Nie wieder … Ganz normale Männer!

Lesedauer 24 Minuten

Aus gegebenem Anlass
JML, zum 31.

Nie wieder … Krieg!

Das musste für das Nachkriegsdeutschland vor allem Aussöhnung mit den Nachbarn bedeuten, die in Folge von 1938/39 wieder einmal angegriffen wurden. Mit den westlichen Nachbarn Frankreich (360.000 Kriegstote), den Niederlanden (220.000), Belgien (60.000) ist das weitgehend gelungen. Besonders eindrucksvoll ist hier das neue Verhältnis zu Frankreich. Die traditionell feindlichen Nachbarn Frankreich und Deutschland wurden zu europäischen Freunden. Mit den östlichen Nachbarn, die nach Kriegsende hinter dem eisernen Vorhang des Kalten Kriegs verschwanden, hat sich das schwieriger entwickelt: mit Polen, die 6.000.000 Kriegstote zu beklagen hatten, äußerte sich das deutsche Schuldbewusstsein zaghafter und wurde meist mit dem Bekenntnis zum Holocaust abgegolten. Den größten Blutzoll hatte aber die Sowjetunion zu entrichten: Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion von 1941 hatte rund 25 Millionen „Russen“ das Leben gekostet. Die Zahl schwankt je nach Schätzung um ein zwei Millionen. Und auch das bringt den Wahnsinn des Ganzen zum Ausdruck: die Todesopfer von Großbritannien (330.000) und der USA (410.000) bewegen sich damit weit unter der Schätzungsschwankung der sowjetischen Opfer! Das relativiert nicht die britischen und US-amerikanischen Opfer. Es gemahnt aber an die unvergleichliche Schuld, die die Deutschen gegenüber den Völkern der ehemaligen Sowjetunion auf sich geladen haben. Nie wieder Krieg! … das hätte vor allem eine Aussöhnung mit Russland und den sowjetischen Nachfolgestaaten bedeuten müssen. Nie wieder Krieg! … das hätte heißen müssen: Von Deutschland soll und darf für Russland keine Gefahr mehr ausgehen. Aber statt einem neutralen Deutschland hat sich Deutschland zum Mitkämpfer des „freien Westens“ gemacht und spielt seit 1955 eine maßgebliche Rolle bei der kalten Kriegsführung gegen die Sowjetunion. Heute wird in Deutschland wieder aufgerüstet und werden erneut Geschäfte mit dem Krieg gemacht.

Wieder im Krieg

20 Jhare danach

Aber nicht nur die Kriegsgeschäfte florieren, auch Krieg wird wieder geführt. 1999 beteiligte sich Deutschland an dem völkerrechtswidrigen Bombardement Serbiens. „Als Deutschland wieder in den Krieg zog“ titelte nach 20 Jahren t-online.[1] Natürlich wurde das gut begründet: das „terroristische Vorgehen“ der Serben ließ laut Bundeskanzler Schröder der Nato keine andere Wahl: „Deshalb blieb als letztes Mittel nur die Anwendung von Gewalt.“ „Klinisch sauber“ sollten die Bombenangriffe laufen und am Ende wurden wie fast immer Zivilisten, serbische und Kosovo-Albaner, hilflose Opfer der sauberen deutschen Angriffe. Alles war wieder Mal auf Lügen gebaut und ein klarer Völkerrechtsbruch wie so mancher Einsatz der NATO-Verbündeten vorher (u.v.a. Panama, Irak, Libyen, Afghanistan). Natürlich hat sich damals niemand empört. Sanktionen wurden nie ernsthaft erwogen und diplomatische Beziehungen nie abgebrochen.[2] Das alles war möglich, weil Vergleiche mit Hitler und dem Holocaust bemüht wurden.[3] Niemand hatte damals von einer Verharmlosung des Holocaust oder des Hitlerfaschismus gesprochen als die Serben und Saddam Hussein damit verglichen wurden. Nie wieder Krieg! wurde durch Nie wieder Faschismus! außer Kraft gesetzt – antifaschistisch galt das völkerrechtswidrige Bombadieren gerechtfertigt.[4]

Nie wieder … Faschismus!

Nie wieder Krieg! hieß also genauer Nie wieder faschistischer Krieg! oder einfacher Nie wieder Faschismus! Damit wurde die Sache freilich nicht wirklich klarer. Natürlich will keiner – also fast keiner – wieder Faschismus. Aber gerade die Inflation seiner Zuschreibung macht die Sache weniger klar als es zunächst scheint.

Faschismus, das ist ein politischer Kampfbegriff und bezeichnet zunächst das, was diejenigen wollen, die sich selbst Faschisten nennen. Die politischen Gegner, rechts oder links, haben es dann in der politischen Auseinandersetzung ihrerseits zur Bezeichnung von politischen Zielsetzungen gebraucht, die sie damit bekämpfen wollten. Solche, die sich nicht so verstanden wissen wollten, sahen sich damit in eine politische Ecke gestellt, in der sie aus unterschiedlichen Gründen nicht stehen wollten. Manche weil sie auf einen, aus ihrer Sicht wichtigen, Unterschied zu beharren versuchten (in Deutschland wäre vielleicht an die Deutschnationale Volkspartei, die Deutschvölkische Freiheitspartei oder die Deutschsozialistische Volkspartei zu denken); andere weil sie sich damit völlig diskreditiert sahen. Sozialdemokraten z.B. wurden als Sozialfaschisten oder „linker Flügel der Faschisten“ bezeichnet – und das war wohl eher kritisch gemeint und fand bei Sozialdemokraten naturgemäß wenig Zustimmung. Anders hätte das vermutlich die SA sehen können. Und der Vorwurf keine echten Faschisten zu sein, findet sich in der Auseinandersetzung faschistischer Organisationen durchaus.

Mussolini und Hitler, München 1940

Die Sache wird auch im Ländervergleich schwierig. Die italienischen Faschisten, die jedenfalls die Namensrechte für sich reklamieren können, unterschieden sich doch deutlich von dem, was sich in Deutschland als Nationalsozialismus hervortat. Auch die spanische Falange und der Franquismus, der wohl größere Nähe zum italienischen Faschismus als zum deutschen Nationalsozialismus hat, weist gegenüber beiden signifikante Unterschiede auf.

