Menon

Lesedauer 37 Minuten

Th.E.,
dem kenntnisreichen Anreger
zum Dank.

Ich benutze hier die eindrucksvolle Übersetzung von Theodor Ebert von 2019

Kannst du mir sagen, Sokrates, ob die Tugend lehrbar ist? Oder ist nicht lehrbar, kann aber eingeübt werden? Oder kann sie weder eingeübt noch gelernt werden, sondern stell sich bei den Menschen von Natur aus ein oder auf sonst irgendeine Art und Weise?[1]

Für moderne Ohren mag diese Frage, mit der der platonische Dialog Menon beginnt, etwas aus der Zeit gefallen klingen. Wer spricht heute noch von Tugenden? Für den wohlhabenden und aus besten Kreisen stammenden Menon,[2] nach dem der Dialog benannt ist, war der „Erwerb“ der Tugend etwas, das unmittelbar mit dem „Erwerb“ von Macht und Einfluss, also mit Erfolg verbunden war. Tugend galt als die Fähigkeit, sein Leben erfolgreich zu führen und sich in politischen Angelegenheiten auszuzeichnen. Das wollte man „haben“.

Menon stellt seine Frage differenziert: ist sie lehrbar und wenn nicht, kann sie dann eingeübt werden? Oder hat man sie einfach von Natur und also z.B. durch adlige Geburt. Er will sich damit als jemand zeigen, der mit den philosophisch-pädagogischen Fragen durchaus vertraut ist. Deshalb muss man die Frage vielleicht betont als „Kannst Du mir sagen“, wie man in den Besitz der Tugend kommen kann – und zwar so, dass, Menon, sicher sein kann, dass es sich so verhält. Wenn Tugend lehrbar ist, dann würde sich die Investition in einen Lehrer durchaus lohnen. Denn von solchen Lehrern, den Sophisten, sprach man damals viel. Und es wird schnell klar, dass Menon von Gorgias, einem der großen Sophisten ziemlich beeindruckt ist. Allerdings dürfte er auch wissen – und die Leser des Dialogs tun es sicherlich –, dass Sokrates zwar in einer gewissen Nähe zu den Sophisten gesehen wird, seine Philosophie aber von ihrer Sophia doch abzugrenzen sucht. Also kann man sie erwerben? Was meint die Philosophie dazu?

Die Frage, wie wir Tugend erlangen können,[3] beantwortet die Philosophie mit der Gegenfrage, was wir denn darunter überhaupt verstünden. Was soll erworben werden? Sokrates will wissen, worauf die Frage abzielt und um was es Menon geht. Sokrates geht dabei einen komödiantischen Umweg: Er wundert sich, dass der Thessalier Menon diese Frage überhaupt in Athen beantwortet zu bekommen hofft. Die Thessalier, meint er mit genüsslicher Ironie, sei ursprünglich ein robustes Reitervolk gewesen, das viel Reichtum aufgehäuft hat. Nun habe es sich selbst der Wissenschaft zugewandt. Das sei Gorgias zu verdanken: „Er hat euch auch die Gewohnheit beigebracht, auf Fragen selbstsicher und souverän zu antworten, wie es Leuten zukommt, die über Wissen verfügen.[4]

In Athen dagegen herrsche nun „eine Art Wissensdürre“ (αὐχμός τις τῆς σοφίας). Wenn er irgendeinen Athener ernsthaft nach dem Erwerb der Tugend frage, werde er nur Lachen ernten. Hier wisse man nicht einmal, „was die Tugend ist“.[5] Und Sokrates selbst sieht sich auch „genau in dieser Lage“ und behauptet, dass er „von der Tugend überhaupt nichts weiß“.[6] Deshalb könne Sokrates Menons Frage auch nicht beantworten. „Von einer Sache aber, von der ich nicht weiß, was sie ist, wie könnte ich da wohl wissen, welche Eigenschaften sie hat?“ Wer Menon „überhaupt nicht kennt“, wie könnte der – fragt Sokrates suggestiv – wissen, „ob er schön oder reich oder auch von Adel ist oder das Gegenteil von all dem?

Das scheint plausibel. Wissen Sie, ob Xanxantus blau sind und schwimmen können? Wer – wie Sie lieber Leser – von Xanxantus „überhaupt nichts weiß“, der kann über Xanxantus tatsächlich – das ist ziemlich trivial – nichts Verlässliches sagen.[7] Er könnte „etwas“ und sei es noch so vage darüber gehört haben und sich nun daran erinnern, z.B. dass Xanxantus wertvoll und äußerst selten sein sollen. Das würden wir dann wohl kaum Wissen nennen und auch nichts, was Rückschlüsse auf ihre Farbe oder Schwimmfähigkeit zuließe. „Sind das denn Tiere?“ – „Keine Ahnung.

Nun „weiß“ ich schon, wer Bill Gates ist, obwohl ich ihn persönlich nicht kenne und ich könnte ihn – unter bestimmten Umständen – auch erkennen, wenn ich ihn träfe. Jedenfalls „weiß“ ich, dass er einigermaßen reich ist. Die zeitgenössischen Leser des Menon werden von Menon gehört haben, nach dem „Zug der Zehntausend“ war er so etwas wie ein B-Prominenter. Sie „wussten“ um den überaus brutal und skrupellos agierenden Heerführer, der von den Persern schließlich nach langer Folterhaft umgebracht wurde, ohne ihn freilich zu kennen oder erkennen zu können. Nur wer „überhaupt“ nichts von ihm gehört hat, kann nicht wissen, dass er nicht gerade „edel und gut“ war – aber bei Sokrates nun danach fragt, wie man die Tugend erwerben kann.[8]

Ist es aber sonderlich plausibel, dass Sokrates über Tugenden gar nichts weiß? Und er will auch „noch keinen anderen getroffen [haben], der es [was Tugend ist] wusste“?[9] Menon wendet ein, er habe doch Gorgias getroffen. Das schon, aber Sokrates, gibt vor, sich nicht mehr erinnern zu können, „was er gesagt hat“. Deshalb bittet er Menon, ihm in Erinnerung zu rufen, was Gorgias zur Tugend meine. Das würde sich ja wohl auch mit dem decken, was Menon selbst darüber denke.

