Ovids Metamorphosen IV: Wir erzählen um zu arbeiten

Lesedauer 13 Minuten

Darf man sich Dionysos/Bacchus als einen willigen Helfershelfer für seine Halbschwester Athene/Minerva vorstellen, nichts als ein diensteifriger Serviceprovider fürs Recreation-Center auf dem Google-Campus? Nur entspannte, gut gelaunte Mitarbeiter spinnen kluge Algorithmen aus wie sie Athena/Minerva gefallen. Also Arbeiten statt feiern. Man kann es sich auch bei der Arbeit gut gehen lassen – z.B. mit allerlei Geschichten oder anderen virtuellen Realitäten.

Athene hat immer Gefallen gefunden an den allzu Klugen, mit denen man richtig, nämlich intelligent, Krieg führen konnte: Odysseus z.B. oder Perseus gehören zu ihren Lieblingen.[1] Auch das Silicon Valley könnte ihr gefallen, wenn sie sich dort zu einem gewissen dankbaren Respekt durchringen könnten. Dionysos freilich würde den Google-Campus verwüsten und den Google-Hipstern zeigen, was ein wahrer Stack Overflow ist. Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass dem „neuen Gott“ die Business- und Data-Driven-World nicht gefallen dürfte.

WIR LESEN OVID
Ovid – WikiCommons

Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.

Töchter des Minyas, 1545

Er hat es – nicht nur hier – schwer, sich durchzusetzen. Auch Minyas’ Töchter weigern sich, „die Weihen des Gottes anzunehmen“ und leugnen, „daß Bacchus Juppiters Sohn ist“.[2] Als ein Fest zu Ehren es Bacchus’ ausgerufen wird, weigern sie sich, es mitzufeiern. Alle Arbeiten sollen dann auf priesterliche Anweisung liegen bleiben, aber die Minyas’ Töchter fügen sich nicht. Sie „stören das Fest, indem sie im Hause zur Unzeit das Werk der Minerva verrichten“, nämlich zu weben. „Während andere faulenzen und erlogene Mysterien besuchen, hält uns Pallas, die bessere Göttin, fest…“. Aber sie wollen sich „die nützliche Handarbeit mit mancherlei Reden versüßen, und im Wechsel, um uns die Zeit nicht lang werden zu lassen, unseren unbeschäftigten Ohren etwas berichten.[3] Die drei Schwestern einigen sich bei der fortgesetzten Arbeit reihum Geschichten zu erzählen.

Wir ahnen, das kann nicht gut ausgehen. Das Feiergebot schließt ein Arbeitsverbot ein. Zu arbeiten heißt „den Gott missachten“ und „die Feier zu entweihen“. Als Alcithoe als letzte in der Reihe der Schwestern ihre Geschichte erzählt hatte, machten sich im Haus bacchantische Mächte wirksam, wunderliche Töne und Düfte durchströmten das Haus, es bebte und Trugbilder eines bacchantischen Zuges erschienen. Die Webstühle wurden durch Wein umrankt. Schließlich nahmen die Schwestern auch an sich eine Wandlung wahr: „während sie ins Dunkel streben, spannt sich zwischen ihren feinen Gelenken eine Flughaut, und ihren Arm umschließt ein dünner Flügel… Kein Federkleid hob sie empor, sie hielten sich dennoch mit durchscheinenden Schwingen in der Schwebe. Sie versuchten zu sprechen, doch stoßen sie nur einen ganz schwachen Ton aus, der ihrer kleinen Gestalt entspricht, klagen leise zirpend und halten sich in Häusern, nicht im Walde auf. Da sie das Tageslicht hassen, fliegen sie bei Nacht aus und sind nach dem späten Abend benannt.[4] Die drei Minyaden wurden also zu Fledermäusen verwandelt.[5] Das ist nicht schön, aber man könnte jetzt sagen, es hätte schlimmer kommen können, wenn wir ans Ende des Pentheus denken. Anders als die tyrrhenischen Schiffer und Pentheus wollten sie ihm jedenfalls nicht an den Kragen und hielten den Bacchus-Kult nur für eine von arbeitsscheuen Faulenzern „erlogenen“ Firlefanz, der von den wichtigen Dingen des Lebens abführe. Erst die Arbeit und dann das Vergnügen und auch nur im Rahmen sittlich vernünftiger Grenzen – ohne zügellose Ausschweifungen und ungesunden Exzessen. Man kann schließlich auch ohne Alkohol gesellig sein.

