Ovid Metamorphosen I: Blutige Erbschaft

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Mit dem Menschen wurde die Erde verwandelt. Die Naturgeschichte wurde zur Menschheitsgeschichte, die freilich keinen guten Verlauf nimmt. Das goldene, friedliche und gleichsam paradiesische Zeitalter entwickelt sich über das silberne und bronzene schließlich zum eisernen, in dem die Menschen ihre Konflikte mit rücksichtsloser Gewalt auszutragen. Krieg aller gegen alle vertreibt schließlich die Gerechtigkeit von der „blutgetränkten Erde“. Der Mensch war als „reineres Wesen“ geschaffen, das als „Gefäß höheren Geistes“ über die anderen Wesen herrschen sollte und das sich nun in nicht endenden wollenden Kriegen gegen seinesgleichen wendet. „Ehrfurcht und Rechtlichkeit“ (pietas) liegen darnieder.

Gigantomachie

Gigantomachie, Virgil Solis,

Der Unfrieden wird schließlich sogar in den Himmel getragen. Die Giganten versuchen „den Himmel zu stürmen“ werden aber durch Zeus erschlagen: „siehe, da lagen, / Ganz überdeckt vom Riesengetürm, die gräßlichen Leiber“ und wieder war die Erde naß, „überströmt von der Söhne / Reichlichem Blut“.[1] Die Giganten sind selbst Abkömmlinge einer Bluttat, nämlich der „Entmannung“ des Uranos durch seinen Sohn Kronos. Aus dem auf die Erde tropfenden Blut gebiert Gaia die Giganten, deren Blut sie nun durchtränkt. Es kommt zu einer überraschenden Metamorphose: „Da hat sie das heiße Geblüt ihrer Kinder / wieder belebt: um so ihrem Stamm die Dauer zu sichern, / Schuf sie es um zu Gestalten von Menschen.“ Wir erleben damit eine zweite Erschaffung des Menschen, in der das Blut der Giganten in die Gestalt von Menschen verwandelt wird. In der vorausgehenden Menschwerdung entstand er aus „göttlichen Samen“ und wurde zum „Ebenbild“ „der alles regierenden Götter“. Freilich war auch die erste Menschwerdung von einer merkwürdigen Unbestimmtheit: Ovid ließ es offen, ob ihn „jener Meister erschuf, der Gestalter der besseren Weltform[2] oder ob der Samen in der Erde aufbewahrt wurde und Prometheus aus der mit „Wasser des Regens“ vermengten Erde den Menschen formte. Wieder ist es die feuchte Erde – nun blutgetränkt – aus der Menschen erwachsen. Sie waren „Verächter der Götter, gewaltsam, nach grimmigen Morde / Lüstern: man spürte, es waren aus Blut entstandene Wesen.[3] Diese Blutwesen richten sich nicht nur gegen Menschen und die menschliche Ordnung, sie lehnen sich gegen die Götter auf.