Menon erfüllt den Wunsch. Er meint, die Sache sei ja auch gar nicht schwer, es gäbe ja eine Unzahl Tugenden, von denen wir doch (im Wesentlichen) wüssten, was ihre Träger auszeichnen lässt. Die „Tugend des Mannes“ (ἀνδρὸς ἀρετή) z.B. besteht darin, „sich um die Angelegenheiten der Polis zu kümmern und dabei seinen Freunden zu nützen, seinen Feinden zu schaden und darauf zu achten, dass ihm selber nicht geschadet wird“. Die „Tugend der Frau“ (γυναικὸς ἀρετή) dagegen richtet sich auf das Haus, es gut zu verwalten, „alles im Hause in Stand zu halten und ihrem Mann zu gehorchen“. Aus Sicht Menons wäre jetzt also z.B. für die Tugend des Mannes, von der nun gesagt wurde, was sie ist, zu zeigen, wie sie Männer erwerben können, ob also die Fähigkeit, sich um die Angelegenheiten der Polis so zu „kümmern“,[10] lehrbar ist oder anders erworben werden muss. Sokrates bestreitet nun nicht, dass die beiden Tugenden richtig beschrieben sind – das wird er by the way kritisieren. Er moniert die Vervielfältigung der Tugenden – Menon spricht von einer „Unzahl von Tugenden“, „denn für jede Tätigkeit und für jedes Lebensalter gibt es für jeden von uns bei jeder Aufgabe die entsprechende Tugend“ – wo Sokrates doch nach danach fragte, was all diese Tugenden zu Tugenden macht, also „was Tugend ist“, nicht welche und wie viele es gibt.[11]

Während es Sokrates schwierig zu sein scheint, das formgebende Eine (εἶδος) in dem Vielen zu erkennen, gilt die „Unzahl der Tugenden“ Menon gerade als Beleg dafür, nicht in Verlegenheit zu kommen (οὐκ ἀπορία), sagen zu können, was die Tugend ist.[12] Und doch wird ihn Sokrates in die Aporie führen. Menon hat die sokratische Frage gar nicht verstanden und ist nicht in der Lage, Tugend angemessen zu definieren.

Menon unternimmt nach einigem Hin-und-her zwei Versuche, die alle scheitern. Beim ersten Versuch macht Menon deutlich, wie überflüssig er die sokratische Absicht hält, die einheitliche „Gestalt[13] der Tugend anzugeben: die sokratische Bitte, sich „zu erinnern, was Gorgias sagt, dass sie [die Tugend] sei, und du mit ihm“ antwortet Menon genervt: „Was denn sonst, als fähig zu sein, über die Menschen zu herrschen? Wenn du schon nach etwas suchst, was einheitlich für alle Fälle passt.[14] Das ist nach dem „Vorspiel“, in dem neben der Tugend des Mannes und der Frau auch von der von Kindern und Sklaven die Rede war, reichlich absurd:[15] Sklaven also sollten sich darin auszeichnen, „über die Menschen zu herrschen“?

Der zweite Versuch von Menon beruft sich vorsichtshalber schon mal auf die Dichtung: „Sich an Schönem freuen und dessen fähig zu sein“,[16] zitiert Menon und legt es sich in seinem Sinne zurecht: „Wenn man Schönes begehrt, es sich zu verschaffen“.[17] Es kommt also aufs Beschaffen an (πορίζεσθαι). Was immer man als schön betrachtet, es soll in Besitz gebracht werden.

Sokrates geht hier einen Umweg, der sich erst im zweiten Teil der Argumentation als sinnvoll erweist: er thematisiert nicht das Beschaffen, sondern den Gegenstand, der beschafft werden soll. Das Schöne könne als gut gelten und damit als etwas, das alle „immer schon“ erstreben, auch wenn sie sich gar nicht selten darin täuschen, worin es besteht. Im Das-Gute-Wollen liegt gar keine spezifische Leistung, die einer Tugend bedürfte – das Schwierige ist, zu wissen, was wirklich gut ist. Aber darum ging es Menon gar nicht. Verstehen wir Menons „Definitionsvorschlag“ so, dass er eine Subjunktion impliziert – wenn man Schönes begehrt (und im Besitz der Tugend ist), dann kann man es sich verschaffen –, dann ist und bleibt die Aussage auch dann wahr, wenn der im Antezedens formulierte Sachverhalt nicht zutrifft, wir also nichts Schönes begehren.[18] Der argumentativ deutlich unterlegene Menon aber lässt sich auf aporetische Abwege bringen. Was begehrt wird, wird als Gutes begehrt. Und das gilt auch fürs Beschaffen. Das Beschaffen muss selbst rechtmäßig sein und „gut“. Das hatte Menon gar nicht im Sinn, sieht sich jetzt aber gezwungen, dem zuzustimmen. Das, was die Tugend bestimmen sollte, braucht den Rückgriff auf andere Tugenden (z.B. die Gerechtigkeit) und schon wieder wurde aus der einen Tugend viele und Menons Vorschlag mit den Mitteln des elenchos widerlegt.[19]