Ich lasse erzählend erzählen

Für Ovid erlaubt das einen schönen Kunstgriff – die Fledermausverwandlung der Schwestern gibt als Rahmenerzählung Gelegenheit gleich weitere (Verwandlungs-) Geschichten zum Besten zu geben. Er legt sie den Schwestern in den Mund und gewährt ihnen großen Auftritt. Die erste, bei Ovid namenlos,[6] fängt gleich ganz „ovidisch“ an: Sie muss überlegen, „was sie aus ihrem reichen Schatz hervorholen soll – sie wusste nämlich viele Geschichten“. Ovid – er ist ja der auktoriale Erzähler – gibt gleich ein paar als Management-Summary wieder: „Soll sie von dir, babylonische Dercetis erzählen, von der Palaestinas Bewohner glauben, sie sei verwandelt worden, habe ein Schuppenkleid erhalten und im Teich Wellen geschlagen? Oder soll sie lieber davon berichten, wie Dercetis’ Tochter Flügel bekam und ihre letzten Lebensjahre auf hohen Türmen zubrachte? Oder wie die Naiade durch Gesang und allzu zauberkräftige Kräuter junge Männer in stumme Fische verwandelte, bis ihr dasselbe widerfuhr? Oder wie der Baum, der eins weiß Früchte trug, jetzt schwarze trägt, da er mit Blut bespritzt wurde? Dafür entscheidet sie sich, weil diese Geschichte unbekannt ist.“ Was für Formen- und Dichtungsspiel!? Nichts ist so einfach wie es scheint. Eine Geschichte, die erzählt wird, ist das Ergebnis einer Auswahlgeschichte, die Ovid der Minyade zuschreibt, der er selbst keinen Namen gibt. Und er, der auktoriale Erzähler, fragt nun Dercetis (!), ob „sie von dir… erzählen“ soll – welche Antwort erwartet er da? Und geht die zweite Frage, nach der Geschichte auch an sie oder schon an die Erzählerin bzw. ihr Publikum – mit welcher Geschichte bei ihm wohl die größte Aufmerksamkeit zu gewinnen ist? Ovid entscheidet sich im Namen seiner Erzählerin für den mit Blut bespritzten Baum – sie hat einen attraktiven Teaser und sie ist vor allem nicht allgemein bekannt (vulgaris fabula non est), sie hat nichts gewöhnliches, massentaugliches – und setzt sich von den niedrigen, vulgären Ausschweifungen ab, die die Schwestern bei den bacchantischen Festivitäten vermuten.

