so besonders sein? Gutaussehende, zum Heldentum strebende Männer, mit denen sie glücklich werden könnte, gibt es auch in ihrer Heimat. Warum sich also vorstellen, sie könne mit diesem Fremden Heimat und Familie fliehen, um in einem fremden Land mit ihm glücklich zu sein. „Halte dir doch lieber vor Augen“, beschwört sie ihr Alter Ego, das sie selbst ist, „welch einen schweren Frevel du begehen willst, und fliehe vor dem Verbrechen, solange es noch geht.

Und tatsächlich scheint sie sich zu besinnen und die Einwände, die sich selbst macht, sie zu überzeugen: „Sprach’s und vor ihre Augen waren Rechtschaffenheit, Kindesliebe und Ehrgefühl getreten; und besiegt wandte sich der Liebesgott schon zur Flucht.[10] Wir wissen natürlich – nicht zuletzt aus eigener Erfahrung – dass das nicht das Ende der Geschichte ist. Man überschätzt die Kontrolle, die man über seine Stimmungen und Antriebe hat. Götter sind – ohne die Hilfe anderer Götter – gar nicht so leicht im Zaum zu halten.

Medea versucht sich abzulenken und besucht den Altar der Hekate, der Göttin der Zauberei, der Kunst, in der sie sich auch übt. Aber warum muss sie in die „Abgeschiedenheit des Waldes“ fliehen, wenn sie doch durch den vernünftigen Appell des Ehrgefühls (pudor) auf den richtigen Weg zurückgefunden hat? Sie glaubt ja „tapfer“ die Glut ausgetreten und niedergekämpft zu haben. Aber dann sieht sie Jason wieder und die „erloschene Flamme“ lodert erneut auf. Die Glut war nur verdeckt und der kleinste Windhauch lässt das Feuer wieder aufflammen. Und nun sieht sie sich als Retterin ihres Geliebten. Sie wird ihm mit ihren Zauberkünsten zum Sieg über die feuerspeienden Stiere, die gesäten übermächtigen Drachenzahnkrieger und das Ungeheuer bringen, das das Goldene Vlies bewacht. Alles im Versprechen auf eine goldene Zukunft mit Jason in einem fremden Land.

Medeas Zauberkräfte verhelfen Jason zum Sieg. Ovid schildert kurz den wundersamen Kampf, dessen Ausgang eh‘ allen klar ist und versetzt den Helden mit einem Streich zurück in seine Heimat: „stolz auf sein Beute [das Goldene Vlies] „trägt er seine Helferin – sie zweite Beute! – mit sich fort und kehrt als Sieger mit seiner Gattin in den Hafen von Iolkos zurück“. Damit ist der Ausflug zu den Argonauten für Ovid beendet.

Euripides

Ihn haben nicht die wunderlichen Kämpfe der griechischen Superhelden interessiert, sondern der Kampf der Medea, den sie mit sich selbst ausficht. Und ihr Kampf ist nicht der tragische der Kindsmörderin, der seit Euripides mit Medea verknüpft ist, sondern das Ringen um die Leidenschaft der Liebe. Medea verfällt Jason. Sie ist das Opfer der Leidenschaft, der sie sich nicht erwehren kann. Aber Ovid erzählt es anders als die mythologische Tradition. Es ist nicht einfach ein „objektives“ Geschehen, bei dem wir göttliche Mächte im Kampf um die Vorherrschaft sehen, Liebe versus Vernunft, leidenschaftliche Begierde und vernünftige Besinnung. Dieser Kampf zwischen pudor/mens und cupido/amor ist einer, der als erlebter „im Kopf“ der um ihre Lebensführung ringenden Person ausgefochten wird. Sie weiß um die an ihr zerrenden Kräfte und erfährt sich gerade in dieser Auseinandersetzung als die Person, die sie ist. Sie erlebt ihre Anstrengung als vergeblich („frusta, Medea, repugnas“) und diese Vergeblichkeit, Herrschaft über sich selbst zu erlangen und autonom zu handeln, macht sie und das menschliche Dasein wesentlich aus: „an mir reißt wider Willen eine neue Macht (nova vis). Zu dem einen rät die Begierde (cupido), die Vernunft (mens) zu dem andern: Ich sehe das Bessere (meliora) und heiße es gut; dem Schlechteren (deterior) folge ich.[11]