Zu einem weiteren Definitionsversuch sieht sich Menon außerstande: er, der schon so oft vor vielen Zeugen erfolgreich über Tugend gesprochen haben will, sei nun von Sokrates paralysiert worden wie es bei der Berührung mit Zitterrochen geschehe. Nicht seine Unfähigkeit, sondern der geheimnisvolle Einfluss des Sokrates führen in die Aporie.[20]

Das könnte – wie bei den aporetischen Dialogen (z.B. Laches, Charmides oder Euthyphron) – das Ende des Menon sein: vermeintliches Wissen wurde als vermeintliches offenbar. Im Menon wird die Aporie aber zum Ausgangspunkt für die weitere Untersuchung und führt uns zu zwei Theoriestücken, die seither die Gemüter bewegt haben: das vieldiskutierte Menon Paradox und die berühmte, äußerst wirkungsmächtige Wiedererinnerungslehre.

Menons Paradox

Sokrates beteuert gegenüber Menon, dass er selbst in keiner anderen Lage sei: „Denn es ist ja nicht so, dass ich alle anderen dazu bringe, nicht mehr weiter zu wissen, während ich selbst einen Ausweg weiß. Vielmehr bringe ich als jemand, der selbst nicht mehr weiter weiß, alle anderen dazu, nicht mehr weiter zu wissen.“ Gleich zu Beginn des Gesprächs hatte Sokrates ja behauptet, nicht zu wissen, was man unter Tugend zu verstehen habe. Und nun habe er Menon eben in die gleiche Lage gebracht: „Früher allerdings hast du es vielleicht [sic!] einmal gewusst, bevor du mit mir in Berührung kamst, jetzt allerdings bist du einem ähnlich, der es nicht weiß.[21] Die Aporie ist ein großer Gewinn: in ihr wissen wir uns als nicht wissend, wir wissen, dass wir uns verrannt haben und nicht wissen, auf welchem Weg wir unterwegs sind. Menon fand es zunächst lächerlich, dass Sokrates vorgab, von der Tugend „überhaupt nichts“ zu wissen. Er stellt nun fest, dass auch er nicht angeben kann, was unter Tugend zu verstehen sei. Die Aporie ist ein wichtiger Erkenntnisschritt und drängt nun zu weiterer Untersuchung.

Der will sich Menon allerdings nicht stellen. Unter Rückgriff auf Sokrates Behauptung, nicht zu wissen, was Tugend ist, versucht er sich mit dem sogenannten Menon Paradox die Aussichtslosigkeit einer weiteren Behandlung der Frage zu zeigen: „Und wie willst du denn das suchen, Sokrates, von dem du überhaupt nicht weißt, was es ist? Denn als Ding mit welcher Beschaffenheit unter den Dingen, von denen du dies nicht weißt, willst du es dir vorstellen, um es zu suchen? Und selbst wenn du genau auf das Gesuchte triffst, wie willst du wissen, dass dieses das dir unbekannte Ding ist?[22]

Das sokratische Nicht-Wissen über die Tugend hatte den heuristischen Zweck, die Beantwortung der Frage, wie die Tugend zu erwerben ist, aufzuschieben und zunächst zu klären, was Tugend eigentlich und wesenhaft sei. Das sokratische Eingeständnis sollte gerade zur gemeinsamen Untersuchung motivieren. Menon dagegen benutzt nun das Nicht-Wissen zur Flucht. Sokrates spitzt Menons Einwand entsprechend zu: „Ich verstehe, was du sagen willst, Menon. Siehst du, was für ein eristisches Argument du da ausspinnst, dass es also einem Menschen weder möglich ist, zu suchen, was er weiß, noch, was er nicht weiß; denn er würde ja wohl nicht suchen, was er weiß, – denn er weiß es ja, und für so jemanden ist eine Suche überflüssig – noch, was er nicht weiß, – denn er weiß ja nicht, wonach er suchen soll.[23]

Anamnesis

Das „eristische Argument“ ist nach Menons Geschmack. Er findet es ausgesprochen „schön formuliert“. Sokrates widerstrebt es dagegen, dem Argument zu folgen. Er beruft sich dabei auf „Priester“ und „Priesterinnen“, „denen daran gelegen ist, von den Dingen, die sie verwalten, Rechenschaft geben zu können (λόγον διδόναι)“.[24] Auch Pindar und einige andere Dichter hätten Vergleichbares gesagt.[25]Was sie sagen, ist dies. Prüfe aber, ob sie dir die Wahrheit zu sagen scheinen. Sie sagen nämlich, dass die Seele des Menschen unsterblich ist …[26] Die ausdrückliche Aufforderung zur Prüfung darf uns stutzig machen. Insbesondere ist es nicht besonders naheliegend, dass sich der Ausweg aus dem angeführten Dilemma gerade durch die Unsterblichkeit der Seele auftun könnte. Es braucht jedenfalls noch einige zusätzliche Annahmen, um irgendwie plausibel scheinen zu lassen. „Da die Seele also unsterblich ist [d.i. wenn man das voraussetzt] und schon oft wieder geboren wurde, [und] da sie gesehen hat, was alles in dieser und in jener Welt ist, gibt es nichts, was sie nicht in Erfahrung gebracht hat. Daher ist es kein Wunder [!], dass es für die Seele möglich ist, sich, was die Tugend angeht oder was sonst immer, an das zu erinnern, was sie schon einmal wusste.[27] Aus all dem wird gefolgert – ohne (weitere) Wunder annehmen zu müssen –, dass „das Suchen und das Lernen insgesamt Wiedererinnerung“ (τὸ γὰρ ζητεῖν ἄρα καὶ τὸ μανθάνειν ἀνάμνησις ὅλον ἐστίν)[28] ist.

