„Logik“ des Impfens

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Darf man Geimpfte Ungeimpften vorziehen?

Impfen ist eine Risikoabwägung. Wie alles im Leben hat auch das Impfen ein Risiko, das es gegen das Risiko einer Erkrankung abzuwägen gilt. Hier kommt es meist auf den spezifischen Fall an. Das Risiko einer Erkrankung an COVID-19 ist für verschiedene Altersgruppen mit Vorerkrankungen unterschiedlich zu bewerten. Deshalb gibt es eine Impfreihenfolge. Grob gesagt gilt: je jünger eine Person ist, desto weniger riskant ist eine Erkrankung.

Die Idee der Impfung ist nun dieses jeweilige Risiko zu senken – sei es die Eintrittswahrscheinlichkeit, sei es die Schwere der Krankheit oder beides. Das Risiko der Ungeimpften bleibt dagegen weitgehend unverändert.

Gute Impfung

Gibt es nun Gründe, Geimpfte Ungeimpften vorzuziehen, also z.B. ihnen etwas zu erlauben, was man denen nicht gewährt, die nicht geimpft sind? Um das zu entscheiden, sind wohl mehrere Fälle zu unterscheiden.

Grundsätzlich gehe ich bei meinen Überlegungen man davon aus, dass jeder, der geimpft werden will, auch geimpft werden kann. Die aktuelle Mangelverwaltung ignoriere ich mal. Es geht also darum, ob in gar nicht so ferner Zukunft – sagen wir im Spätherbst 2021 – ein Unterschied zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften ratsam, geboten oder wenigstens erlaubt ist.

Ich beginne mit dem Einfachsten und damit dem Unwahrscheinlichsten, nämlich dem einer 100 prozentigen Schutzwirkung der Impfung. Wer geimpft ist, wird nicht mehr (schwer) krank. Krank können also nur diejenigen werden, die sich nicht impfen lassen. Sie schädigen sich gegebenenfalls, allerdings aus freier Entscheidung. Den Geimpften können sie nichts anhaben, die sind ja vor der Erkrankung sicher.

Welchen Grund gäbe es also, Ungeimpfte nicht zu Veranstaltungen etc. zuzulassen? Nehmen wir das Beispiel einer Fluggesellschaft oder eines Restaurants. Wer soll durch das Zutrittsverbot Ungeimpfter geschützt werden? Nur Ungeimpfte können geschützt werden. Die dürfen aber nicht rein. Es gibt also keinen Grund. Allenfalls den, Ungeimpfte zu bevormunden.[1]

Impf-Schwäche

Ein Unterschied kann sich also nur aus der „Schwäche“ der Impfung ergeben: nur wenn es ein Restrisiko der Erkrankung gibt, muss sich der Geimpfte weiter schützen. Alle weiteren Überlegungen richten sich also auf den mangelhaften Schutz der Impfung.

Es kommt alles darauf an, wie gut die Impfung ist. Nach Aussagen der Hersteller, der Stiko und der Politik: sehr sehr gut. 80-90% der Geimpften sind geschützt. Gut, dann bleiben also 10-20% die wieder (schwer) erkranken können. Wie bewerten wir das? Natürlich bezogen auf das Risiko ohne Impfung angesteckt zu werden. Denn für die 10-20% ist es im Extremfall so als wären sie nicht geimpft. Die Impfung hat versagt.

Dazu nehmen wir ein Beispiel, möglichst ein extremes. Also z.B. Schweden. Dort ist die Mortalität 0,14% – wohlgemerkt nicht wie das üblicher Weise gerechnet wird pro Saison/Welle, sondern aufsummiert über 15 Monate. Aber sei’s drum. Also runden wir mal auf: 0,15 oder nehmen wir gleich den Grippe-Wert 0,2%. Nehmen wir also an, 0,2% der Bevölkerung stürbe an COVID-19, also statistisch betrachtet, 0,2% derer, die wie Nicht-Geimpfte zählen. Von den 10-20% also 0,2%, das sind dann 0,02 bzw. 0,04% – wenn ich mich nicht irre. Jetzt müssen wir natürlich noch den Umstand dazu nehmen, dass die Mortalität mit der Durchseuchung sinkt. Man kann vielleicht sagen es geht gegen Null? Insbesondere wenn wir berücksichtigen, dass die Impfung auch ein gewisses Risiko hat. Selbst niedrige Wahrscheinlichkeiten von 0,0x sind dann eben ein vergleichbares Risiko. 

Das wäre vergleichbar mit dem Fall, den „man“ zur Zeit unterstellt, nämlich dass Geimpfte deutlich weniger infektiös, also ansteckend, sind. Auch hier geht „man“ davon aus, dass das in der Risikobetrachtung zu vernachlässigen sei. Auch Geimpfte könnten Ungeimpfte anstecken, aber das soll nicht von Belang sein. Und das wäre dann wieder allenfalls ein Problem der Ungeimpften und damit wieder kein Problem.

Ergebnis

Das Risiko der Geimpften durch Ungeimpfte ist selbst durch die „Schwäche“ der Impfung minimal. Also gibt es wohl keinen Grund, Ungeimpften etwas zu verweigern, was Geimpften zugestanden wird.

Bei Grundrechten ist das Zu- oder Aberkennen sowieso nicht erlaubt. Man hat sie nämlich einfach unabhängig vom Impfstatus. Also: man darf Ungeimpften keine (Grund-)Rechte vorenthalten, die „man“ Geimpften geben zu können glaubt.