Pyramus und Thisbe

Pyramus und Thisbe

Zwei Verliebte leben als Nachbarn nebeneinander, dürfen es aber nicht miteinander. Ihre Familien haben mit ihnen anderes vor. Also müssen sie ihrer Liebe heimlich nachgehen. Aber Liebe lässt sich nicht verbieten. Wir wissen, dass das Verbot die Liebe meist noch mehr anfacht. „Je mehr ihre Liebe versteckt wird, desto heißer schwellt ihre Glut“ (quoque magis tegitur, tectus magis aestuat ignis)[7] oder wie Shakespeare es rund fünfzehnhundert Jahre später formulieren wird: „fire, that is closest kept, burns most of all“. Sie sprechen „durch Winke und Zeichen“ (nutu signisque loquuntur). Da hilft es auch nichts, Mauern aufzurichten. In allen Mauern entstehen Risse und die Liebenden finden sie („was niemand bemerkt hat, saht ihr zuerst, ihr Liebenden“): „was merkt die Liebe nicht? (quid non sentit amor?).[8] Durch den Riss sprechen sie sich ihre Liebe zu und verabreden sich schließlich zu einer gemeinsamen Nacht. Sie wollen sich draußen vor der Stadt an einem Baum treffen, der „überreich an schneeweißen Früchten“ ist und beim Grab des Ninus, einem König und vielleicht Gründer der Stadt, steht – ein Ort also, der die Reinheit der Liebe mit dem Tod verbindet. Thisbe kommt als erste. Das ist ein wenig unwahrscheinlich, denn Frauen lassen gewöhnlich auf sich warten, ist aber für die Dramaturgie entscheidet: kaum am Baum angekommen, sieht sie eine Löwin herankommen, „deren schäumender Rachen mit frischem Blut besudelt ist“ und die nach erfolgreicher Jagd und blutigem Mahl ihren Durst an der nahen Quelle stillen will. Dass Thisbe das alles bei Nacht und aus einiger Entfernung wahrnehmen kann, das nehmen wir der Geschichte zuliebe mal bereitwillig hin. Thisbe flieht in eine Höhle und verliert dabei ihren Umhang, den die schließlich abziehende Löwin zerreißt. Er wird vom schließlich auftauchenden Pyramus gefunden und er glaubt aus den Spuren der Löwentatzen und dem blutig zerfetzten Umhang, den er als Thisbes erkennt, auf ihren Tod schließen zu müssen. Aus Liebesschmerz stürzt er sich in sein Schwert. Thisbe, die sich schließlich aus ihrem Versteck wagt – der Schrecken sitzt ihr noch in den Gliedern, „doch sie kehrt zurück, um den Geliebten nicht zu enttäuschen“ (!) – findet den Sterbenden und es kommt zu einem etwas künstlich wirkenden Dialog: „Deine eigene Hand und die Liebe haben dich, Unglücklicher, vernichtet! Auch ich habe eine Hand (!), und für dies eine wird sie tapfer genug sein. Auch in mir ist Liebe, und sie wird mir Kraft geben, mich zu verwunden. Ich werden dir folgen und die Ursache deines Sterbens und deine Gefährtin im Tode heißen, ich Unglückselige!“ Sie sorgt sich also tatsächlich darüber, von der Nachwelt als liebestolle Mörderin von Pyramus angesehen zu werden?! Und kein Abschied ohne dramatisches Wort: „Den – ach! – nur der Tod mir / Je zu entreißen vermochte, den kann auch der Tod nicht entreißen.[9] Und sie findet noch Ruhe und Zeit für die Bitte, gemeinsam bestattet zu werden und die Bluttat auf ewig an den Früchten des Baumes sichtbar bleiben zu lassen? Wer sollte sie in einsamer Grabesnacht hören. Das ist wohl nicht allzu wörtlich zu nehmen. Die Nachwelt, die menschliche und die der Götter, werden das Ganze schon richtig einzuordnen wissen. Jedenfalls erhält der Baum tiefrote Beeren, die je reifer sie werden desto dunkler und fast trauerschwarz werden, und „was die zwei Scheiterhaufen übrigließen, in ruht einer einzigen Urne“.[10] Ist das nun traurige Ironie oder „tragisch“. Das lässt sich wohl nicht gänzlich trennen. Zwei Verliebte, die tollpatschig in die Katastrophe stolpern, das ist eigentlich der Stoff aus dem Komödien sind. Shakespeare musste eine ganze Menge zugeben, um mit Romeo und Julia daraus eine „echte“ Tragödie zu machen.[11] Die wundersame Geschichte des Zaubertranks, der Julia in eine vierzigstündige Todesstarre bringt, die schließlich zu ihrer Grablegung führt, ist dort der Kunstgriff, der die Zerrissenheit der sozialen Welt offenbart. Nicht wegen des Wunders, sondern trotz der offensichtlichen Seltsamkeit, kehrt sich dort alles gegen die Handelnden. In der ersten Geschichte, die Ovid seiner namenlosen Minyade erzählen lässt, geht es nur um die tragisch-komische Moral: So was kommt von so was her, also Finger weg – oder besser die Hände am Webstuhl lassen.