Das alles wackelt gewaltig. Menon will das natürlich – wie wir alle – genauer wissen. Aber auch die Nachfrage entbehrt nicht der Komik: Er hat verstanden, dass wir gar nicht lernen, sondern „dass das, was wir lernen nennen, Wiedererinnerung“ sei und möchte nun „belehrt“ werden, „dass es sich so verhält“.[29] Jedenfalls möchte er „dargelegt“ bekommen (ἐνδείξασθαι), dass es sich so verhält. In Folge führt Sokrates ihm nun vor (ἐπιδείκνυσθαι), wie ein ungebildeter Sklave Menons, der niemals in Geometrie unterrichtet wurde, durch bloßes Fragen und ohne ausdrückliche Belehrung, doch in der Lage ist, eine nicht triviale geometrische Aufgabe zu lösen, nämlich ein Quadrat mit doppelter Fläche über der Diagonale des Ausgangsquadrat zu konstruieren.[30]

Sokrates geht es dabei um zweierlei:

(1) er führt den Sklaven im ersten Schritt zum Eingeständnis des Nicht-Wissens: der Sklave hatte zunächst gemeint, er wüsste die Lösung, und glaubte die Verdoppelung der Fläche durch eine Verdoppelung der Seitenlänge erreichen zu können. Das erwies sich aber natürlich als falsch.

(2) Die Erfahrung der Aporie ist dann der Ausgangspunkt für die Lösung, die der Sklave „aus sich selber heraufholt“ (ἀναλαβὼν αὐτὸς ἐξ αὑτοῦ).[31] Und: „Das Selbst-aus-sich-selber-ein-Wissen-Heraufholen, ist das nicht Sich-Wiedererinnern“.[32] Was er nun für die Geometrie hat zeigen können, das gelte „in all den anderen Wissenschaften ebenso“.[33]

Geometrie-Stunde – 1. Versuch:

Geometrie-Stunde – 3. Versuch (der zweite Versuch hatte es mit Seitenlänge drei versucht mit der Hypothese die gesuchte Länge müsse zwischen 2 und 4 liegen):

Wozu taugt die „Anamnesislehre“?

Menon ist spürbar beeindruckt und stimmt zu. Er hätte es sich wohl genauer überlegen sollen. Seither gilt die „Anamnesislehre“ als platonische Theorie, die aufs Beste mit seiner Ideenlehre zu harmonieren scheint. Aber lassen wir einmal – fürs Erste – dahingestellt, ob die sogenannte Wiedererinnerungslehre eine „Theorie“ Platons ist – er lässt sie jedenfalls von Sokrates im Gespräch mit Menon vortragen und hat dort offenbar die Funktion, Menon davon zu überzeugen, dass sein ins Spiel gebrachte Paradox nicht gilt und eine gemeinsame Untersuchung tunlich ist.

Wenn wir die „Priesterinnen“ und „Priester“ zugeschriebene Lehre dekontextualisieren, also jenseits des Gesprächskontextes auf ihre Gültigkeit befragen, dann zeigen sich schnell offensichtliche Schwierigkeiten dieser „Lehre“. Die vermutlich größte ist die Unstimmigkeit, jegliches Lernen auf Wiedererinnerung zurückzuführen. Dann nämlich hätte die Seele auch in ihren vorhergehenden Verkörperungen nichts lernen können, während nun Sokrates ausdrücklich davon spricht, dass die Seele in ihren vielfachen Wiedergeburten hat sehen können, „was alles in dieser und in jener Welt ist“ und „es nichts gibt, was sie nicht in Erfahrung gebracht hat“.[34] Woran sie sich jetzt erinnert, das hat sie irgendwann einmal „gelernt“ und die Behauptung, alles Lernen sei Wiedererinnern, darf deshalb als widerlegt gelten.

Wir erinnern uns im Übrigen nur, wenn wir um unser Erinnern wissen, also wissen oder zumindest glauben, es schon einmal „gewusst“ zu haben.[35] Was wir gänzlich vergessen haben, an das erinnern wir uns auch nicht und das gilt auch dann, wenn uns z.B. Freunde versichern, wir hätten das schon einmal gewusst. Wir erinnern uns dann vielleicht tatsächlich, es schon einmal gewusst zu haben – der „Zweiterwerb“ des nun wieder Gewussten war aber dennoch keine Erinnerung. Der Sklave macht nun nicht den Anschein, dass er sich erinnert und bestätigen könnte, schon einmal gewusst und nur für eine Zeit vergessen zu haben, dass das Quadrat über der Diagonalen ein Quadrat mit doppeltem Flächeninhalt ist. Er äußert nicht, dass er sich nun an das erinnere, was er schon mal gewusst, zwischenzeitlich aber nicht mehr präsent hatte.

Im Übrigen lässt „Sich-Wiedererinnern“ vielleicht anschaulich als eine Form des „Selbst-aus-sich-selber-ein-Wissen-Heraufholen“ beschreiben, ist aber nicht mit ihm gleichzusetzen wie das Sokrates ausdrücklich tut.[36] Assoziationen sind keine Erinnerungen. Und selbst dann wäre nicht gezeigt, was zu zeigen wäre: würde der Sklave sein Lernen als Wiedererinnerung verstehen, dann könnten wir die Lösung (bestimmter) geometrischer Aufgaben als Erinnerung deuten, hätten damit aber nichts für andere Wissensgebiete, also z.B. für die Frage nach dem Erwerb der Tugend gewonnen.[37] Das Argument könnte also nur zeigen, dass das Menon Paradox nicht für alle Formen des Wissens gilt – und Sokrates kann damit dazu motivieren, die gemeinsame Suche nach dem, was Tugend ausmacht, fortzusetzen.