Faschismustheorie

Die Sache ist also alles andere als wirklich klar. Es ist Sache der Faschismustheorie aus den faschistischen Bewegungen seit den zwanziger Jahren so etwas wie ein Wesensmerkmal zu bestimmen. Die Faschismustheorie kämpft hier methodisch gegen die Gefahr, sich in einem Zirkel zu verheddern: Politische Bewegungen, deren historisches Wirken wir trotz ihrer faktischen Unterschiede als faschistisch beschreiben, werden darauf untersucht, warum wir sie faschistisch nennen (sollten). Konservative Faschismustheorien benennen sie werteorientiert als das „Endstadium des revolutionären Nihilismus der Neuzeit[5] während die kommunistische Internationale ihn als „die offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ bestimmt. Im Faschismus zunächst und vor allem den Ausdruck rechtsradikaler oder rechtsextremer Gesinnungen zu sehen, verschiebt aber die „theoretische“ Antwort nach seinem Wesen ins Ungewisse dessen, was als rechtsradikal bzw. rechtsextrem zu verstehen ist. Wir verknüpfen Faschismus wohl zurecht mit Chauvinismus, Rassismus und Antisemitismus. Freilich wird der italienische Faschismus nicht durch einen ausdrücklichen und politikbestimmenden Antisemitismus oder gar das Programm der Judenvernichtung geprägt. Mit Blick auf den Holocaust wurde deshalb sogar der Vorwurf laut, es käme einer Verharmlosung gleich, die „nationalsozialistische Rassenideologie“ der Ausrottung des jüdischen Volks als „Hitlerfaschismus“ zu deklarieren. Der italienische Faschismus ist eher durch einen „nationalen“ Kollektivismus gekennzeichnet als durch einen ausdrücklichen Rassismus. Ähnliches lässt sich vielleicht für den spanischen Faschismus sagen, der sich sogar mit kirchlichen und monarchischen Traditionen (Nationalkatholizismus) verbindet. Andererseits gibt es politische Formen des Rassismus, die vermutlich nicht wirklich als faschistisch bezeichnet werden können (das Apartheit-Regime Südafrikas z.B. oder auch der ausgeprägte „Südstaaten-Rassismus der USA). Kennzeichnet man ihn durch Kollektivismus, der das Wohl des Ganzen über das des Einzelnen stellt, so gerät man hier vermutlich auf glitschigen Untergrund: wie ließe er sich von manchen Gemeinwohl-Utilitarismen unterscheiden? Und der undemokratische Charakter und der starke, meist alles bestimmende Führerkult dienen wohl nur als grobe Annäherungen: absolutistische Monarchien á la ancien regime werden gemeinhin ebenfalls nicht als faschistisch eingeordnet.

Nach vielen Jahren bemühter Forschung und Diskussion scheint es dem interessierten Laien, dass die Faschismustheorie wohl nicht zu einem überzeugenden Gesamtverständnis kommen konnte. Es bleibt vor allem ein politischer Kampfbegriff mit dem Gegner wie Befürworter einen Anschluss an politische Ziele beschreiben, die von faschistischen Parteien und Bewegungen der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts vertreten wurden oder ihnen zugeschrieben werden.

Wozu taugen Faschismustheorien?

Friedrich Schiller

Frei nach Schiller darf man dann fragen „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Faschismustheorie?“.

Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte

Friedrich Schiller (1759-1805) hatte seine Antrittsvorlesung an der Universität Jena im Jahr 1789 (!) – allerdings bereits im Mai und noch vor dem „Sturm auf die Bastille“ – unter den Titel gestellt Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?.[6] Seine Antwort ist „klassisch“ und fortschrittsbewusst: Geschichte eröffnet „dem denkenden Betrachter so viele Gegenstände des Unterrichts, dem tätigen Weltmann so herrliche Muster der Nachahmung, dem Philosophen so wichtige Aufschlüsse“, dass sich ihr Studium nahelegt. Dass Geschichte uns Einsichten vermitteln kann, mag uns noch glaubhaft scheinen – kann sie aber tatsächlich „jedem ohne Unterschied so reiche Quellen des edelsten Vergnügens“ eröffnen? Der Blick in die moderne Geschichte der beiden Weltkriege bietet uns alles andere als „edelstes Vergnügen“ und auch die „Nachahmung“ empfiehlt sich dem „tätigen Weltmann“ nicht wirklich. Bleiben die „wichtigen Aufschlüsse“, die wir hoffen, aus einer Theorie des Faschismus gewinnen zu können. Unter der Maxime Nie wieder Faschismus! wären das Erkenntnisse, die es erlauben, die neuerliche Ausbildung und Ausbreitung (neo-)faschistischer Bewegungen zu verhindern. Dabei scheinen mir zwei Handlungsperspektiven leitend:

(I) Wir Faschisten – Ihr Faschisten!

Die eine setzt bei den politischen Inhalten des Faschismus an und versucht, einem Wiedererstarken faschistischer oder faschistoider Positionen entgegenzutreten. Dabei wären vermutlich zwei Gruppen zu unterscheiden, die gemeinhin sträflich zusammengeworfen werden: die Gruppe von politischen Aktivisten, die sich offen zu (neo-)faschistischen Positionen bekennen und solchen, denen von antifaschistischer Seite (neo-)faschistische Positionen zugesprochen werden, ohne dass sie sich selbst so verstehen würden.

Gegenüber der Gruppe „Wir Faschisten!“ ist vermutlich aus den Erkenntnissen der Faschismustheorie wenig zu gewinnen – die Theorie wird durchs praktische Auftreten gleichsam „überholt“. Hier ist nichts „aufzudecken“ – es schreit uns offen entgegen und alles ist auf die politische Auseinandersetzung über die Inhalte zu konzentrieren.

Gibt es aber eine Gruppe „Ihr Faschisten!“, wird die Sache schwieriger. Der Versicherung „Ich bin kein Faschist.“ wird dann „Doch, bist Du!“ entgegengehalten. Es gilt gegen das ausdrückliche Selbstverständnis der Beteiligten zu zeigen, dass sie faschistoide Inhalte vertreten ohne sich das selbst einzugestehen. „Beteiligte“ sind dabei nicht nur die politischen Aktivisten, sondern vor allem ihre Sympathisanten, Anhänger und Wähler. Frei nach dem Ratespiel geht es um „Ich sehe was, was Du nicht siehst (oder sehen willst) und das ist braun (oder schwarz oder gelb/blau oder völlig neu übertüncht) und sehr gefährlich.“ Faschismustheorien behaupten hier etwas zu erkennen, das dem unbedarft Handelnden nicht bewusst ist. Wäre es ihnen bewusst, das ist die notwendige Bedingung der politischen Aufklärung, würden sie von ihren Positionen abrücken. Die Gruppe „Ihr Faschisten!“ sind also „in Wahrheit“ – etwas paradox und zugespitzt formuliert – Antifaschisten, die durch Verharmlosung und Verführung Positionen vertreten, die ihnen eigentlich zuwider sind.