thronender Zeus – Pixabay

Zeus ist alarmiert und beruft eine Versammlung der Götter ein. Auf Drängen von Zeus beschließt sie schließlich eine Sintflut, die das „Menschengeschlecht verderben“ soll. Noch nie sei er um die „Weltenregierung“ (regnum mundi) besorgter gewesen. Gleich zu Beginn der verschlungenen Erzählung der Götterversammlung erwähnt Ovid Lycaon. Zeus ist aufgebracht über die Zustände bei den Sterblichen und gedenkt dabei „der Tat, die noch niemand / Wußte als er, des scheußlichen Mahles am Tische Lycaons“. Auch wir Leser tappen noch im Dunkeln. Nur dass Zeus bei der Erinnerung daran in grimmigen Zorn gerät und sich zum Handeln entschließt, wird uns gewahr. Sein Entschluss die Menschen in einem Strafgericht zu vernichten steht fest. Er muss nur die anderen Götter dafür gewinnen, die durchaus Zweifel haben: der Verlust des Menschengeschlechts würde sie schmerzen. „Sie fragen, wie künftig die Erde wohl aussehn / Würde, der Menschen beraubt, wer dann den Altären den Weihrauch / Bringe, ob er sie gedenke dem wilden Getier zur Verwüstung / Preiszugeben“. Aber Zeus geht geschickt vor. Solange „jener bekannte Barbar“ sich erlauben kann, ihm Zeus, dem König der Götter eine Falle zu stellen, stünde es schlecht mit der Welt. Die Rede ist von Lycaon. Die Götter – ohne genau zu wissen, was vorgefallen ist – fordern sofortige Bestrafung. Zeus und mit ihm Ovid steigert die Spannung. Wir und die Götter würden doch nun gerne wissen, was geschehen war, um welche Falle es sich gehandelt haben könnte. Doch Zeus beruhigt seine Mitregenten: „Jener fürwahr ist bestraft – des braucht ihr euch nicht mehr zu sorgen – ; / Was er hingegen verbrochen und wie er gebüßt hat, das vernehmet.“ Besorgt über den Zustand der Welt nimmt Zeus Menschengestalt an und durchwandert die Länder. Die Wirklichkeit übertraf noch die böse Vermutung.[4] Schließlich kam er abends zum Haus des Lycaons, um dort zu übernachten: „Zeichen gab ich, ein Gott sei da … da lachte Lycaon über die frommen / Bitten zuerst, dann sprach er: ‚ein klarer Beweis wird es zeigen, / Ob es ein Gott ist oder ein Mensch, und die Wahrheit wird deutlich‘.

Blitze werfender Zeus

Lycaon will selbst Sicherheit gewinnen, durch etwas das ihm die Wahrheit versichert. „Der Wahrheitsbeweis, der ihm zusagt“ ist ein nächtlicher Anschlag auf den Gast. Kann er den Fremden meucheln, während er schläft, dann ein Sterblicher (mortalis) und kein Gott. Natürlich geht er davon aus, dass ihm dieses gelingt. Aber bevor er diesen tödlichen Beweis liefert, will er den großsprecherischen Unbekannten demütigen und beschämen. Rücksichtslos tötet er eine Geisel, kocht eine Hälfte der „noch zuckenden Glieder in siedendem Wasser“, während er die andere über dem Feuer brät, und lässt dann beides zum Essen auftragen. Zeus lässt zur Strafe das Haus einstürzen.

Wolfsmensch – Lucas Cranach, 1512

Lycaon flieht ins Freie und wird während der Flucht zum Wolf verwandelt: Er versucht vergeblich zu reden und kann nur noch heulen, „im Maule / Sammelt die frühere Wut sich, und seine gewöhnliche Mordgier / Richtet sich jetzt gegen Schafe: er freut sich noch immer am Blute.“ Ist die Verwandlung wirklich Strafe oder Hilfe zur Vollendung der eigenen Wesens?: „ein Wolf ist / Jetzt er geworden, und dennoch bewahrt er die früheren Züge; / Noch ist er grau, von Gewalttat kündet die Miene wie vorher, / Ebenso glühen die Augen; [und jetzt folgt der entscheidende Punkt].er bleibt ein Bildnis der Wildheit“.[5] Der Mensch geschaffen als „Bild der alles regierenden Götter“ (effigies moderantum deorum), wird zur Gestalt, in die sich das Blut der Giganten gegossen wird (facies hominum) und einer von diesen „aus Blut entstandenen Wesen“, Lycaon, „gewaltsam“ und „lüstern nach grimmigen Morde“, wird nun zum Wolf, „ein Bildnis der Wildheit“ (imago feritatis). Er verliert sich nicht, er kommt in neuer Gestalt zu sich. Der Formwandel ist Formfindung, das Zur-Erscheinung-kommen des Wesens: in der Wolfwerdung „bewahrt er die früheren Züge“ (veteris servat vestigia formae), sein Gesicht/Aussehen (vultus) kündet von seinem gewaltsamen Wesen und er ist nun ein Bildnis der Wildheit (imago).