Noch zwei Einwände

Halt: da gibt es noch zwei Einwände: 1) Was ist mit denen, die Geimpft werden wollen, aber z.B. aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können? Und was ist 2) mit den Kosten, die (der Gemeinschaft) dadurch entstehen, dass sich einige nicht impfen lassen und damit behandlungsbedürftig würden? Das wären Gründe, die für eine Impf-Pflicht zu sprechen scheinen. Aber die wird ja im Moment noch verneint. Gehen wir sie dennoch einmal durch:

I

ad 1): Die Freiheit des einen hat seine Grenze an der Freiheit des anderen. So weit, so gut. Aber nicht jede Unfreiheit hat ihren Grund in der Freiheit des anderen. Nicht jede Gehbehinderung gründet in der Bewegungsfreiheit eines anderen. Die Einschränkung des einen lässt sich nicht unbedingt auf das Tun eines anderen zurückführen. Die angeborene oder durch einen Unfall erworbene Querschnittslähmung ist niemanden schuldhaft zuzurechnen. Der Umstand, dass jemand etwas nicht kann, verpflichtet niemanden etwas zu unterlassen. Dass der Nachbar Blutkrebs hat, ist bedauerlich, verpflichtet mich aber (noch) nicht zu einer Knochenmarkspende. Die Unmöglichkeit der Impfung bei einigen (sehr) wenigen, kann keine Verpflichtung zu einer Impfung aller erzwingen. Sie mag – ich bezweifle das (!) – moralisch geboten, sie kann aber nicht rechtlich verpflichtend sein. Im übrigen ist die Anzahl vermutlich so klein, die wiederum nur ein vergleichsweise geringes Erkrankungsrisiko (über alle) haben, dass schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit der Kosten/Nutzen-Abwägung ein Impf-Gebot abzulehnen wäre.  

II

ad 2): Das ist ein weites Feld, das sich da auftut. Natürlich müssten wir sofort das Rauchen verbieten. Und alle Risiko-Sportarten. Wie wäre es mit kostspieliger Bildung oder Unbildung, mit der Ausbildung von Talenten und der Nutzung von privaten Ressourcen. „Eigentum verpflichtet“, das eigene Leben aber nicht. Niemand hat einen Anspruch darauf, nicht krank zu werden. Und niemand ist verpflichtet, der Gemeinschaft zu dienen. Die Gemeinschaft aber ist auf die Wahrung der Grundrechte und der Würde der Person verpflichtet. Vielleicht kann man so weit gehen, den Versicherungsschutz einzuschränken: wer Versicherungsbedingungen nicht einhält wird nicht versichert. Das würde einer gesellschaftlichen Gleichschaltung Vorschub leisten. Es kann aber kein Rechtsgebot sein. Und alle Regelungen müssen den Grundrechten der Person gerecht werden. Also: wer sich nicht impfen lässt, verliert den Versicherungsschutz im Falle einer COVID-19 Erkrankung?! Aber nicht seine Rechte.

Freiheit der Andersdenkenden

Impfen ist zunächst und vor allem Schutz der eigenen Person. So wenig wie alle ein Impf-Recht haben, so wenig kann es eine Impf-Pflicht geben. So sehr wir uns dafür einsetzen sollten, denen eine Impfung zu ermöglichen, die geimpft werden wollen – weltweit, nicht nur in Berlin, Hamburg, München und Starnberg – so sehr müssen wir dafür kämpfen, dass man nicht geimpft werden muss, um seine Grundrechte zuerkannt zu bekommen. 

Das bedeutet freilich nicht, dass ich alles darf. Ich habe nichts dagegen, dass sich Leute mit Nicht-Geimpften nicht treffen wollen. Das ist ihr gutes Recht. Es gibt Türsteher vor Clubs und ich bin nicht gezwungen meinen Gebrauchtwagen an jemanden zu verkaufen, der mir einfach nicht gefällt. Das gilt vermutlich auch für Fluggesellschaften und Restaurants. Da bin ich mir nicht sicher. Ich darf als Taxifahrer wohl keinen Fahrgast ablehnen, weil mir seine Hautfarbe oder seine (vermutete) religiöse Gesinnung nicht gefällt. Dürfen Covidioten in Zukunft nicht mehr bei ALDI einkaufen? Wieder ein weites Feld, dem ich mich nicht gewachsen fühle. 

Viele können es besser wissen, wie ich meine Grundrechte ausleben sollte. Aber keiner kann mir meine Grundrechte vorsorglich nehmen oder gutsherrlich gewähren. 

Disclaimer – oder die Bitte um Korrektur

Bei der gegenwärtigen Diskussionslage bekommt man den Eindruck, als sei es geboten, sich impfen zu lassen. Die Gefahr sei einfach zu groß. Und weil die Gefahr für so groß erachtet wird, wird die „Logik“ des Impfens eigentümlich verzerrt. Impfen dient dem Selbstschutz. Ist der gewährt, ist allen geholfen, die sich helfen lassen wollen. Sollte ich da einen Denkfehler machen, hoffe ich, dass ihn ein Leser ausräumen kann. Er muss jedenfalls tief sitzen. Denn das „Impf-Gebot“ scheint so selbstverständlich zu sein, dass sich niemand überhaupt die „Mühe“ macht solchen Begriffsstutzigen wie mir, die Sache verständlich zu machen. Deshalb hoffe ich wirklich auf Aufklärung. So oder so. 

 

 

[1] Die Frage, ob Geimpfte immer noch infektiös sein können, kann hier dahingestellt bleiben.

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