Eine weitere Schwierigkeit dieser Art der faschismustheoretischen Aufklärung liegt in der beabsichtigten Form der politischen Auseinandersetzung. Soll nämlich mit politischen Aktivisten, die sich (in Selbst- oder Fremdzuschreibung) mehr oder weniger offen faschistisch äußern, überhaupt ein Ringen um politische Mehrheiten erfolgen, oder soll die politische Diskussion um faschistoide Inhalte gänzlich unterbleiben, verboten und unter (rechtliche oder moralische) Strafe gestellt werden? Hat auch die demokratische Diskussion (!) eine strafrechtliche Grenze, werden also politische Meinungen zu Straftaten und ihre politische Vertretung gesetzgeberisch unterbunden. In Deutschland steht z.B. die Holocaust-Leugnung unter Strafe. So plausibel es sein mag, den demokratischen Willensbildungsprozess vor undemokratischen Positionen zu schützen, so undemokratisch bleibt dieser vermeintliche Schutz durch eine fürsorgliche, dem demokratischen Entscheidungsprozess entzogene Obrigkeit: Die Grenzen der Demokratie sind per se undemokratisch. Es ist die alte Frage, ob es einen demokratisch legitimierten Faschismus geben kann – von einem demokratischen Faschismus zu sprechen wäre wohl eine contradictio in adiecto.

Die aufklärerische Haltung des Antifaschismus tritt dementsprechend nicht selten in einem Gewand auf, dem selbst autokratische Fäden eingewebt sind. Das Problem ist ja weniger, dass der Diskurs mit bekennenden Faschisten abgebrochen wird – gerade auch Faschisten würde ihrem Selbstverständnis nach darin vermutlich wenig Sinn sehen. Sie wollen sich nicht auf demokratische Willensbildungsprozesse einlassen und äußern sich dementsprechend eher verächtlich über den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“.

Anders liegt es bei den „Ihr Faschisten!“, denen von „außen“ faschistische Positionen zugesprochen werden. Die Zuordnung von Positionen, die einem selbst zuwider sind, zum Faschismus ist selbst Teil der politischen Kontroverse. Niemand ist Faschist, weil er von anderen so genannt wird. Der Faschismusvorwurf ist nicht sakrosankt und verkommt schnell zur Stigmatisierung abweichender Meinungen. Mit Faschisten nicht zu reden, mag hingehen;[7] nicht aber ein Redeverbot mit Leuten, die „man“ entgegen anderer Selbst- und Fremdwahrnehmung zu Faschisten erklärt hat. Vieles an der jetzigen Auseinandersetzung um die Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen zeigt Züge einer zutiefst illiberalen Cancel-Culture, bei der Kritiker diffamiert und die Auseinandersetzung verweigert wird. Die Verwahrlosung der politischen Diskussion offenbart sich in nichts besser als dem Kontakt-Schuld-Vorwurf: hier werden nicht dem Opponenten selbst (in beliebiger Zusammenstellung) rechtsradikale oder -extreme, verschwörungstheoretische oder XY-leugnerische Haltungen vorgeworfen; es wird vielmehr – vermutlich aus Mangel an geeigneten Belegen – darauf hingewiesen, dass er mit Leuten in Kontakt gestanden haben soll, denen solche verdächtigen Haltungen zugesprochen wurden. Der Hinweis auf „Nähe“ (?!) zu Querdenkern reicht, um unliebsame Personen von der politischen Bühne zu entfernen.

Das alles folgt dem Prinzip „Wehret den Anfängen!“ und damit gleichsam dem Gärtner-Latein, dass der Überwucherung der Schmuck- und Nutzbeete durch Unkraut nur über ein frühzeitiges Bekämpfen vorzubeugen ist. Ab einer bestimmten Dimension der Ausbreitung könne man den schädlichen Kräutern nicht mehr Herr werden und sei dann zur Aufgabe des Gartens oder dessen völliger Neuanlage gezwungen. Es ist das Eingeständnis der eigenen Schwäche in einer Welt, die das Wachstum von dem zu fördern scheint, was als Bedrohung der gewünschten politische Ordnung erachtet wird.

(II) Günstige Bedingungen für ungute Entwicklungen

Die Welt, in der Faschismus heranwachsen und gedeihen kann, ist deshalb zurecht der Gegenstand von Faschismustheorien, die politisch wirksam sein wollen. Sie beschäftigen sich mit den sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen unter denen Faschismus sich ausbilden, ausbreiten und schließlich bestimmend zu werden vermag. Für die zwanziger und dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts sind es die Nachwirkungen des epochalen Ereignisses des „Großen Kriegs“ und die Verwerfungen der Nachkriegszeit mit dem Umbruch der traditionellen Lebens- und Wirtschaftsweisen in eine radikale, industrialisierte Moderne. Insbesondere die marxistischen Faschismustheorien haben auf die Krisen des globalisierten, imperialistischen Finanzkapitalismus als Katalysatoren für das Aufkommen faschistischer Bewegungen hingewiesen. Die Weltwirtschaftskrise mit ihren tiefgreifenden Auswirkungen auf die Bevölkerung, insbesondere die Pauperisierung des Mittelstands, haben zu kollektivistischen Anstrengungen der Verbesserung der (groß-)kapitalistischen Verwertungsbedingungen geführt. Im Kampf um nationale und internationale Absatzmärkte wurde nationale Aufbau- und Aufrüstungsprogramme gestartet und der Staat übernahm eine zentrale in der Steuerung kapitalistischen Wirtschaftens.