Der liebestolle Sonnengott

Ertappt und gefangen: Venus und Mars

Die Webenden sind zufrieden. Leuconoe beginnt ohne große Umschweife mit ihrer Geschichte, die zwei ineinander verschlungene Geschichten sind – eine komische und eine tragische. Und sie schließt direkt an die Moral der Vorgeschichte an: „Auch den Sonnengott, …, hat die Liebe ergriffen.“ Bei ihm ist es freilich eine Strafe. Er hatte Aphrodite/Venus verärgert, weil er ihrem Gatten Hephaistos/Vulcanus von ihrer Affäre mit Ares/Mars erzählte. Hephaistos/Vulcanus hatte darauf ein feines Netz gesponnen, in dem sich Venus und der etwas tumbe Kriegsgott verfingen als sie sich zum Liebesspiel ins Ehebett von Venus und Hephaistos fallen ließen. Die beiden liegen umschlungen im Netz, aus dem sie sich nicht lösen können und werden zum Gespött der Götter, die von Hephaistos als Zeugen herbeigerufen werden.

Venus ist entschlossen, Helios den Verrat heimzuzahlen. Sie macht ihn liebestoll und lässt ihn die Begierde spüren, deren Befriedigung er verraten hatte. Er verfällt völlig der schönen Leucothoe, kommt seinen göttlichen Verpflichtungen nicht mehr richtig nach, geht manchmal zu früh auf und manchmal zu spät unter, weil er sich an seiner neuen Liebe nicht satt sehen kann. Sie alte Liebe, Clytie, spielt nun die Rolle, die er bei Venus und Mars einnahm. Sie verrät den Liebestollen, der mit ihr inzwischen ein intimes Stelldichein herbeigeführt hatte, an den unerbittlichen Vater, der daraufhin, seine Tochter lebendig begraben lässt. Alle Hilfe kommt zu spät. Helios blieb nur noch die leblose in einen duftenden Weihrauchbaum zu verwandeln. In tiefer Trauer wendet er sich von Clytie ab, die am Liebeskram verhungert und sich in eine heliotrope Pflanze verwandelt, die sich immer der Sonne zuwendet und damit „ihrer Liebe trotz der Verwandlung treu bleibt“.[12]

Hermaphroditus

Das alles ist alles andere als erstrebenswert. Leidenschaft schafft Leid und Unheil. Deshalb: bleibt besonnen und lasst Euch nicht durch kurzen Zauber verführen. Wir sehen die fleißigen, züchtigen Bacchus-Verächterinnen zustimmend nicken. Es mag einige geben, die „bestreiten, daß so etwas geschehen konnte; andere sagen, wahre Götter seien allmächtig, Bacchus aber gehöre nicht dazu“. Alcithoe, die nun an der Reihe ist, lässt Ovid wieder überlegen, welche Liebesleid-Geschichte sie erzählen will: Daphnis Blendung und Versteinerung wird beiseitegelassen und auch eine besondere Verwandlung, von der außer der Andeutung hier bei Ovid nirgends die Rede ist, nämlich der eines gewissen Sithon, der, vermutlich ebenfalls liebeskrank, immer wieder sein Geschlecht wechseln muss und unaufhörlich von Mann zu Frau und wieder zum Mann wird: die „Naturgesetze“ wären danach – so die missverständliche Übersetzung von Michael von Albrecht – umgestürzt (naturae iure novato).[13] Alcithoe prangert die „Perversion“, die Verkehrung der natürlichen Ordnung, an. „Naturgesetze“ kann man nicht ändern – die Welt aber kann in Unordnung geraten, wenn man sich willenlos den Kräften des Dionysischen überlässt und sich der strategische Ordnung Athenes entzieht. Etwas, das die eigene Natur ändert, ist „widernatürlich“ – es zeigt, „dass da etwas ganz grundsätzlich nicht stimmt“.