Die göttlichen Mächte bekommen eine rhetorische Form: das Ringen ist ein rhetorisches, ein Wettkampf (ἀγών, agon) ums überzeugende Wort. Bei Euripides findet das rhetorische Ringen im Wesentlichen in Anknüpfung an die wirkmächtige Sophistik als Rede und Gegenrede statt, zwischen Medea und Kreon, Medea und Jason, Medea und dem Erzieher und dem Chor. Bei Ovid ist das Ringen ein Selbstgespräch. Denken galt der Philosophie als „Gespräch der Seele mit sich selbst“, in dem das bessere Argument den handlungsleitenden Ausschlag gibt. Wieweit darin der „vernünftige“ Logos oder das affektive, bilderreiche, dichterische Wort die größere „mitreißende“ und „handlungsleitende“ Kraft hat, bleibe mal dahingestellt. Ovid jedenfalls zeigt uns seine Medea als eine Frau, die mit sich selbst ringt und in diesem Ringen zu dem wird, was sie ausmacht. Auch wenn uns das nicht gerade für sie schwärmen lässt, erkennen wir uns darin gleichwohl wieder.

 

Demnächst

Medeas wunderliche Zauberkräfte werden noch zu anderen Zwecken gebraucht. Sie sollen die Natur der menschlichen Willkür unterstellen. Wir ahnen – oder doch einige von uns: Das geht nicht gut

[1] I 2ff. di, coeptis […] / adpirate meis promaque ab origine mundi / ad mea peretuum deducite tempora carmen.

[2] In einer anderen Version wird die Geschichte noch „pikanter“ erzählt: w#hrend sich bei Apollonius die Frauen sich ihrer untreuen Männer entledigt hatten, ist es dort anders. Die Männer flohen ihre Frauen, weil sie unangenehm rochen. Unsere griechischen Supermänner mussten nun entscheiden, ob sie unbefriedigt weiter segeln oder sich nicht so anstellen sollten und gleichsam „naserümpfend“ um die Frauen „kümmern“ sollten. Das Ergebnis ist in beiden Fassungen das Gleiche.

[3] VII 7ff. : dumque adeunt regem Phrixeaque vellera poscunt / lexque datur Minyis magnorum horrenda laborum, / concipit interea validos Aeetias ignes

[4] Genau genommen ist es eine künstlerische Freiheit, die sich Euripides nimmt, und Medea zur Mörderin ihrer Kinder macht.

[5] Sie die berühmten Zeilen „ich weiß (μανθάνω) / welch gräßliches Verbrechen ich verüben will. / Doch über meine Einsicht siegt das Herz (θυμὸς δὲ κρείσσων τῶν ἐμῶν βουλευμάτων,), das für / die Menschen eine Quelle größten Unheils ist“ (Medeia 1078 ff.)

[6] VII 11.

[7] VII 12f.; mirumque qiud hoc est, / aut aliqiud certe simile huic, quod amare vocatur.

[8] Apollonios von Rhodos, Argonautika, III, 284: τὴν δ᾽ ἀμφασίη λάβε θυμόν.

[9] VII 23f.: vivat an ille / occidat, in dies est

[10] VII 72f.: dixit, et ante oculos rectum pietasque pudorque / constiterant, et victa dabat iam tergo Cupido.

[11] VII 19ff.: sed trahit invitam nova vis, aliudque cupido / mens aliud suadet: video meliora proboque / deteriora sequor!

[12] Ein bisschen von der Argonauten-Superman-Story kommt in dem Film Jason and the Argonauts aus dem Jahre 1963 rüber, der allerdings für seine damals spektakulären Effekte gefeiert wurde.

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