So hilfreich der Nachweis der Verflechtung von Finanz- und Großkapital mit nationalistischen und faschistischen Bewegungen ist, so wenig scheint er mir letztlich den Sieg faschistischer Parteien in Italien, Deutschland und Spanien erklären zu können. Die Weltwirtschaftskrise und die Verschärfung des imperialistischen Ringens um Absatzmärkte haben eben nicht in allen Staaten zu einem bestimmenden Einfluss faschistischer Bewegungen geführt. Die historischen Umstände des Erfolgs faschistischer Bewegungen lassen sich nicht zu Wesenszügen des Faschismus abstrahieren. Massenarbeitslosigkeit und „Verelendung“ breiter Schichten sind keine hinreichenden Bedingungen des Faschismus.[8]

Das ist nicht der entscheidende Makel dieser Überlegungen. Kritisch ist, dass sie offenbar der Lebensweisheit „Not lehrt beten“ folgen: Kritische Zeiten führen dem Faschismus Anhänger zu. „Not lehrt beten“ hat meist eine religionskritische Schlagseite, stellt aber auch die fundamentale Bedeutung des Religiösen für das Leben heraus. Die Unterstellung, dass Not die (dummen) Massen (wieder) in die Kirchen oder alternativ in die Arme der Faschisten treibt, offenbart zumindest eine eigentümliche Bewertung der demokratischen Kompetenz der Bevölkerung. Der Vorwurf des Populismus ist zugleich eine Geringschätzung des populus als unmündigem Plebs, dem die Mündigkeit abgesprochen wird und der deshalb nach beliebigen Zwecken zu steuern ist. Populistisch war in diesem Sinne auch die Arbeiterbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und wurde so von Konservativen auch beschimpft. Massen müssen geführt werden – am besten durch willfährige Medien des Vergnügens und des Sensationellen, das die Aufmerksamkeit aufs herrschende Wesentliche ablenkt.

Dass Not und Elend die „Massen“ tatsächlich berührt und sie lehrt, die „unstimmigen“ Verhältnissen zu verändern, das ist nicht nur das Ergebnis von (medialen) Verführern. Wir wissen, dass viele Wähler ihre Stimme faschistischen Parteien weniger aus Überzeugung gaben und geben als vielmehr aus Protest gegen die Ignoranz und Gleichgültigkeit der herrschenden politischen Klasse – und das darf durchaus als ein Indiz gelten, dass viele Wähler sehr gut wissen, was sie tun – auch wenn es Theoretiker und Medienschaffende mit Blick auf ihre „notfreie“ Zukunft nicht sehen wollen oder können.

Theodor W. Adorno

Das Unbefriedigende der Faschismustheorie, die wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Begründungen heranzogen, haben auch die Vertreter der Kritischen Theorie in den späten dreißiger, frühen vierziger Jahren empfunden und sich auf „weichere“ Elemente nationalsozialistischer Herrschaft bezogen: die Rolle der Massenmedien, die „Kolonialisierung der Lebenswelt[9] durch technische und systemische Prozesse und die (massen-)psychologischen Voraussetzungen faschistischer Haltungen. Die Studien zum autoritären Charakter im Umfeld des Instituts für Sozialforschung sind dafür einschlägig. Bereits die Untersuchungen von Wilhelm Reich (1897-1957) und Erich Fromm (1900-1980) haben dort angesetzt und wurden dann durch die wenig erfolgreichen, weil methodisch mangelhaften Studien zur Authoritarian Personality unter der Leitung von Adorno im amerikanischen Exil fortgesetzt.[10]

Daraus ergibt sich freilich ein Perspektivenwechsel, der von der ideologischen Grundlegung faschistischer Weltanschauung und den Gründen ihrer vermeintlichen Überzeugungskraft (warum nehmen Menschen faschistische Überzeugungen an) den Blick auf die anderen lenkt, die diese Überzeugungen zwar nicht teilen, sie aber dennoch befördern und umzusetzen helfen. Blicken wir dazu auf zwei gut dokumentierte Vorgänge: die Wannseekonferenz und das Reserve-Polizeibatailion 101.

Die Wannseekonferenz

Wannseekonferenz

Die Wannsee-Konferenz gilt gemeinhin als Symbol für den administrativ und „generalstabsmäßig“ geplanten, industriellen Massenmord oder besser: Genozid. Das ist nicht ganz falsch. Man verkennt freilich die Funktion der Wannseekonferenz, wenn man sie als Planungs- und Steuerungstreffen versteht. So habe ich das selbst lange Zeit getan. Das überbewertet aber einerseits die „Konferenz“ und übersieht zugleich ihre eigentliche Bedeutung. Eine Planungs- und Steuerungskonferenz im Sinne eines Generalstabs müsste man sich wohl als eine mehrtägige, arbeitsreiche Veranstaltung vorstellen, bei der Horden von Experten aus den diversen Fachabteilungen in einer Flut von Akten und Aktionsvorschlägen, Karten und Kalendarien, Projekt- und Planungslisten eine verbindliche Gesamtplanung festlegen, die eine effiziente Nutzung der knappen Ressourcen zu Kriegszeiten sicherstellt. Überlastung muss ebenso vermieden werden wie ungenutzte Ressourcen. Wie also können die ungeheuren Transporte und auf welchen Strecken erfolgen? Wie sind die Ausbaustufen der „End- und Zwischenlager“ zu organisieren und zu harmonisieren? Wie kann „Aushebung“, „Versendung“, Selektion und „Endbehandlung“ reibungslos ineinandergreifen? Insbesondere muss die „Sonderbehandlung“ ohne großes Aufsehen und Kollateralschäden abgewickelt werden.

Aber all das wurde am Wannsee nicht besprochen und war nie das Ziel der Konferenz. Heydrich hatte sich nicht die Lösung von organisatorischen oder planerischen Problemen versprochen. Die waren im Hintergrund durch SS und Reichssicherheitshauptamt längst in Arbeit. Was er wollte ist Kenntnisnahme und Zustimmung. Niemand sollte aus den Ministerien sagen können, er hätte davon nichts gewusst.

Die Einladung zur „Besprechung mit anschließendem Frühstück“ war auf 12h mittags angesetzt und dauerte nur wenige Stunden.[11] Einige Teilnehmer hatten danach noch Amtsgeschäftstermine zu absolvieren. Eines der Ziele war bereits durch die Einladung selbst erreicht: sie bezog sich nämlich ausdrücklich auf die von Göring beauftragte „Endlösung der Judenfrage“. Die diversen Behörden und Ministerien, vor allem aber ihre höheren leitenden Beamten sollten einbezogen und wurden nun ausdrücklich mit beteiligt. In was sie einbezogen wurden, was also unter „Endlösung der Judenfrage“ zu verstehen sei, sollte ihnen unmissverständlich klar gemacht werden.

