Ovids Metamorphosen IV: Die Stadt mit tausend offenen Toren, die wir meist gar nicht finden wollen

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Der neue Gott verschafft sich zunehmend Respekt. Das freut Ino, die Schwester seiner Mutter Semele. Sie ist nicht nur Bacchus Tante, sie war nach Semeles Tod und der Geburt des Bacchus aus dem Schenkel des Juppiters auch dessen Ziehmutter. Sie ist als Tochter Cadmus auch die Einzige, die von großem Leid verschont geblieben ist. Das soll sich nun ändern.

Juno kann den „Aufstieg“ des Bacchus nicht gut finden, will sich an ihm aber ein Beispiel nehmen wie er Kränkungen bestraft: „Er selbst kann mich lehren, was ich zu tun habe – man kann auch vom Feind etwas lernen! Was Wahnsinn vermag hat er … mehr als genügend bewiesen.“ [1] Ino in den Wahnsinn zu treiben ist aber nicht ihr wesenseigenes Geschäft. Sie muss andere „bitten“ es für sie zu tun. Und hier ist ihr kein Weg zu weit und zu mühsam. Sie geht hinab ins Totenreich der Unterwelt.

WIR LESEN OVID
Ovid – WikiCommons

Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.

Wir begleiten sie dorthin.  Ovid führt uns in der Landschaft des Todes herum. Wir treffen auf die erbärmlichen Schatten, die ihren unwirklichen Tätigkeiten nachgehen. Sie tun scheinbar, was sie immer taten – doch sie bewirken nichts. Ihre Gestalten sind schattengleiche Nebelbilder, die ineinander verfließen. Sie und ihre Handlungen lösen sich immer wieder wie Nebel auf. Alles ist substrat- und substanzlos. Eine große Menge strömt jeweils ihrer letzten Wohnstätte entgegen: „die neuangekommenen Geister wissen nicht, wo der Weg ist, wo es zur stygischen Stadt geht und wo sich die die grauenerregende Königsburg des finsteren Plutons [Hades] befindet“.[2] Diesen letzten Weg nicht zu wissen und wohl auch nicht wissen zu wollen, ihn dann aber doch immer zu finden, das ist wohl das Schicksal der Sterblichen: „Zur Aufnahme bereit, hat die Stadt tausend Eingänge und allen Seiten offene Tore. Wie das Meer die Flüsse von der ganzen Erde aufnimmt, so nimmt jener Ort alle Seelen auf, ist für kein Volk zu klein und fühlt nichts vom Zuwachs der Menge.“[3]

Am Eingang erwartet Juno der fauchende Cerberus.[4] Sie ruft auf der Schwelle die „Töchter der Nacht, deren Gottheit streng und unerbittlich ist“, die Erynnien.[5] Juno will, dass der Palast des Cadmus stürze und „der Wahnsinn solle Athamas [, den Mann von Ino], zum Verbrechen treiben“. Die „unheilbringende Tisiphone“ macht sich unverzüglich auf und sie lässt sich begleiten durch die Trauer (Luctus), die Angst (Pavor), den Schrecken (Terrror) und den Wahnsinn (Insania).

Tisiphone infiziert Athamas und Ino

Als sie Athamas und Ino schließlich findet wirft sie ihnen zwei Schlangen zu, die sie sich aus dem Schlangenhaar reißt. Sie kriechen den beiden auf die Brust und „blasen ihnen ihren Gifthauch ein. Dabei verwunden sie nicht die Glieder, der Geist ist’s, der ihre entsetzlichen Bisse zu spüren bekommt. Mitgebracht hatte die Furie auch grauenhaftes flüssiges Gift: Schaum vom Maul des Höllenhundes, Geifer der Echidna, [6] schweifendes Irren, Vergessen, das den Verstand mit Blindheit schlägt, Frevel, Tränen und Mordlust – alles ineinander gerieben“, mit frischem Blut vermischt und schließlich aufgekocht.[7]