Aber auch das wackelt gewaltig. Denn die Vorführung unterscheidet sich von der Ausgangslage, in der sich Sokrates selbst sieht, in einem entscheidenden Punkt: Sokrates gibt vor, nicht zu wissen, was Tugend ist – er sieht sich selbst als Opfer der lähmenden Wirkung des Argumentations-Zitterrochens. Die „Erinnerung“ des Sklaven aber, das ist augenfällig, konnte nur durch die richtigen Fragen gelingen, die den Schüler-Sklaven zur Lösung geführt haben. Sein Wissen muss eben „durch Fragen aufgeweckt“ werden,[38] die beim Fragenden das Wissen voraussetzen: es ist ein Lehrbeispiel und wird traditionell auch als „Geometrie-Stunde“ bezeichnet.

Wie schwerwiegend ist das Menon Paradox?

Wir können die bisherigen Überlegungen sehr zurückhaltend vielleicht so zusammenfassen: man muss die Anamnesislehre nicht vorbehaltlos plausibel finden. Sie sollte aber gerade die Plausibilität sichern, dem Menon Paradox entgehen zu können. Wie die „Priesterinnen“ und „Priester“ für ihr Tun mit ihrer Hilfe „Rechenschaft geben“ (λόγον διδόναι), so sollte sie zeigen, dass das Streben nach Wissen nicht selbstwidersprüchlich und sinnlos ist. Muss dazu tatsächlich ein metaphysisches Schwergeschütz mit allerlei Unwägbarkeiten aufgefahren werden, um dem Menon Paradox zu entgehen? Dann dürfte man vielleicht annehmen, dass Sokrates/Platon in ihm einen gewichtigen Einwand gesehen hat, überhaupt Philosophie zu treiben, der nur mit einer so anspruchsvollen Behauptung wie die der Unsterblichkeit der Seele pariert werden kann. Das scheinen erstaunlicher Weise einige Platon-Interpreten auch tatsächlich so zu sehen und billigen dem Menon Paradox einen systematisch bedeutsamen Stellenwert zu.

Etwas zu finden, von dem man schlechterdings nichts weiß, ist tatsächlich unmöglich. Wer sucht, muss etwas suchen und damit eine ungefähre Vorstellung davon haben, was er finden will. Begegnet ihm das, was er sucht, dann muss er es als das Gesuchte erkennen. Wir suchen nach etwas Bestimmten unter Angabe von spezifischen Eigenschaften, die das Gesuchte auszeichnen. So steht der Name für eine bestimmte Person. Wer allerdings in Nürnberg nach Heinrich Leitner sucht, wird vielleicht auf mehrere stoßen um dann festzustellen, das „the one and only“, den er gesucht hat, nicht allein durch den Namen identifiziert werden kann. Wer etwas oder jemanden sucht, der will etwas, umwillen dessen er das Gesuchte sucht. Der falsche HL hilft ihm nicht weiter.[39] Das kann dazu führen, dass der Suchende in der Gegenwart des Aufgefundenen versteht, dass er „das Falsche“ gesucht hat und deshalb seine Suche verfeinert oder korrigiert. Eine polizeiliche Tätersuche orientiert sich an den Beschreibungen der Zeugen, denen bei der Gegenüberstellung dann einfällt, dass der Täter doch größer war und sich anders bewegt hat.

Menon – und vor ihm Sokrates – orientiert sich stark an der Suche von „Gegenständen“ oder Personen: man sucht die verlegte Brille oder auf dem Spielplatz in einem Haufen von Kindern das eigene. Man hat sie vor dem geistigen Auge und erkennt sie natürlich, wenn man sie tatsächlich sieht. Etwas anders ist es, wenn uns ein Ausdruck oder ein Name entfallen ist. Wenn wir ihn dann hören oder er uns anderweitig in den Sinn kommt, erkennen wir ihn meist sofort als den Gesuchten. Das mag „irgendwie“ verblüffend sein, aber wir kennen das. Wie das „funktioniert“ steht auf einem anderen Blatt und ist nicht Gegenstand der Untersuchung. Es ist nicht wirklich strittig, dass wir etwas Gesuchtes finden können. Und natürlich machen wir die Erfahrung, etwas (Neues) zu lernen. Die Paradoxie ist künstlich – wie die meisten solcher.[40] Es sind Scheinprobleme, die lebensweltlich keine Rolle spielen. Wir schmunzeln über ihre Konstruktion. Solche paradoxe Dilemmata sind unter „philosophischen“ Zauberern sehr beliebt: sie verhelfen zu kopfschüttelnder Aufmerksamkeit. Natürlich „wissen“ alle, dass wir etwas suchen und finden können. Viele finden es aber als eine nette, herausfordernde Knobelaufgabe, den Fehler zu finden, der in solchen Paradoxien irgendwo „eingebaut“ ist. Die Auflösung der Paradoxie ist also kein Sachproblem (dass wir Suchen können, steht ja außer Frage), sondern ein Sprachproblem: woran liegt es, dass uns, so formuliert, das Suchen fragwürdig zu sein scheint?