Was uns heute erschreckt, sind die euphemistischen Umschreibungen des industriellen Massenmords. Aber tatsächlich ist die Verharmlosung keineswegs das Ziel. Im Gegenteil: die ausdrückliche Zustimmung sollte vielleicht durch Euphemismen erleichtert werden; vor allem aber ging es darum, dass alle Teilnehmer nun unmissverständlich (!) wussten, um was es bei der „Endlösung“ ging. Den Teilnehmern wurden deshalb auch Unterlagen vorgelegt, die sie durchaus überraschten: sie machten klar, dass die „Endlösung“ sich nicht aufs deutsche Reichsgebiet beschränkte, sondern ganz Europa und damit nach Ländern fein aufgelistet insgesamt 11 Millionen Juden betraf. Das war die zweite wesentliche Klarstellung. Und die dritte betraf die Frage, wer in Zukunft als Jude zu gelten hatte, dem eine „Sonderbehandlung“ im Sinne der „Endlösung“ zugedacht war: „Halbjuden“ sollten nicht verschont bleiben und Mischlinge 1. Grades jedenfalls sterilisiert werden. Die daran anschließende kurze Diskussion wie das rechtlich, wirtschaftlich und organisatorisch zu leisten sei, war eine völlig überflüssige Show. Sie galt nur dem Nachweis, dass sich alle Beteiligten auf die effiziente Erfüllung der gemeinsamen Zielsetzung verständigt hatten. Die für den SS-Staat typische Anarchie von Zuständigkeiten und das allgegenwärtige Verantwortungsgerangel diente zur Folie der gleichsam beiläufigen Einschwörung auf die Ziele. Die Einwände waren „akademisch“, eine Spielerei um Einfluss und Zuständigkeit. Die Beteiligten Personen und Ministerien sollten gebauchpinselt und auf Kurs gebracht werden.

Neben Reinhard Heydrich und Adolf Eichmann[12] nahmen folgende Ehrenmänner teil:

  • Dr. jur. Josef Bühler (†1948), Staatssekretär Generalgouvernement Krakau
  • Dr. jur. Roland Freisler (†1945), Staatssekretär Reichsjustizministerium
  • Otto Hofmann (†1982), Chef des Rasse- und Sicherheitshauptamtes der SS)
  • Dr. jur. Gerhard Klopfer (†1987), Ministerialdirektor Parteikanzlei NSDAP
  • Friedrich Wilhelm Kritzinger (†1947), Jurist, Ministerialdirektor Reichskanzlei
  • Dr. jur. Rudolf Lange (†1945), Kommandeur Sicherheitspolizei und SD Lettland
  • Dr. jur. Georg Leibbrandt (†1982), Reichsamtleiter des Reichsministeriums für die besetzten Gebiete
  • Martin Luther (†1945), Unterstaatssekretär Auswärtiges Amt
  • Dr. jur. Alfred Meyer (†1945), Staatssekretär im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete
  • Heinrich Müller (†1945), Chef der Gestapo
  • Erich Neumann (†1951), Volkswirt, Staatssekretär für Vierjahresplan
  • Dr. jur. Karl Georg Eberhard Schöngart (†1946), Befehlshaber Sicherheitspolizei und SD im Generalgouvernement
  • Dr. jur. Wilhelm Stuckart (†1953), Staatssekretär des Innenministeriums
Reinhard Heydrich

Im Fokus von Heydrichs Interesse standen aber gar nicht wirklich alle Teilnehmer. Heydrich hatte nämlich im Wesentlichen zwei ganz unterschiedliche Teilnehmergruppen eingeladen: neben leitenden Beamten der betroffenen Behörden und Ministerien auch ihm nahestehende, „verdiente“ Vertreter aus SS- und Sicherheitsdienst. Nur die erste Gruppe war für Heydrich von Interesse. Heydrich wollte die ehrenwerten Ministerialbeamten ausdrücklich mit Männern aus der Praxis konfrontieren, die ihre Geringschätzung der ministerialen Sesselfurzer zum Ausdruck brachten. Sie sollten erfahren, was im Osten bereits vorging und dass das kein staubiger Verwaltungsakt, sondern blutiges Abschlachten bedeutete. Niemand – so die ausdrückliche Erklärung Heydrichs – sollte später sagen können, er hätte nicht gewusst was geschieht. Die organisatorischen und logistischen Probleme waren tatsächlich schon weitgehend gelöst – es musste dazu nur noch die ausdrückliche, aktive Mitwirkung der ministeriellen Bürokratie eingeholt werden.

Betrachten wir die Teilnehmer genauer, dann sehen wir, dass die deutliche Mehrheit aus gehobenen Bildungsschichten kommt. Acht der Teilnehmer sind Juristen, sieben davon promoviert. Der traditionelle (Obrigkeits-)Staat besteht aus einem stehenden Heer und einem sitzenden, nämlich dem Heer der Beamten und Staatsangestellten, das sich auf das Polizei- und Gerichtswesen, die Bildungs- und Forschungseinrichtungen, Verwaltung, Gesundheits- und Sozialwesen erstreckt.[13]

Das stehende Heer braucht das sitzende. Die Nazis brauchten nicht nur die Überzeugten und Willigen, sie brauchten die Willfährigen, die Mitläufer und Gesetzestreuen, die das behördlich Verordnete frag- und klaglos umsetzten. Nicht alle Täter waren überzeugte Nationalsozialisten. Sie waren wohl eher in der Minderheit. Bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 kam die NSDAP auf 37,4% der Stimmen, drei Monate später bei den Wahlen im November nur noch auf 33,1%; die letzten Reichstagswahlen 1933, die schon durch die Machtergreifung überschattet waren, brachten der NSDAP zwar immerhin 43,9% der Stimmen (!), aber das ist eben immer noch keine Mehrheit. Aber die Mehrheit folgte schließlich weitgehend klaglos und vollzog durchaus „begeistert“, pflichtschuldigst und jedenfalls ohne Widerwillen dem nationalsozialistischen Programm. Tatsächlich blieb die nationalsozialistische Herrschaft selbst in den Zeiten des abzeichnenden Untergangs weitgehend stabil und unangefochten.

Das sitzende Heer hat sich in seinem Mittun selbst bestärkt. Nicht zuletzt das willfährige Mittun der Eliten. Die Wannsee-Konferenzler sind da nur ein freilich markantes Beispiel: Wie steht es mit den Massenmedien – wer schrieb denn für die Nazis. Nazis? Ja auch! Vor allem aber viele, fast alle, die vorher schon schrieben.[14] Und die Ideologie – sie bediente sich der „Wissenschaften“, natürlich. „Die Wissenschaft“ so hieß es nämlich auch damals „hat festgestellt…“, nämlich die richtige, die arische. Hier gab es mehr Abweichler, aber … auch „die Wissenschaft“ passte sich an. Blicken wir nur ins RKI. Der Blick in die Universitäten würde nichts anders zeigen: die neue „Lehre“ wurde von den alten Lehrern als neue Wahrheit verkündet. Das galt nicht nur für die Universität. Auch die die anderen Lehrer erzogen pflichtschuldigst nach den neuen „Erkenntnissen“. Und die Polizei, die Richter, die Pfarrer (vor allem die evangelischen) und und und …

Das ist allerdings kein neues Phänomen. Wo war die „Wissenschaft“, wo waren die Richter und Rechtsgelehrten, die Mediziner und Seelsorger, die Journalisten und Lehrer, die Polizei und das Militär denn im Kaiserreich, im Biedermeier, im Absolutismus, im Heiligen Reich deutscher Nation? Warum sollte man nun aber ab 1918 auf sie vertrauen?

