Mose und die Sache der Kunst

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Moses gilt als Stammvater der monotheistischen Religion. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass er immer wieder zum Gegenstand der bildenden Kunst wurde. Seine abenteuerliche Lebensgeschichte lädt förmlich dazu ein, eine Bildergeschichte draus zu machen: Aussetzung und Adoption durch eine Pharao-Tochter, Tötung eines ägyptischen Aufsehers und Flucht nach Midian, Erlösungsauftrag am brennenden Dornenbusch, Aussendung der sieben Plagen, Befreiung aus der ägyptischen Gefangenschaft und Bundesschluss. Von besonderer Bedeutung sind neben der Übermittlung des Gesetzeswerks an das jüdische Volk natürlich die Zehn Gebote, die auch für den christlichen Glauben bestimmend sind.

Moses mit den Gesetzestafeln (1628) von Valentin de Bologne (1591-1632)

Moses war von Gott auf den Berg gerufen worden, um dort die zehn Gebote und eine Fülle anderer Ge- und Verbote zu erhalten, die das Leben der Israeliten ordnen sollten und den Großteil der Thora ausmachen. Als Überbringer der Gesetzestafeln wird er von Valentin de Boulogne (1591-1632) in seinem Gemälde Moses mit den Gesetzestafeln gezeigt, das um 1628 entstand. Er präsentiert ihn uns als alten Mann, dessen gleichwohl muskulöser rechter Arm mit offener Hand auf die Gesetzestafeln weist, die er mit dem linken Arm umgriffen hat. Seine linke Hand liegt stützend obenauf und hält den Stab, mit dessen Hilfe er wundersame Dinge hervorrufen konnte. Mit dem „Zauberstab“ beeindruckte er gleichermaßen den Pharao und die Israeliten, teilte z.B. bei der Flucht der Israeliten aus Ägypten das Meer und schlug aus dem Felsen das Wasser. Für Moses mit den Gesetzestafeln hat der „Zauberstab“ zunächst eine ikonographische Funktion: so wie das schwache Licht um seinen Kopf ihm den Nimbus des Gehörnten gibt, als der Moses durch einen Übersetzungsfehler gilt. Das „strahlende Antlitz“, das Moses im Hebräischen Original zugeschrieben wird (Ex 34,29), wurde als „facies coronata“ latinisiert und schließlich als „facies cornuta“ missverstanden. Das „strahlende Antlitz“ ist für Moses wesentlich: er braucht ein besonderes, „magisches“ Strahlen, um seine Israeliten – und uns (Betrachter) – zu überzeugen.

Moses (1513/15) von Michelangelo (1475-1564)

In der berühmten Darstellung des gehörnten Moses durch Michelangelo (1475-1564) verstärken die „Hörner“ den Eindruck grimmiger Entschlossenheit, in der Michelangelo uns Moses zeigt. Von Gott beauftragt, die Israeliten „aus der Gewalt der Ägypter zu retten und es aus diesem Land hinaufzuführen in ein gutes und geräumiges Land, in ein Land, das von Milch und Honig überfließt, an den Ort der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hewiter und Jebusiter“, ist Moses von Anfang an Anfeindungen ausgesetzt, denen er immer wieder durch den Nachweis ihm verliehener „Zauberkräfte“ begegnen muss. Kaum hatte er die Israeliten mit magischen Kräften, aus der Gefangenschaft geführt, beklagen sie sich über Hunger und Durst, unter denen sie nun mehr zu leiden behaupten als unter der vormaligen Gefangenschaft bei den Ägyptern, die sie doch so bedrückend empfunden hatten. Mit jedem Schritt aus der Knechtschaft erscheint ihnen, sich ihre Lage immer weiter zu verschlechtern. Immer wieder müssen sie durch Wunder davon überzeugt werden, dass Gott mit ihnen ist, ihr Gott ein starker Gott ist, der als einziger Gott über die Welt und ihre Bewohner herrscht und der sie durch Moses ins gelobte Land führen wird. Gott wird ihnen schließlich mitteilen, was er ihnen vorgeführt hat:

„Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus, herausgeführt habe. Du sollst keine andern Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Götterbild machen, auch keinerlei Abbild dessen, was oben im Himmel oder was unten auf der Erde oder was im Wasser unter der Erde ist. Du sollst dich vor ihnen nicht niederwerfen und ihnen nicht dienen. Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott, der die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern, an der dritten und vierten ⟨Generation⟩ von denen, die mich hassen, der aber Gnade erweist an Tausenden, von denen, die mich lieben und meine Gebote halten. – Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht zu Nichtigem aussprechen, denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen zu Nichtigem ausspricht.“[1]

Der Glaube entwächst dem Zweifel. Auch Moses selbst zweifelt immer wieder an der Durchführbarkeit dessen, was von ihm zu tun verlangt wird. Wie kann er, ein Mensch, Übermenschliches leisten? Seine Überzeugungskraft schätzt er selbst gering ein: er bekennt, kein großen Redner zu sein und sieht sich deshalb für die ihm von Gott zugedachte Rolle wenig geeignet.[2] Gott freilich entbindet ihn nicht von seinem Auftrag und versichert ihm seinen Beistand. Auch Moses, der von Gott in direkter Begegnung angesprochen wird, muss ihn erst als allmächtigen Gott wahrzunehmen lernen, indem er seine Zweifel zu überwinden vermag.

Seine Zweifel an seiner Befähigung sind durchaus berechtigt. Moses muss für den Dekalog, die er den Israeliten (und uns) überbringt, ihre göttliche Herkunft glaubhaft machen. Das durch Gott Gebotene versteht sich nicht von selbst, sonst müsste es nicht gegeben werden. Und dennoch muss das Offenbarte einleuchten oder durch Autorität überzeugen. Das eine ist die Aufgabe einer rationalen Theologie, die das göttlich Gebotene vernünftig vermitteln will. Was für die Menschen verbindlich sein soll, muss von ihnen verstanden werden. Sie müssen sich darauf verstehen. Der Maßstab der Glaubwürdigkeit des Übernatürlichen ist dann die natürliche Vernunft (I), die das Gebotene verständlich und zugänglich macht, oder (II) sie gründet in der unbedingten Autorität des Gebietenden. Wir erkennen es als göttlich, weil es uns vernünftig und gut erscheint. Oder wir anerkennen das Gebotene als gut und machen es zum Maßstab unseres vernünftigen Handelns, weil es der unbedingten Autorität Gottes entspringt.[3]

Moses sieht sich nicht in der Rolle, die göttlichen Gebote zu erläutern und verständlich zu machen, indem er sie auf das zurückzuführen versucht, was die Israeliten und wir späten Leser seines Berichts sowieso schon glauben. Er muss als Bote freilich die Herkunft der Gesetzestafeln verbürgen: was er übermittelt, ist genau das, was Gott ihm übergeben hat, nicht mehr und nicht weniger. Die Geltung verdankt sich der Herkunft. Der Bote muss nicht den Inhalt erläutern, sondern nur glaubhaft machen, dass die Botschaft wirklich von dem stammt, von dem er sie bekommen haben will. Gleichwohl gründet der Zweifel in der Fragwürdigkeit des Übermittelten: ist das übermittelte tatsächlich das Gesetz unter das Gott uns stellt?

Der Zweifel kann sich aus zwei Quellen speisen: Man zweifelt, weil (a) so Unplausibles gefordert wird, dass die Israeliten (und wir) uns gar nicht vorstellen können, dass uns das von Gott aufgetragen wird? Das ausdrückliche Bilderverbot könnte uns in diesem Sinne reichlich merkwürdig vorkommen. Oder (b) können wir nicht glauben, dass dies alles ist, was Gott von uns fordert, weil das Geforderte sich doch beinahe von selbst versteht wie z.B. das 5. und 7. Gebot, nicht zu töten oder zu stehlen.

Die Kunst lässt Mose wirken

Valentin de Bologne zeigt uns den alten Moses, der sich gegenüber diesen Zweifeln mehr oder weniger hilflos zeigt. Ihm bleibt nichts als auf die Tafeln zu verweisen, die ihm eben so und nicht anders gegeben wurden: „Das wurde mir so gegeben, ich kann’s Euch nur zeigen – und nicht weiter erklären.“ Er ist hilf- und ratlos, was er anderes tun könnte als sie zu zeigen. Er folgt nur einen göttlichen Auftrag, den er so gut es geht, zu erfüllen versucht. Das freilich gelingt ihm nur nur mit übernatürlichen Kräften, die ihm verliehen wurden. Das hintergründige Strahlen seiner Erscheinung gehört dazu und vor allem der Wunder wirkende „Zauberstab“. Die übernatürlichen Kräfte versetzen die Israeliten in einen Zustand zustimmenden Ergriffenseins. Auch uns?