Das Gift verfehlt nicht seine Wirkung. Athamas macht Jagd auf Ino, die ebenfalls außer sich mit ihrer beiden Söhne gestürzt ist. Er reißt ihr den kleinen Learchus aus den Armen, der noch „lacht und die Ärmchen nach ihm ausstreckt“, und zerschmettert ihn an einem Felsen. Ino jagt mit Melicertes auf einen Felsen und stürzt sich mit „Euhoo, Bacchus“ hinunter ins Meer. Venus, die das alles verfolgt, bittet schließlich den Meeresgott Neptun um die Rettung der beiden.[8] Er gewährt die Bitte, nimmt sie in sein Reich und verwandelt sie zu Unsterblichen. Aber Juno ist noch nicht zufrieden. Sie begreift noch die Trauer der Hinterbliebenen Gefährtinnen der Ino als Missachtung ihres göttlichen Handelns und verwandelt die einen in die Nachwelt warnende Felsen, die anderen in ewig die Felsen umkreisende Seevögel.

Es ist der vorletzte Schlag für das angekündigte Unheil, das den so erfolgreich und glücklich scheinenden Cadmos ereilt. Ovid verknüpft die Erzählfäden aus dem thebanischen Sagenkreis und dem Schicksal des Cadmos mit dem Erscheinen des „neuen“, „jungen“ Gott Bacchus. Vermutlich dürfen darin nicht mehr suchen als einen Kunstgriff Ovids, der uns damit ins Totenreich führen konnte und eine der Erynnien bei ihrem grausigen Werk zeigen konnte. Wer sich eng mit einer Gottheit verbunden glaubt, Ino zu ihrem Ziehsohn Bacchus, ist doch vor dem Zugriff anderer Götter nicht sicher. Juno mag Ino verwerfen, Bacchus umsorgt zu haben. Die Rache, die Juno herbeiruft, ist freilich nicht die „Strafe“ dafür, sondern für ihr unverdientes, weil nicht zugewiesenes Glück.

[1] IV 428ff.: ipse docet, quid agam (fas est et ab hoste doceri), / quidque furor valeat … satisque / ac super ostendit

[2] IV 336ff.: novique, / qua sit iter, manes, Stygiam qua ducat ad urbem, / ignorant, ubi sit nigri fera regia Ditis.

[3] IV 439ff.: Mille capax aditus et apertas undique portas / urbs habet, utque fretum de tota flumina terra, / sic omnes animas locus accipit ille, nec ulli / exiguus populo est, turbamve accedere sentit.

[4] Er dient wohl mehr dazu niemanden raus als rein zu lassen. Da die Bürger der Unterwelt nur substanzlose Schattenbilder sind, besteht eigentlich auch dazu kein Bedarf. Wer dennoch unbedingt und unerlaubt rein möchte, den raubt Cerberus seine Substanz und macht ihn zu einem frei floatierenden Seelchen.

[5] Wir erinnern uns an eine ganz ähnliche Szene, in der Minerva Invidia, die Göttin des Neids und der Mißgunst, bittet, Aglauros zu bestrafen (cf. https://www.rhetorik-forum-nuernberg.de/das-feuerwerk-nach-dem-feuer/)

[6] Ein Zwitterwesen aus schönem Mädchen und einer Schlange, die als Mutter zahlreicher Ungeheuern gilt.

[7] IV 498ff.: Nec vulnera membris / ulla ferunt: mens est, quae diros sentiat ictus. / Attulerat / ecum liquidi quoque monstra veneni, / oris Cerberei spumas et virus Echidnae / erroresque vagos caecaeque oblivia mentis / et scelus et lacrimas rabiemque et caedis amorem, / omnia trita simul; quae sanguine mixta recenti / coxerat aere cavo viridi versata cicuta.

[8] Ino ist Tochter von Cadmos und Harmonia, die wiederum eine Tochter Venus (aus ihrer Verbindung mit Mars) ist (cf. https://www.rhetorik-forum-nuernberg.de/ovids-metamorphosen-iii-der-staat-sieht-sich-bedroht/); sie bittet also um eine Enkelin und deren Sohn.

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