Und nach 1949? Die Verstrickung breiter Teile des öffentlichen Bereichs wird eigentlich nirgends bestritten. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten wollte man das aber alles gar nicht so genau wissen, es waren ja noch alle da und wurden nun demokratisch. Pflichtschuldigst befolgten sie nun die neuen Regeln. Und die Faschismustheorie? Auch hier gab es solche, die den neuen Regeln zu folgen trachteten, auf das Faschistische, das Ungeheuerliche und das Einmalige verwiesen, jeden Vergleich – es sei denn mit dem Stalinismus – kategorisch ablehnten und in freier Analogie zum PCR-Test Verfahren entwickelten, mit deren Hilfe man alte Faschismen durch ständige Vervielfältigung ins gemeinsame Bewusstsein heben und sich davon beruhigt absetzen konnte. „Nein, braune Hemden trag ich nicht“, wir sind die Guten und solidarisch mit … na ja, dem Guten eben, der Volksgesundheit und dem Klima, dem Weltfrieden und der Gendergerechtigkeit. Nie wieder so ein Faschismus!

Das Reserve-Polizeibatailion 101

Das Aufspüren von faschistischen Gesinnungsbruchstücken und Parolen wird der Sache nicht vollständig gerecht. Das zeigt ein Blick auf die Täter. Die Schreibtischtäter und die Vollstrecker vor Ort trafen sich auf der Wannseekonferenz im kleinen Kreis. Für die Umsetzung braucht es allerdings viele, sehr viele Täter. Es braucht nicht nur Täter des Typs Eichmann, der zwar die industrielle Vernichtung organisiert, die Fortschritte listet, die Handlungsbedarfe markiert und Vorschläge zu ihrer effizienten Behebung unterbreitet. Es braucht diejenigen, die die Transporte entgegennehmen und die Vernichtung vollstrecken.

Die „Endlösung“ wird mit Vernichtungslager wie Auschwitz und Treblinka verbunden. In den Vernichtungslagern sind etwa 3 Millionen Juden ermordet worden. Was meist ein wenig untergeht, ist die Tatsache, dass ca. 1,5 Millionen durch Erschießungskommandos, den sogenannten Mobilen Einsatzkommandos, umgebracht wurden. Das stellt eine besondere Anforderung an die Täter. Man braucht nicht nur sehr sehr viele, sondern auch Leute, die bereit und fähig sind in, an solchen Einsatzkommandos teilzunehmen.

Die Nazis hatte deshalb bei der Auswahl der ersten Einsatzkommandos darauf geachtet, nur überzeugte Gesinnungstäter mit der Aufgabe zu betrauen. Aus etwas 130.000 Bewerber, die natürlich nicht wussten, wofür sie sich eigentlich bewerben, wurden eine rigide Auswahl getroffen und „nur“ 30.000 in die engere Wahl genommen. Die Aufgabe wehrlose Männer, hilflose Frauen und Kinder wieder und wieder zusammenzutreiben und zu erschießen bedarf einen besonderen Typ Täter. Ganz zurecht wurde vermutet, dass viele den psychischen Belastungen solcher Untaten nicht standhalten könnten. Man sorgte sich um die Führbarkeit von verrohten, brutalisierten Einsatzkräften und um Möglichkeit, sie nach dem Einsatz wieder in das normale Leben integrieren zu können. Diese Überlegung zum „Schutz der deutschen Soldaten“ waren neben der mangelnden Effizienz auch ein Grund für den Bau der Vernichtungslager.

Mit der Dauer des Krieges wurde die Personalnot freilich immer größer. Deshalb wurden mit der Zeit auch rasseideologisch nicht gefestigte Anwärter aufgenommen. Mit der immer kritischer werdenden Kriegssituation ab 1942 wurden auch nicht wehrtaugliche oder freigestellte Männer dafür angeworben. Gut dokumentiert ist das mit der Geschichte des Reserve-Polizeibatailion 101 aus Hamburg,[15] das 1942 aufgestellt und nach kurzer Ausbildung ab Mitte 1942 zum Einsatz kam. Es waren im Wesentlichen Männer, die überwiegend keine ideologische Nähe zu den Nazis hatten – im Gegenteil, hatten viele einen gewerkschaftlichen oder sozialdemokratischen Hintergrund. Oft bereits ältere Männer, kamen die meisten aus der Arbeiterschaft oder kleinbürgerlichen Milieu: sie waren Fabrik-, Lager- oder Hafenarbeiter, Handwerker, Einzelhändler oder Kleingewerbetreibende. Als sie sich im Juli 42 nach Polen aufmachten, hatten sie keine Ahnung, was sie erwartete und wie ihr Auftrag genau lauten sollte. Der Einsatz sollte – so die Aufgabe von Reserve-Polizeibatailionen – der „Stabilisierung der Sicherheitslage“ in den besetzten Gebieten dienen.

Am 13. Juli erfuhren sie dann um was es ging: der befehlshabende Major, unter den Reserve-Polizisten überaus beliebt, erläuterte der angetretenen Truppe mit zitternder Stimme und unter Tränen, der Befehl wäre die Erschießung von 1.500 jüdischen Männer, Frauen und Kindern. Der Major aber machte nicht nur deutlich, wie schwer es ihm fällt, den Befehl zu erteilen, er ging noch einen, fast unglaublichen Schritt weiter: Er betonte welch’ außergewöhnliche Anforderung damit an jeden Einzelnen gestellt sei und deshalb möge jeder vortreten, der es sich nicht zutraue, den Befehl umzusetzen, er würde ohne Sanktion für eine andere Aufgabe eingesetzt. Nach qualvollem Warten trat schließlich einer aus der aufgestellten Truppe vor. Er wurde vom zuständigen Kompanieführer umgehend heftig beschimpft, aber vom Major ausdrücklich in Schutz genommen: er könne sicher sein, keine Strafe befürchten zu müssen. Insgesamt traten schließlich 12 der knapp 500 Reservisten vor, die in Folge tatsächlich nicht mit Strafen belegt wurden. Sie galten den Kameraden als Ausgestoßene, die sich weigerten ihre Pflichte zu tun, mussten unbeliebte Tätigkeiten leisten (Latrinen säubern und andere ungeliebte Hilfstätigkeiten), blieben aber ohne offizielle Strafe. Das war offenbar kein Einzelfall. Auch in anderen Einheiten wurde so verfahren. Die Ausrede man hätte unter eigener Lebensgefahr sich dem Befehl nicht entziehen können, ist damit nur bedingt stichhaltig.