Treten wir einen Augenblick zurück und konzentrieren wir uns auf das, was Valentin de Bologne uns zeigt. Er präsentiert uns Moses ein wenig ratlos. Er sieht uns fast resigniert an, so als bliebe ihm nur zu hoffen, dass wir annehmen, was er uns darreicht. Er vermutet in uns, den Betrachtern des Bilds, Zweifelnde. Die Zehn Gebote werden uns doch tatsächlich immer wieder fragwürdig: manchem, dem wir folgen sollen, kommt uns lebenspraktisch „antiquiert“ und nicht mehr zeitgemäß vor; wir zweifeln unter Verweis auf historische, entmythologisierende Wissenschaftlichkeit an der „wirklichen“ Urheberschaft Gottes und/oder unterziehen dem Dekalog einer aufklärerischer Ideologiekritik. Aber dieses Bild von Mose, seine Erscheinung, vermag uns in anderer Weise zu ergreifen. Er nimmt uns für Mose ein und überzeugt uns, dass Moses es ernst meint, dass es nicht um ihn, sondern um seine Botschaft geht und seine Botschaft eben nicht seine, sondern SEINE Botschaft ist, nämlich die des einen, allmächtigen GOTT, der sich den Menschen und seinem Volk fürsorglich zuwendet.

Wie die übernatürlichen Kräfte, die Gott Moses verleiht, so vermag es Valentin de Bologne mit der Kunst seines „Zauberstabs“, dem Pinsel, Moses eine so strahlende Aussehen zu geben, dass wir von der ernsten Wahrhaftigkeit seiner Person und seines Tuns überzeugt werden. Durch diesen Moses werden wir gemahnt, das ernst zu nehmen, was er uns überbringt. Valentin de Bologne gelingt es, dem übernatürlichen Geschehen der Offenbarung mit natürlichen Mitteln, Pinsel und Farbe auf Leinwand, eine übernatürliche Kraft zu verleihen.

Die Kunst und der Künstler, Valentin de Bologne, stehen in der Tradition Mose. Er vermittelt Einsicht. er zeigt uns etwas, auf das wir uns verstehen müssen. Der Künstler (die Kunst) kann Wunderliches vollbringen. Die Kunst erklärt nichts, sie ergreift. Wir müssen uns auf das Gezeigte unseren eigenen Reim machen. Das Kunstwerk versetzt uns in eine Stimmung, die uns einnimmt und auf etwas öffnet, das „über uns hinaus“ geht. Und nach Robert Spaemann sind Kunst und Philosophie „Schritte über uns hinaus[4], die uns zum Kern unseres Daseins als Personen führen. Das hat vermutlich auch Valentin de Bologne zurecht so gesehen.

 

[1] Ex 20, 2-8.

[2] So z.B. Exodus 4, 1: „Und Moss antwortete und sprach: Aber siehe, sie werden mir nicht glauben und nicht auf meine Stimme hören; denn sie werden sagen: Jehova ist dir nicht erschienen.“ Woraufhin Gott ihm die Macht demonstriert, die er ihm mittels seines Stabes gibt. Und Exodus 4, 10ff: „Und Mose sprach zu Jehova: Ach, Herr!, die bin kein Mann der Rede…“ Jehova aber beharrt darauf, dass er ihm die Kraft gegen wird, die die Israeliten überzeugen wird: „Und nun gehe hin, und ich will mit deinem Munde sein und dich lehren, was du reden sollst… Und diesen Stab sollst du in deine Hand nehmen, mit welchem du die Zeichen tun sollst.

[3] Das ist die seit Platons Euthyphron immer wieder verhandelte Alternative: cf. PzZ Wissen, was man meint. 

[4] So der Titel des ersten Bands seiner gesammelten Reden und Aufsätze: Robert Spaemann, Schritte über uns hinaus, Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd 1, 2010.