Tatsächlich ist die „Auflösung“ ja so trivial, dass ich schon wieder befürchte, es vielleicht doch nicht richtig verstanden zu haben. Denn nichts von dem Gesuchten zu wissen ist eben etwas anderes als nicht alles von ihm zu wissen. Wer von etwas gar nichts weiß, sucht natürlich nichts und kann selbstredend auch nichts finden – oder er hat in sophistischer Spielart bereits gefunden, was er gesucht hat, nämlich nichts. Das Suchen ist motiviert von und ausgerichtet auf etwas. Nichts suchen ist kein Suchen.

Zu wissen, was ich suche, ist ja etwas anderes als ein (vollständiges) Wissen von dem gesuchten Gegenstand zu haben. Ich wäre wohl irritiert, wenn ich während der Suche nach meinem Auto, das ich irgendwo in einer Seitenstraße geparkt habe, gefragt würde, ob ich denn wisse, was ich überhaupt suche. „Na Du bist gut, ich weiß doch wie mein Auto aussieht.“ – „Und weißt du auch welchen Katalysator es eingebaut hat und wie der funktioniert?“ Eher nicht. Aber das muss ich auch nicht wissen, um mein Auto zu suchen.

Wer wie Sokrates danach „sucht“, was Tugend ist, der möchte z.B. wissen, was es heißt, einen Gewinn gerecht zu teilen. Er hat ein Problem, das sich im Laufe der Suche nach einer Lösung anders darstellen mag als zu Beginn – dann ändert sich halt das Gesuchte. Wer die Lösung einer Rechenaufgabe oder wie im Falle von Menons Sklaven eine geometrische Konstruktion „sucht“, der weiß zwar suchend noch nicht die Lösung, aber doch ziemlich genau, was er finden will.

Es ist deshalb eine Überzeichnung, wenn das Menon Paradox allzu ernst genommen wird. Menon bringt es sehr unbeholfen vor,[41] um aus der Aufgaben entlassen zu werden. „Ich verstehe, was du sagen willst, Menon.“ Sokrates nämlich versteht das vermeintlich systematische („philosophische“) Argument als eine Ausflucht, sich dem weiteren Gespräch und insbesondere der Definitionsaufgabe zu entziehen.[42] Das ist für ihn nicht ohne Peinlichkeit, hatte er doch die Einfachheit der Aufgabe betont und die Bravour, mit der Gorgias sie lösen konnte.

Ernüchterndes Zwischenergebnis

Wir stehen jetzt vor einem merkwürdigen Zwischenergebnis: das von Menon ins Spiel gebrachte Paradox hat wenig systematische Kraft (ist also kein großes Ding), sondern eher eine leicht durchschaubare Sprachzauberei, die nur der Ausflucht dient. Und die Paradoxie, die eigentlich keiner großen Widerlegung bedarf, wird mit einer „Lehre“ begegnet, die sich auf „Priesterinnen“ und „Priester“ beruft und alles andere als plausibel ist. Sokrates/Platon krönt das Ganze mit einem logischen Fehler, den man ihm gar nicht zutrauen will – es sei denn, dass er ihn absichtlich vorbringt:

Wenn also stets des Seienden Wahrheit uns in der Seele wohnt, dann ist doch die Seele unsterblich, so daß du mit Zuversicht unternehmen musst, das, was du jetzt nicht weißt – das aber heißt, dessen du dich jetzt nicht erinnerst – zu suchen und in die Erinnerung zurückzurufen.[43]

Lassen wir mal die leicht (?) überhöhte Formulierung „des Seienden Wahrheit“ beiseite, erkennen Sie, lieber Leser, den eklatanten Fehler – oder wollen Sie zukünftig Menon genannt werden? Dass etwas „immer“ mit etwas verbunden ist, „in ihm wohnt“, bedeutet eben nicht, dass es selbst „immer“ ist („und die Wohnung nicht zusammenbricht“). Theodor Ebert formuliert das so: „der Umstand, dass wir immer [so lange wir leben; HL] unseren Kopf auf unserem Rumpf tragen“ garantiert keine „immerwährende Existenz unseres Körpers“.[44] Entfernen wir ihn, hören wir auf zu sein und sind tot.

Menon aber hält das Ganze für „schön gesagt“. Hier stimmt Sokrates ausdrücklich zu: „schön gesagt“ ist es, aber: „Was ich sonst für mein Argument vorgebracht habe, das würde ich nicht wirklich durchfechten wollen. Dass aber die Überzeugung, man müsse suchen, was man nicht weiß, uns besser macht und mannhafter und weniger träge als der Glaube, was wir nicht wissen, das sei weder möglich zu finden noch nötig zu suchen, dafür würde ich wirklich streiten, wie ich nur kann, in Wort und Tat.[45] Sokrates streitet „in Wort und Tat“ dafür, dass es besser ist zu suchen, was man nicht weiß, als zu glauben, das nicht zu können. Für alles andere dafür Vorgebrachte, also die von den „Priesterinnen“ und „Priestern“ und den „göttlichen“ Dichtern vertretene Unsterblichkeit der Seele und der Deutung des Lernens als Wiedererinnern, das würde er „nicht wirklich durchfechten wollen“. Etwas pointiert und zugespitzt formuliert, dient der offensichtliche Fehlschluss „nur“ dazu, „daß du mit Zuversicht unternehmen musst, das, was du jetzt nicht weißt … zu suchen“. Dass die nachweislich Unwissenden aber zu einem beachtlichen Wissensgewinn fähig sind, das konnte er am Beispiel des Sklaven gleichsam „in Wort und Tat“ „zeigen“ (ἐπιδείκνυσθαι). Die Geometriestunde führt vor und braucht eigentlich gar keine Begründung mehr: „Yes We Can!“

Wie also erwerben?