Aktion des Reserve-Polizeibatailions 101

Am folgenden Tag rückte das Batailion zu seinem ersten fürchterlichen Einsatz aus. In den Wäldern wurden 1.500 jüdische Männer, Frauen und Kinder von Reservisten erschossen, die einfach nur ihre Pflicht zu leisten glaubten. Sie litten zunächst selbst heftig unter ihren Erfahrungen, wurden aber schnell professionell gefühllos. Insgesamt ermordeten die Männer des Reserve-Polizeibatailions 101 38.000 Juden. Alles wurde fein säuberlich notiert, nicht zuletzt um im Ranking mit anderen Batailionen schließlich als eines der mörderischsten gefeiert zu werden. Die Berichte, die gut dokumentiert sind, wurden schließlich 1948 in einem Prozess in Polen und einem späten 1958 in Deutschland verhandelt. Ich erspare mir die schrecklichen Einzelheiten, die sich dabei auftun. Nur so viel sei angedeutet: man hielt es für ein Zeichen der Menschlichkeit, Mütter zusammen mit ihren Kindern zu erschießen. Mütter hatten ihre Kleinkinder auf den Arm zu nehmen und konnten dann beide mit einem Schuss munitionssparend „erledigt“ werden.

Es waren „ganz normale Männer“, keine rassenideologischen Fanatiker. Sie erwiesen sich als effizienter als viele „Überzeugte“, weil bei denen die Gefahr der sadistischen Verzögerung bestand. Was kann uns dazu noch einfallen? Welche „wichtigen Aufschlüsse“ gewährt uns hier eine Faschismustheorie?

Nie wieder … Ganz Normale Männer

Milgram Experiment

1961 führte Stanley Milgram (1933-1984) sein berühmtes, nach ihm benanntes Experiment durch. Die Versuchsanordnung war vergleichsweise einfach: den Teilnehmern wurde von einem (wissenschaftlichen) Versuchsleiter erläutert, das Experiment diene dazu, die Wirkung von Bestrafung auf den Lernerfolg zu untersuchen. Die Teilnehmer bestanden aus Schauspielern und zufälligen Probanden, den eigentlichen Versuchspersonen, denen in einer fingierten Zufallswahl unterschiedliche Rollen zugedacht wurden: die Probanden wurden „Lehrer“, während die „Schauspieler“ die „Schüler“ gaben. Die Schüler hatten eine Aufgabe zu erledigen (etwas zu lernen) und sollten bei Fehlern durch einen Stromschlag bestraft werden, der sich stetig bis zu einer tödlichen Stärke erhöhte. Aufkommende Zweifel der „Lehrer“, die durch die (simulierten) Schmerzensschreie der „Schüler“ verunsichert wurden, konterten die wissenschaftlichen Experimentleiter mit dem Hinweis auf das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse. Das Experiment wurde in verschiedenen Formen durchgeführt, kam aber immer zu dem beunruhigenden Ergebnis, dass eine deutliche Mehrzahl der „Lehrer“ den Versuch bis zum bitteren Ende fortsetzten.

Nun ist die Analogie zur Geschichte des Reserve-Polizeibatailions 101 naheliegend: der allseits geschätzte Major braucht Unterstützung bei der Durchführung des Befehls. Wer sich dem Befehl zu entziehen versucht, schadet dem Major und der Sache. Er stellt sich auch gegen die Kameraden, die seine Arbeit mit erledigen müssen und sich von ihm verurteilt sehen. Der Befehl wird selbst nicht in Frage gestellt. Die eigene Schwäche muss mit Blick auf die große Aufgabe überwunden werden – kneifen gilt nicht.[16] Befehle sind Befehle, Verordnungen sind Verordnungen und auch der wissenschaftlichen Weltanschauung will sich niemand entziehen.

Dass hier auch Bildung wenig ausrichtet zeigt die Erfahrung: die Verstrickung war allgegenwärtig. Die Dr. jur. saßen auf der Wannseekonferenz nicht nur auf der „ministeriellen Seite“: mit Rudolf Lange und Karl Georg Eberhard Schöngart saßen auch zwei promovierte Bluthunde am Tisch, die die beamtlichen Aktenschieber über die Wirklichkeit des Ostens aufklären sollten. Sie waren keine Einzelfälle. Nicht wenige der Mobilen Einsatzkommandos wurden durch promovierte Juristen und musische Akademiker angeführt. Zu schweigen von den Universitäten und Schulen oder den Polizeibehörden und Richtern, die allesamt sich behilflich zeigten, die neuen rassischen Wahrheiten durchzusetzen. Und die Mediziner? Wir schweigen auch darüber lieber.

Henryk M. Broder

Henryk M. Broder hatte aus all dem den provokanten Schluss gezogen: „Wenn ihr fragt, wie das damals passieren konnte: weil sie damals so waren, wie ihr heute seid.“ Die Provokation stützt sich wohl weniger auf empirische Beweise als auf die Mahnung zur kritischen Selbstreflexion: der Fehler könnte darin liegen, ihn bei anderen zu suchen. 

