„Ich sehe nicht viel Natur …“

Lesedauer 3 Minuten
Gottfried Benn (1886-1956)

Gottfried Benn zu lesen ist – meist – ein Vergnügen. Auch wenn es manchmal – und gar nicht selten – um unerfreuliche Dinge geht. Oft führt er uns zu den dunklen Seiten der menschlichen Existenz und lässt uns die Unwirtlichkeit unseres modernen Lebens fühlen. Auch wenn wir ihm darin nicht immer folgen wollen, leitet er unseren Blick zu neuen Einsichten und findet den Ton, der uns mitfühlen lässt. 

Deshalb blättere ich gerne in seinen Büchern. Heute las ich Radio, ein Gedicht aus dem Nachlass, das Ende 1952/Anfang 1953, also rund drei Jahre vor seinem Tod entstanden ist[1]. Und was musste ich da lesen: 

die größten Ströme er Welt
Nil, Brahmaputra oder was weiß ich
wären zu klein, alle diese Professoren zu ersäufen –

So was dürfte man heute nicht mehr schreiben, oder? Vermutlich weil sich damit zu viele betroffen fühlten. Darf man es noch lesen oder gar verstehen?

Wie kommt der Dichter denn auf so was Abwegiges? Er hat Radio gehört: 

– „die Wissenschaft als solche“ – 

hieß es dort. Das genügte ihm schon. Wenn er derartiges „am Radio“ hört, ist er „immer ganz erschlagen“. Gelegentlich wird man damit heute noch – nicht nur „am Radio“ – „erschlagen“. Und „gelegentlich“ ist eine verniedlichende Untertreibung. „Die Wissenschaft als solche“ wird uns täglich, ja fast stündlich um die Ohren geschlagen und in den Kopf gehämmert. Gottfried Benn möchte wissen

Gibt es auch eine Wissenschaft nicht als solche?

Doch, doch, es gibt schon auch „andere Wissenschaft“, jenseits des Radios und der Drittmittelförderung. Solche, die die Welt erschließt, weil sie sich ihr nicht in schallisolierten und künstlich erleuchteten Sendeanstalten verschließt („Achtung! Sendung läuft“). Aber die findet wenig Gehör und ist aus den Sendeanstalten verbannt.

Ich sehe nicht viel Natur, komme selten an Seen
Gärten nur sporadisch, mit Gittern vor,
oder Laubenkolonien, das ist alles.
ich bin auf Surrogate angewiesen:
Radio, Zeitung, Illustrierte –
wie kann man mir da sowas bieten?

Heute haben wir natürlich neben den staatsfunkenden ÖRR-Anstalten zum Glück noch Netflix und YouTube. Und dort hören und lesen wir „gelegentlich“ von der „Wissenschaft als solcher“ – nicht zuletzt dann, wenn uns erklärt wird, warum wir dort etwas nicht sehen dürfen. 

Da muss man doch Zweifel hegen
ob das Ersatz für Levkoien,
für warmes Leben, Zungenkuß, Seitensprünge, 
alles, was das Dasein ein bißchen üppig macht
und es soll doch alles zusammengehören!

Es gäbe Stunden – meint Gottfried Benn – wo man auf keinem Sender etwas anderes höre als 

immer nur diese pädagogischen Sentenzen
eigentlich ist alles im männlichen Sitzen produziert,
was das Abendland sein Höheres nennt –
ich aber bin, wie gesagt, für Seitensprünge!

Am Ende sogar fürs Querdenken und Gegen-den-Strom-Schwimmen? Seitensprünge sieht solche Wissenschaft nicht gerne – die sind unwissenschaftlich, vermutlich unmoralisch und jedenfalls unsolidarisch, weil bestimmt chauvinistisch und … na ja, Sie wissen schon. 

Gottfried Benn sieht sich durch solche Wissenschaft also ums Beste im Leben gebracht und nimmt es den Professoren, die doch nur sein Bestes wollen, wutbürgerisch übel.

ich habe kein Feld, ich habe kein Tier, 
mich segnet nichts, es ist reiner Unsegen,
aber diese Professoren
sie lehren in Saus und Braus
sie lehren aus allen Poren
und machen Kulturkreis draus.  

Soll wirklich „die Wissenschaft“, die „als solche“ massenmedial unsere Lebensform bestimmt und die Gottfried Benn schlecht mit „warmen Leben“ und „Zungenkuß“ – oh Gott, was da alles passieren kann! – verbinden kann, als Hort des „reinen Unsegens“ gelten? Na jedenfalls ist es alles andere als nett ihre Professoren gleich ersäufen zu wollen! Aber das ist ja alles im Konditionalis Irrealis gesprochen: die größten Ströme der Welt wären dafür ja viel zu klein.   

P.S.:

Was radiotauglich ist und was nicht, das können wir von Theodor Shitstorm lernen:

[1] Gottfried Benn, Sämtliche Werke, Bd. II, S. 162f. 

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