Hermaphoditus von Salmacis umschlungen

Alcithoe entschließt sich, die Arbeitenden „mit einer lieblichen neuen Geschichte zu fesseln“.[14] Wie dürfen gespannt sein, wie „lieblich“ sie wirklich sein wird. Jedenfalls will sie etwas Bekanntes erklären, nämlich die Wirkung eines Gewässers auf die Männlichkeit. Nicht an Stärkung, Steigerung oder gar Potenzierung ist dabei gedacht – dafür bräuchte man wohl keine Erklärung und würde sich mit der Tatsache zufriedengeben. Es geht um die nachteilige Beeinträchtigung und Schwächung: „Erfahrt, warum der See Salmacis verrufen ist, wieso er mit seinen weibischen Wellen entkräftend wirkt und die Glieder, die er berührt, der Männlichkeit beraubt. Die Ursache ist verborgen, die Wirkung der Quelle wohlbekannt.[15] Es ist die Geschichte von Hermaphroditus, dem Zwitterwesen, von dem man nicht sagen kann, ob es männlich oder weiblich ist, vielmehr beides zu vereinigen scheint. Hermaphroditus ist zunächst der Sohn des Hermes/Merkur und der polyamoren Aphrodite/Venus. Er ist von ausgezeichneter Schönheit. Eine Nymphe ist von seinem Anblick hin und weg und stellt ihm nach. Und obwohl sie sich hübsch herausputzt ist er für sie nicht zu gewinnen. Er weist sie ab, doch damit kann sie nicht leben und wartet auf eine passende Gelegenheit ihn für sich zu gewinnen. Als er sich unbeobachtet glaubt, seine Kleider ablegt und im See badet, kann sie sich nicht mehr zurückhalten. Die Nymphe umschlingt ihn schlangengleich, lässt ihn nicht mehr los und beide verschmelzen zu einer männlich-weiblichen Gestalt. Und dem See hängt seither ein Fluch an: „Jeder, der diese Quelle als Mann betritt, möge sie als Halbmann verlassen…[16]

Hermaphoditus

Das ist wohl als „Down-grade“ gemeint. Gibt es auch – davon ist nicht die Rede – ein spiegelbildliches „Up-grade“? Alcithoe geht es offensichtlich nicht darum, das Beste aus zwei (Lebens- und Geschlechter-) Welten zum gemeinsamen Wohl zu verbinden. Transhumanismus lässt den Humanismus zurück, verändert die Natur des geschlechtlichen Menschen und das vermeintliche Up-grade ist ein vernichtendes Down-grade. Harmonische Vereinigung lässt sich hier nur partiell denken und muss die Selbständigkeit der eigenen Natur wahren/behaupten.

Die Moral der Minyaden-Geschichten ist also: Männer, hütet Euch vor der verführerischen Schönheit der Frauen, und liebe Geschlechtsgenossinen huldigt nicht der ausschweifenden Leidenschaft und verfallt nicht den Männern. Sie sind dabei vermutlich von Sehnsüchten und Begierden geleitet, die sie sich kaum zugestehen. Sie nehmen es denen Übel, die sich hier weniger selbstkasteiend verhalten. Ihre Selbstverarmung muss durch moralische Strafaktionen erträglich werden – darin bestätigen sie sich in ihren Geschichten. Und dabei sind sie in die Welt des neuen Gottes noch gar nicht eingetreten: von der Macht des Rausches und der Ekstase haben sie gar keine rechte Ahnung. Ihre Überschwänglichkeit ist die, bei der Arbeit mal verstohlen an einem Eierlikörchen zu nippen. Oder eben Recreation Geschichten zu erzählen.

Die schicksalspinnenden Moiren

Wir dürfen – und sollten vielleicht auch – an die die Moiren (Klotho, Lachesis und Atropos) denken, die am Webstuhl die Lebensfäden verspinnen und sie durchzuschneiden vermögen. Die Minyaden sehen sich wohl in einer ähnlichen Rolle. Der Hände Arbeit entscheidet über Glück und Heil, das einem in dieser Welt zuteilwird. Dass sich ihre Webschiffen auf dem rauschenden Meer des Lebens nur durch Anerkennung der Kräfte halten können, die sie sich nicht selber ausspinnen können. Vom neuen Gott werden sie entlarvt und in das verwandelt, was sie sind, lebenslichtscheue, gerippige Höhlenbewohner, die nicht im besten Rufe stehen. Von ihrer Ultraschall-Echo-Ortung und ihrer ökologischen Funktion als Schädlingsbekämpfer und Pflanzenbestäuber konnte Ovid noch nichts wissen – obwohl Dionysos/Bacchus hätte es wissen müssen und könnte den Minyaden mit ihrer Verwandlung der Ehre zu viel gegeben haben.