Schiller war 1789 noch verhalten optimistisch. Auch er wusste – und hat es am eigenen Leibe erfahren –, dass ein „gebildetes Amt“ nicht für Freiheit und Würde steht. Er unterscheidet deshalb in seiner Antrittsvorlesung zwei Haltungen, die des „Brotgelehrten“ und die des „philosophischen Kopfes“. Dem „Brotgelehrten“ ist „es bei seinem Fleiß einzig und allein darum zu tun […], die Bedingungen zu erfüllen, unter denen er zu einem Amte fähig und der Vorteile desselben teilhaftig werden kann“.[17] Schiller schreibt ihm „kleinliche Ruhmsucht“, also das Streben nach Ämtern und Anerkennung zu. „Seinen ganzen Fleiß wird er nach den Forderungen einrichten, die von dem künftigen Herrn seines Schicksals an ihn gemacht werden.“[18] Für Neuerungen, die dem „Amt“ gefährlich werden könnten, ist er nicht zu haben, „darum kein unversöhnlicherer Feind, kein neidischerer Amtsgehülfe, keine bereitwilligerer Ketzermacher als der Brotgelehrte“. Er lässt nur Wahrheiten gelten, die sich „in Gold, in Zeitungslob, in Fürstengunst“ verwandeln. Natürlich unterscheidet sich davon der „philosophische Kopf“: „nicht was er treibt, sondern wie er das, was er treibt, behandelt, unterscheidet den philosophischen Geist“.[19]

Wissenschaft – so können wir Friedrich Schiller verstehen – darf sich nicht in den politischen Dienst nehmen lassen. Wissenschaft muss den Menschen „verwandeln“, ihn besser machen, ihn zur Würde des Menschen öffnen, der eigenen wie der des anderen. Unsere Würde können wir nur erfahren, wenn wir die „unantastbare“ Würde des anderen ehren. Hoffen wir, dass uns das durch Faschismustheorien ein bisschen besser gelingt.

[1] Nato-Bomben auf Serbien: Deutschland zog vor 20 Jahren in den Krieg (t-online.de)

[2] Von der deutschen Völkerrechtsexpertin, die inzwischen als deutsche Außenministerin firmiert, hören wir von einem „eklatanten Bruch des Völkerrechts“. Damit ist Russlands Einmarsch in die Ukraine gemeint, die dort als „Sonderoperation“ getarnt wird. Und wie berichten die deutschen Medien 1999 vom Völkerrechtsbruch der Deutschen? Die Deutsche Welle spricht von einer „NATO-Intervention“, die die „Gewalt der serbischen Truppen gegen die Albaner im Kosovo beendete“. Das ist natürlich was anderes: https://www.dw.com/de/vor-20-jahren-nato-intervention-gegen-serbien/g-175030.

[3] Der damalige Außenminister verglich den irakischen Präsident Saddam Hussein mit Adolf Hitler und der Magnus Enzensberger liefert dazu „Schützenhilfe“.

[4]Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, wieder Ausschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.“ Das blieb zum Glück nicht unwidersprochen: „Hier muss ich mich wirklich beherrschen, weil der Vergleich mit Auschwitz und der Situation im Kosovo eine ungeheuerliche Behauptung ist. Man muss sich als Deutscher schämen, dass deutsche Minister so etwas getan haben, denn ein normaler Mensch, ein normaler Deutscher, wird vor Gericht zitiert, wenn er in derartigem Ausmaße Auschwitz verharmlost. Und dass ein deutscher Minister von KZs im Kosovo sprach, ist auf der gleichen Linie, denn KZs sind Einrichtungen einer bestimmten historischen Situation, nämlich der nationalsozialistischen Zeit in Deutschland. Und ich finde es im Grunde genommen ungeheuerlich, dass gerade Deutsche diese Vergleiche gewählt haben.“ Brigadegeneral Heinz Loquai wurde daraufhin entlassen. Man widerspricht schließlich militanten Antifaschisten à la Scharping und Fischer nicht ungestraft.

[5] Z.B. bei B. H. Rausching, Die Revolution des Nihilismus, 1938.

[6] Friedrich Schiller, Sämtliche Werke IV, 1980, S. 749ff.

[7] Gemeint ist hier natürlich die politisch öffentliche, rechtlich geordnete Auseinandersetzung, nicht die private und persönliche. Niemandem kann verübelt werden, dass er das Gespräch mit bestimmten Personen nicht sucht oder gar verweigert. Im Gegenteil kann es sogar Ausdruck eines respektablen Charakters sein, nicht aber eine rechtlich politische Norm.

[8] Hinzu kommt, dass die „Verelendung“ nicht immer eine absolute sein muss. Meist geht es um eine relative Verschlechterung von Bevölkerungsgruppen im Vergleich zu anderen. Die objektive Verarmung korrespondiert mit dem Verlust an Wertschätzung und Selbstachtung.

[9] Eine Formulierung von Jürgen Habermas aus Theorie kommunikativen Handelns (1981), das in gewissem Sinne als „Summa“ der kritischen Theorie gelesen werden kann.

[10] Siehe dazu die posthum herausgegebenen Studien zum autoritären Charakter, 1995

[11] Der etwas irritierende Hinweis auf das „anschließende Frühstück“ sollte lediglich darauf hinweisen, dass für Bewirtung – wir würden heute wohl von einem Imbiss oder Snacks sprechen – gesorgt sei und man nicht mit einer steife Amtsstubenbesprechung rechnen müsse.

[12] Und nicht zu vergessen die stramme Nationalsozialistin Ingeburg Gertrud Werlemann (†2010), die als Sekretärin Eichmanns das Protokoll führte.

[13] Das galt damals und gilt – im Wesentlichen noch verstärkt – auch heute: der Staat durchdringt das gesamte gesellschaftliche Leben: Alle mehr oder weniger vom Staat und seinen Einrichtungen, seinen Förderungen und Verfügungen Abhängigen: die Theater und Kulturförderungseinrichtungen, die Öffentlich-Rechtlichen (immerhin 7 Mrd. Euro schwer), der Gesundheits- und Pflegebereich, die Stadt- und Kulturentwicklung, Verkehrs- und Sicherheitspolitik usw. usf.
Besonders versteckt bleibt der dominante Einfluss der Öffentlich-Rechtlichen: sie haben sich inzwischen zu einem monopolistischen Kulturagenten entwickelt. In der deutschen Film- und Medienlandschaft geht kaum mehr etwas ohne die öffentlich-rechtliche Förderung. Film- und Fernsehrechte werden monopolistisch diktiert und unliebsame Akteure aus dem Markt entfernt.

[14] Mit der Ausnahme derer, die ins Exil gingen, verhaftet und verschleppt wurden oder unter Wechsel der Tätigkeit in die innere Emigration gingen.

[15] Ein erschütternde Darstellung der gut belegten Geschichte des Reserve-Polizeibatailions 101 findet sich bei Christopher R. Browning, Ganz normale Männer, Das Reserve-Polizeibatailion 101 und die „Endlösung“ in Polen,

[16] Das ist im Wesentlichen auch die Botschaft von Heinrich Himmlers Posener Rede vom Oktober 1943.

[17] Fr. Schiller, a.a.O., S. 750.

[18] A.a.O., S. 750.

[19] A.a.O., S. 753.