Von Thukydides lernen

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Allerlei Merkwürdiges ereignet sich auch in Italien. Im ersten Halbjahr 2020 von der Pandemie scheinbar besonders getroffen, schritt man zu drakonischen Maßnahmen, die freilich wenig Erfolg zeigten. Manche davon hinterlassen heute noch Spuren, wenn z.B. Zugreisenden mit polizeilicher Verhaftung gedroht wird, sollten sie gegen die Maskenpflicht verstoßen oder Ausstellungskataloge mit antibakterieller Schutzbeschichtung verkauft werden, wobei natürlich die allgegenwärtigen Antragspapiere in gefährlicher Normalform umlaufen – von den Zeitungen und dem Museums-Leporello zu schweigen, der einem zum Museumsshop führt, in dem man dann den hygienisch reinen Katalog kaufen kann.

Aber es gibt auch Widerstand, der bei uns allerdings weitgehend verschwiegen wird. Wie in Frankreich und in England oder Österreich gehen Hunderttausende auf die Straße um gegen die Corona-Politik zu protestieren. Ein Kioskbesitzer in Perugia macht ein ganz besonderes Aggiornamento. Er pro-testiert (mit) Thukydides, der als einer einer der Begründer der Geschichtsschreibung. 

Thukydides hat von 454 bis etwa 396 v.Chr. gelebt und war als Athener Teil des Geschehens über das er berichtet, nämlich den Peloponnesichen Krieg, der von 431 bis 404 v.Chr. zwischen Athen und Sparta ausgetragen wurde und schließlich mit der Niederlage Athens endete. Thukydides war von Anfang an – wie er selbst in gleichsam methodischer Reflexion – beteiligt: er war Partei, möchte allerdings so objektiv wie irgend möglich über die Ereignisse des Krieges berichten. Er beklagt die „Sorglosigkeit“ mit der immer wieder über historische Ereignisse berichtet wird. Das „erste Beste“ wird meist als wahr erachtet und ohne eigene Prüfung berichtet. Weder darf man „blindlings den Dichtern glauben, die alles mit höherem Glanze schmücken, noch den ‚Historikern‘, die in ihren Berichten mehr auf die Befriedigung der Hörlust achten als auf die Wahrheit„. Man mag sich an unsere Qualitätsmedien erinnert fühlen. Thukydides versucht die entscheidenden Reden und Dokumente „unter möglichst engem Anschluß an den Gesamtsinn des wirklich Gesagten“ widerzugeben. „Selbsterlebtes“ wird mit dem „von anderer Seite Berichtetes“ abgeglichen und „mit größter Genauigkeit in jedem einzelnen Fall erforscht„: „Schwierig war die Auffindung der Wahrheit, weil die jeweiligen Augenzeugen nicht dasselbe über dasselbe berichteten, sondern ja nach Gunst oder Gedächtnis.“ Thukydides geht es dabei vor allem um die tatsächlichen Wirkkräfte, die durch die Erwartungen, Befürchtungen und Vorurteile genauso geprägt sind, wie von „objektiven“ Ressourcen. Der Sklave und stoische Philosoph Epiktet hat knapp 500 Jahre nach Thukydides betont, dass es nicht die Dinge sind, die Menschen beunruhigen, sondern ihre Meinungen darüber. Das, was die Menschen meinen, bewegt sie und entscheidet ihre Geschichte. So sagt Thukydides, dass die Angst vor der Pest Athen mehr erschüttert hat als die Pest selbst. 

Der findige Kioskbesitzer in Perugia hat sich nun auf diese Weisheit des Thukydides besonnen – man darf wohl vermuten in kritischer „Reflexion“ auf die eigene Zeit. Thukydides selbst sieht im Aggiornamento den größten Nutzen, den sein Werk haben kann: Wer aber klare Erkenntnis des Vergangenen erstrebt damit auch des Künftigen, das wieder einmal nach der menschlichen Natur so oder ähnlich eintreten wird, der wird mein Werk für nützlich halten…„[1]

 

 

La paura della peste distrusse Atene, non la peste

Kiosk in Perugia

[1] Alle Zitate aus Thukydides, Der Peloponnesiche Krieg, hrsg. und übersetzt von Herlmuth Vretska, 1966. 

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