 

Demnächst

Juno nimmt sich an Dionysos ein Beispiel – was der verhasste Stiefsohn kann, das muss man auch der Göttergattin des Juppiter zugestehen. Ihr Blick fällt dabei auf Ino, der Schwester der Selene und Tante des Dionysos/Bacchus. Für ihre Rache geht sie weit – bis ans Tor des Totenreiches.

[1] Dabei nahm sie’s nicht so genau: der kluge und edle Palamedes wurde Opfer einer hinterhältigen Intrige des verschlagenen Odysseus und den braven Perseus führte sie gegen die Medusa in den Kampf, die sie vorher aus eifersüchtigem Neid auf ihre attraktive Schönheit, die z.B. Poseidon/Neptun liebestoll machen konnte, in ein scheußliches Ungeheuer verwandelt hatte, das man nicht ansehen konnte ohne zu versteinern. Zu schön durfte man Athene nicht kommen.

[2] IV

[3] IV 37ff.: ’dum cessant aliae commentaque sacra frequentant, / no quoque, quas Pallas, melior dea, detinet’ inquit / ’utile opus manuum vario sermone levemus / perque vices aliquid, quod tempora longa videri / non sinat, in medium vacuas referamus ad aures’

[4] IV 407ff.: dumque petunt tenebras, parvos membrana per artus / porrigitur tenuique includit bracchia pinna. / nec qua perdiderint veterem ratione figuram / scire sinunt tenebrae. non illas pluma levavit, / sustinuere tamen se perlucentibus alis; / conataeque loqui minimam et pro corpore vocem / emittunt, peraguntque leves stridore querellas. / tectaque, non silvas celebrant lucemque perosae / nocte volant, seroque tenent a vespere nomen.

[5] Lateinisch vespertilio, von vesper, Abend.

[6] Als Minyaden gelten traditionell die Schwestern Alkathoe/Alcithoe, Arsinoe/Arsippe und Leukippe/Leuconoe. Alcithoe führt Ovid gleich im ersten Satz damit ein, dass sie sich weigert, dem „neuen Gott“ zu huldigen. Sie erscheint als Kopf des Minyaden-Aufstands und spricht als letzte. Als zweite spricht Leuconoe. Der Name ersten Geschichtenerzählerin wird von Ovid nicht genannt – man muss sie wohl (?) als Arsippe ergänzen. Warum er ihren Namen nicht nennt, das wissen vermutlich nur die, die wirkliche Kenner Ovids sind.

[7] Hermann Breitenbach übersetzt hier: „Und je mehr sie das Feuer verdecken , je stärker erglüht es“.

[8] Und das gilt wohl nicht nur für die Liebenden und die Mauerrisse: immer rufen sich die Menschen über die Mauern zu, versuchen sie zu erklettern und werfen Geschenke hinüber und herüber. Mauern entstehen meist, wenn sie nichts mehr helfen – sie sind dann das Zeichen, dass man sich mit dem Draußen nicht anders arrangieren kann als es auszuschließen und zu verbieten. Zensur ist das hilflose Zeichen der eigenen Schwäche.

[9] IV 152f.: quique a me morte revelli / heu sola poteras, poteris nec morte revelli. Michael von Albrecht übersetzt hier etwas steifer: „Dich konnte, ach, nur der Tod von mir trennen; aber nicht einmal der Tod soll dich von mir trennen können.

[10] IV 165f.

[11] Im Sommernachtstraum wird der Versuch einer Laien-Theater-Gruppe, Pyramus und Thisbe als „tief tragische Komödie“(I 2) einzuspielen zu komödiantischen Farce.

[12] IV 270.

[13] Hermann Breitenbach übersetzt naturae iure novato mit „das Gesetz der Natur war verwandelt

[14] IV 284: dulci animos novitate tenebo.

[15] IV 285ff.: Unde sit infamis, quare male fortibus undis / Salmacis enervet tactosque remolliat artus, / discite. causa latet, vis est notissima fontis.

[16] IV 385f.: quisquis in hos fontes vir venerit, exeat inde / semivir

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