Lycaons Wolfswesen steht für die menschliche Grausamkeit und ihre „gigantische“ Auflehnung gegen die Götter. Wir kennen die Redewendung, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf (homo homini lupus), die bei Thomas Hobbes (1588-1679) auf den Naturzustand verweist, der durch Krieg aller gegen alle (bellum omnium contra omnes). In den Metamorphosen ist das die Natur des Zeitalters des „eisernen Geschlechts“, das selbst Resultat einer Geschichte ist und das von Zeus nun in seinem wölfischen Wesen gezeigt wird.

Ovid lässt diese erste für die Metamorphosen so typische Verwandlung einer Person in etwas anderes von Zeus erzählen und erzählt damit eine zweite Geschichte, nämlich die von der (welt-politische) Gewinnung der Götter für die Vernichtung der Menschheit durch die Sintflut. Die kunstvoll ausgestaltete Geschichte Lycaons lässt sie die Wirklichkeit wahrnehmen und bewegt sie zum Handeln. Die Metamorphose geschieht in der Erzählung und in und mit ihr die handlungsleitende Einsicht. Die „wirkliche“ Verwandlung des Lycaon ist nicht von Bedeutung. Nehmen wir an, Zeus hätte etwas geflunkert und bei seinen Fähigkeiten, Menschen in Wölfe zu verwandeln, etwas übertrieben, es wäre ihm z.B. die Verwandlung nicht ganz so „flüssig“ gelungen wie er sie beschreiben konnte (der flüchtende Übergang von Rede zum Heulen, das gierige Hervortreten des Mauls, die Verzottelung der Kleider und die Beugung des Körpers bei der Verwandlung der Beine zu Hinterläufen und der Arme zu Schenkeln), das Wolfswesen Lycaons wäre dennoch erwiesen, zur Erscheinung gebracht. Wir rufen einen solchen Menschen Lycaon und das Wort sagt, was die Erscheinung zunächst nicht zeigt: sein nomen est omen und leitet sich her von λύκος, Lykos, dem Wolf.

Wir Leser heute, die wir wohl nicht alle gleichermaßen von der Existenz der olympischen Götter und ihrer königlichen Vorstehers Zeus überzeugt sind, wir Leser sind dennoch von der Wandlung beeindruckt und erkennen „viel Wahres“ darin. Wir wissen, dass der Wolf in uns wohnt, und dass wir den aufrechten Gang der uns an den himmlischen Sternen ausrichten soll, gelegentlich verlieren und uns zur Erde gebeugt und gierig der Spur der Beute nachschnüffeln, die wir zu erlangen hoffen. Das Durchbrechen der wölfischen Natur ist seither immer wieder in diversen Wolfs- und Werwolfs–Geschichten erzählt und verfilmt worden.[6] Und natürlich wissen wir, dass es biologisch keine Werwölfe „gibt“, dass ihre Geschichten aber stimmen und viel über uns sagen. Die Geschichten der Kunst entdeckt, worüber die Naturwissenschaft nichts zu sagen weiß.

So sieht’s der Film

[1] I 156f.: Obruta mole sua cum corpora dira iacerent, / Perfusam multo natorum sanguine Terram.

[2] I 79: ille opifex rerum, mundi melioris origo

[3] I 160ff: Sed et illa propago / Contemptrix superum saevaeque avidissima caedis / et violenta fuit: scires e sanguine natos.

[4] I 215: minor fuit ipsa infamia vero.

[5] I 237ff.: Fit lupus et veteris servat vestigia formae. / Canities eadem est, eadem violentia vultus, / Idem oculi lucent, eadem feritatis imago est.

[6] Auch der Umgang und das Leben mit Wölfen ist ein Teil der menschlichen Wolfsgeschichten: Rom beruft sich ausdrücklich auf eine „Wolfsbrut“, nämlich die durch eine Wölfin gesäugten und aufgezogenen Brüder Romulus und Remus. Dass der eine den anderen erschlägt, hat die Römer nicht irritiert – im Gegenteil: „So möge es jedem ergehen, der über meine/unsere Mauern springt!“

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