Molières Kissenschlacht

Lesedauer 4 Minuten

Wie immer geht alles wild durcheinander. Wenn Wahrscheinlichkeit des Handlungsablaufs und Plausibilität der Geschehnisse Qualitätsmerkmale für Komödien sind, dann dürfte es „Der Eingebildete Kranke“ nicht zum Theaterklassiker gebracht haben. Nicht die Vielschichtigkeit der Charaktere, vielmehr ihre Überzeichnung und die parodistische Pointierung sind die Stärke des Balletstücks Molières. Der Herr des Hauses (Argan) glaubt sich seit Jahren schwer krank und bestimmt damit das Leben des Hauses. Seine zweite, deutlich jüngere Frau (Béline) heuchelt liebende Fürsorge und hat ihn wohl nur geheiratet, weil sie auf sein baldiges Ableben und eine reiche Erbschaft hofft. Allerdings muss sie verhindern, dass die zwei Stieftöchter (Angelique und Louison) verheiratet werden und Kinder bekommen. Sie möchte sie deshalb ins Kloster schicken. Argan dagegen spekuliert darauf, sich die horrenden Kosten für Arzt und Arzneien, die er zu benötigen glaubt, durch einen Schwiegersohn zu ersparen, der selbst Arzt ist. Also versucht er seine ältere, heiratsfähige Tochter an den Sohn des Arztes zu verkuppeln, der – was soll er auch sonst tun? – selbst wieder Arzt geworden ist (Molière gibt beiden den Namen Diafoirus). Das Arztsöhnchen ist so beschränkt wie der Vater ehrsüchtig und die Tochter liebt einen anderen. Das Spiel nimmt seinen Lauf. Die Regie übernimmt das Dienstmädchen (Toinette), die am Ende das Schlimmste verhindern kann. Alles wird dabei auf den Kopf gestellt, der Herr wird verlacht, die Dienstbotin wird zum Herrn. Sie bestimmt das Schicksal des Hauses, in dem Heuchelei und Fürsorge, Lüge und Wahrheit, Phantasie und Wirklichkeit kaum mehr zu unterscheiden sind.

Wirklich krank?

Sind Sie wirklich krank?“ lässt Molière sie fragen. Argan reagiert erwartungsgemäß empört und Toinette „Gut denn, Herr Argan, Sie sind also krank. … Ja, ja. Sie sind schwer krank, …, und kränker als Sie denken.[1]

Argan, den die (ärztlich gestützte) Imagination der Krankheit krank macht, nimmt es mit seiner Gesundheit sehr genau: „Herr Doktor, wie viele Salzkörner soll man mir in ein Ei geben“, fragt Argan, und bekommt die überzeugende, ärztliche Antwort „sechs, acht oder zehn, immer gerade Zahlen. In Arzeien dagegen immer ungerade Zahlen.[2]

Die Wahrheit der Posse

Was sich bei der Lektüre nicht ohne Längen liest, entwickelt aber in der Aufführung seine Stärken. Elemente der Farce kommen zum Einsatz: es gibt eine berühmte Kissenschlacht zwischen Argan und Toinette und zweimal wird sich possenhaft totgestellt. Als Toinette in die Rolle eines Arztes schlüpft, um Argan durch die Verstellung auf den richtigen Weg zu bringen, wird ihm die Verstellung beinahe angekündigt[3]:

Toinette: „Herr Argan, draußen ist ein Arzt, der Sie zu sprechen wünscht.“
Argan: „Was denn für ein Arzt?“
Toinette: „Ein heilkundiger Arzt.“
Argan: „Wer ist er, frage ich.“
Toinette: „Ich kenne ihn nicht. Aber er sieht mir so ähnlich wie ein Wassertropfen dem andern …“

Als Toinette in schlechter Arztverkleidung eintritt ist Argan von der angekündigten Ähnlichkeit überrascht („Bei Gott, Toinette, wie sie leibt und lebt!“), aber die Dankbarkeit, wieder ärztlichen Beistand zu haben, lässt Zweifel nicht aufkommen. Aber Moliere will das Spiel endgültig zur Farce treiben. Nach nur einem Satz lässt er Toinette wieder verschwinden: „Würden Sie mich bitte auf einen Augenblick entschuldigen. Ich habe vergessen, meinem Diener einen Auftrag zu erteilen. Ich bin gleich wieder da.“ Toinette verlässt als vermeintlicher Arzt das Zimmer, um einen Moment später ungerufen wieder als Dienstmädchen einzutreten:

Toinette: „Was wünschen Sie, Herr Argan?“
Argan: „Wieso?“
Toinette: „Haben Sie nicht gerufen?“
Argan: „Ich? Nein.“

Sie verlässt das Zimmer, um umgehend als Arzt wieder einzutreten. „Hätte ich sie nicht alle beide mit eigenen Augen gesehen, so würde ich glauben, es sei ein und dieselbe Person. … Ich hätte mich jedenfalls bestimmt täuschen lassen und hätte geschworen, es sei derselbe Mensch.“ 

Der Arzt ist ein Arzt weil er ihn spielt und er ist gut, weil er es gut behauptet. Zweifel Argans, wie der Arzt so jung noch, schon so erfahren sein könne, zerstreut er mit der absurden Versicherung, er sei ja gar nicht mehr jung, tatsächlich sei er schon 90 Jahre alt. Dass er so jung geblieben sei, ist eben das Ergebnis seiner Kunst.

Das Verbrechen zu zweifeln

Historisches Klistier WikiCommons

Beralde, Argans Bruder, möchte ihn vom wahren Charakter seiner Krankheit und dem Unsinn der medizinischen Behandlung überzeugen. Er dient als Molieres Sprachrohr bei der Verhöhnung der Medizin.[4] Aber auch der Bruder kann Argan nicht „heilen“. Freilich führt das Gespräch dazu, dass Argan einen verschriebenen Einlauf verpasst. „Das ist ja eine unerhörte Kühnheit“, schreit der Arzt, „eine befremdliche Auflehnung eines Kranken gegen seinen Arzt! … Ein schändliches Attentat auf die medizinische Wissenschaft! … Eine Fakultätsbeleidigung, ein Verbrechen, das nicht schwer genug bestraft werden kann!

Ja, so standen die Dinge in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. Gibt es wirklich Gründe, Molières Malade Imaginaire heute noch aufzuführen? Wir können heute ja ziemlich klar sagen, was es mit unseren Krankheiten auf sich hat. Dafür gibt es schließlich Tests und Labors. Ich jedenfalls hab gelacht und mir dabei einiges gedacht. Mal seh’n wie’s Ihnen geht?! Die nebenstehende Aufführung ist jedenfalls sehenswert.

 

[1] I, 5.

[2] II, 6.

[3] III, 7-9.

[4] Moliere spielt dabei mit einer („modernen“?) Selbstreferenz: Im Lustspiel lässt er Bérald zu Argan sagen: „Am liebsten hätte ich die zu diesem Zweck [ihn von der Beschränktheit der Ärzte zu überzeugen] in eines von Molières Lustspielen mitgenommen. Da hättest du dich gleichzeitig aufs vergnüglichste unterhalten.“ Molière schrieb gegen Heuchelei. Und er mochte die Ärzte nicht. Aus heutiger Sicht verständlich. Was sich damals als medizinische Wissenschaft gab war wohl nicht so weit von Quacksalberei entfernt. Urinbeschau, Einläufe und Aderlass waren die herrschenden ärztlichen Kunstgriffe. Aber wie der Hunger der beste Koch ist, so verschaffte die Angst vor Krankheit auch diesen Ärzten ihren Beruf.

Schreibe einen Kommentar