Das Gespräch kann jedenfalls fortgesetzt werden. Menon macht freilich nochmal deutlich, dass es ihm weniger darum gehe, was Tugend ist, sondern ob (und wenn ja wie) sie erworben werden könne. Menon gleicht denen, die Kunst z.B. als Kapitalanlage oder als „symbolisches Kapital“ erwerben wollen, sich aber wenig darum scheren, was das eigentlich ist. Sie verlassen sich drauf, dass andere das wissen. Was immer sie ausmacht, gib‘ sie mir – wenn ich sie prinzipiell haben kann. An etwas, das nicht erworben werden kann, ob Kunst oder Tugend, haben Leute wie Menon kein Interesse.

Nun kann die Frage des Erwerbs durchaus ohne eine abschließende Definition von Tugend untersucht werden. Menon hatte sich vorrangig dafür interessiert, ob sie gelehrt werden kann – oder auf anderem Wege erworben werden muss. Die Untersuchung kann sich z.B. von der „Hypothese“ leiten lassen, dass sie lehrbar ist, und prüfen, ob Tugenden, die Bedingungen erfüllen, die wir an die Lehrbarkeit von etwas stellen.[46]

Lehr- und lernbar ist Wissen, Wissen im weitesten Sinne. Es umfasst auch „praktisches Wissen“, also zu wissen, wie etwas geht. So können wir ein Handwerk „von der Pike auf lernen“: unter sachverständiger Anleitung erwerben wir alles, was wir das Handwerk brauchen. Wenn es solch lehr- und lernbares Wissen gibt, dann wird es auch Schüler und Lehrer geben. Wer etwas weiß, der kann es auch weitergeben. Er kann Gründe geben, die andere überzeugen, oder andere anleiten, es ebenfalls zu können.

Wenn Tugend lehrbares Wissen sein soll, dann müsste es auch Lehrer und Schüler geben.[47] Sokrates macht nun allerdings für sich eine Einschränkung: „Ich habe schon häufig herauszubekommen versucht, ob es für sie Lehrer gibt, aber ich kann beim besten Willen keine ausfindig machen.[48]

Hier führt Platon nun einen weiteren Gesprächspartner ein, nämlich den Athener Anytos, dessen Gast Menon in Athen ist. „Daher trifft es sich auch gut, Menon, dass sich jetzt Anytos hier zu uns gesetzt hat, den wir an unserer Untersuchung teilnehmen lassen wollen.[49] Sokrates stellt Anytos als einen vor, der nach seiner Einschätzung „in dieser Sache zu den Kundigsten“ zählt. Er wird als der Sohn des Anthemion vorgestellt, der als reicher, geschäftstüchtiger Self-Made Man „im Rufe steht, kein arroganter, eingebildeter oder unangenehmer Bürger zu sein“.[50] Anytos, so betont Sokrates, wurde von ihm „gut erzogen und ausgebildet“, „so sieht das jedenfalls die große Masse der Athener“, weshalb sie ihn auch in die höchsten Ämter berufen haben. Es ist schon seltsam genug, dass Sokrates meint, er müsse Menon den Anytos vorstellen, den er doch Menons Gastfreund nennt.[51] Ihn aber „gut erzogen“ zu nennen und sich dabei auf die „große Masse der Athener“ zu berufen ist wirklich befremdlich. Nun sind die zeitgenössischen Leser Platons mit Anytos bestens vertraut: sie kennen ihn als den Hauptankläger im Prozess gegen Sokrates, der schließlich mit dessen Todesurteil endete. Wir dürfen also erwarten, dass Anytos nicht sonderlich gut wegkommt. Und tatsächlich wird von ihm ein ziemlich unsympathisches Bild gezeichnet. Platon lässt ihn mit aggressiver Arroganz agieren. Gerade diesen Anytos als einen Kundigen für den Erwerb der Tugend ist Spiel zu bringen, können wir nicht wirklich ernstnehmen. Mit seiner ignoranten Selbstgefälligkeit ist er der sokratischen Gesprächsführung nicht gewachsen. Von denen, die als „professionelle“ Lehrer der Tugend in Frage kommen, nämlich den Sophisten, weiß er nur, dass er sie aus der Stadt zu jagen gewillt ist und zwar jeden, „der sich mit einer derartigen Beschäftigung abgibt, sei es ein Fremder oder ein Bürger“. Seine Unterredung mit Sokrates endet dementsprechend auch mit einer deutlichen Warnung: „Sokrates, ich denke, du redest recht leichtfertig schlecht über andere Menschen. Ich für meine Person würde dir raten, …, sehr auf der Hut zu sein. Es ist vielleicht auch in einer anderen Stadt leichter, Menschen zu schädigen, als ihnen Gutes zu tun, aber hier bei uns ist es ganz sicher so. Ich glaube, dass du das auch selber weißt.[52]

Mit Anytos ist nicht zu reden. Er reagiert auf jede Frage äußerst gereizt und unwillig. Auf die Frage, ob er seinem Gastfreund (!) einen Athener nennen könnte, der weiß, wie Tugend vermittelt werden kann antwortet missmutig: „Was muss er [Menon] dazu den Namen eines einzelnen Menschen hören! Denn auf welchen rechtschaffenen Athener er auch treffen sollte, es gibt keinen, der ihn nicht besser machen wird als die Sophisten, wenn er nur auf ihn hören will.[53]

Sokrates greift das auf. Zweifelsohne gibt es (in Athen und wohl überall) Leute, die gerecht, tapfer oder besonnen genannt werden und denen wir gemeinhin zuschreiben, dass sie diese Tugenden haben. In Athen – wo man nicht mal mehr wissen will, was Tugend ist (!) – gab es eine Reihe von Männern gegeben (und gibt sie immer noch), denen wir herausragende Leistungen und damit Tugenden zusprechen. Aber betrachten wir ihre Söhne, dann sehen wir zwar, dass sie zu vielem anderen hervorragend ausgebildet wurden, sich aber nicht in den Tugenden hervortun, die ihre Väter auszeichneten. Dem muss Anytos widerstrebend zustimmen und wird aus dem Gespräch entlassen.

Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass Tugend – aus athenischer Perspektive – nicht lehrbar zu sein scheint. Menon wird nun gefragt, ob das seiner Erfahrung nach auch in seinem Umfeld gilt. Glaubt man dort einhellig, „dass die Tugend lehrbar ist“? „Nein, beim Zeus.“, antwortet Menon. „Sondern wenn du ihnen zuhörst, dann heißt es ein Mal, dass die Tugend lehrbar ist, ein anderes Mal, dass sie es nicht ist.[54] Auf die Frage, ob er auch nicht glaube, dass die Sophisten solche Lehrer sind, antwortet er schließlich „Ich kann dazu nichts sagen, Sokrates; mir geht es nämlich wie den meisten: Manchmal bin ich dieser Meinung, dann auch wieder nicht.“ Genau dieser Zwiespalt hatte seine Ausgangsfrage für das Gespräch motiviert „Kannst du mir sagen, Sokrates, ob die Tugend lehrbar ist…“.

Also sieht es nun so aus „als wäre die Tugend nicht lehrbar“? Und Menon antwortet erstaunlich vorsichtig: „Es sieht nicht so aus, immer vorausgesetzt, dass wir richtig untersucht haben.“ Der Zweifel rührt wohl nicht zuletzt aus der lebensweltlichen Erfahrung, dass es Menschen gibt, denen wir Tugend zusprechen, die sie irgendwie erworben haben müssen. Und auch wir machen „ethische“ Erfahrungen, nämlich solche von denen wir glauben, dass sie uns besonnener oder tapferer, gerechter oder klüger werden lassen. Und nun findet es auch Sokrates geradezu „lächerlich“, dass ihnen „entgangen ist, dass die Menschen nicht nur unter der Leitung des Wissens ihre Angelegenheiten richtig und gut erledigen …

Meinen und Wissen

Tugend steht für ein Können, nämlich die Befähigung sein Leben gelingend zu führen. Dafür aber brauche es gar kein Wissen. „Wenn einer, der den Weg nach Larissa oder sonst wohin kennt, ihn gehen und dabei andere führen würde, der würde doch wohl richtig und gut führen. … Was ist aber, wenn jemand eine richtige Meinung darüber hat, was der Weg ist, ohne ihn aber gegangen zu sein und ihn zu kennen, wird der nicht auch richtig führen?“ Wahre Meinung ist eben wahr und deshalb ist einer, der sie hat, kein schlechterer Führer als jemand, der wirklich Wissen hat, also z.B. den Weg schon einmal gegangen ist.

Also ist wahre Meinung für die Richtigkeit des Handelns kein schlechterer Führer als Einsicht.“ Sokrates behauptet nun, dass sie sich bei ihrer Untersuchung davon leiten ließen, „dass ausschließlich Einsicht das richtige Handeln leitet“.[55] Dass Tugend „eine Art Einsicht[56] sei, wurde im Zuge der Explikation der Hypothese der Lehrbarkeit der Tugend festgestellt und von Menon akzeptiert. Damit sollte die Hypothese plausibilisiert werden.[57]Dass ausschließlich Einsicht das richtige Handeln leitet“, kann daraus aber nicht gefolgert werden. Das war für die Hypothesenprüfung auch gar nicht nötig: nur wenn Tugend lehrbar ist, ist sie eine Form von Wissen; lehrbar ist sie nur, wenn es auch Lehrer und Schüler gibt. Das ist aber nicht der Fall, also ist sie nicht lehrbar und auch kein Wissen. Ob „ausschließlich Einsicht das richtige Handeln leitet“, muss man dazu gar nicht wissen.

Nun wird das Zugeständnis kritisiert, das Menon gar nicht hätte machen müssen. Menon hatte sich überrumpeln lassen und seine Zustimmung wurde ihm von Sokrates/Platon nur abgefordert, um sie jetzt als unbegründet zu kritisieren. Aber Menon hat immer noch nicht richtig verstanden: „Richtige Meinung“, fragt Sokrates, „ist also keineswegs weniger nützlich als Wissen?“ Menon will sich dem nicht gänzlich fügen. Er will einen Unterschied geltend machen, der wohl zeigen soll, dass er an wirklichem Wissen mehr Interesse zeigt als an „wahrer Meinung“: den Unterschied zwischen beiden will er nämlich darin sehen, „dass derjenige, der über Wissen verfügt, immer das Richtige trifft, während derjenige, der eine richtige Meinung hat, es manchmal trifft, manchmal aber auch nicht[58]. Das greift zwar eine lebensweltliche Intuition auf, die viele Leser auch teilen werden, er kann sie aber argumentativ nicht geltend machen: „Wie meinst du das? Wer an einer richtigen Meinung immer festhält, dürfte der nicht immer das Richtige treffen, jedenfalls solange er das Richtige meint.[59] Menon drückt sich widersprüchlich aus, wenn er von der „richtigen Meinung“ (ὀρθὰ δόξα) sagt, sie könne auch unrichtig sein. Menon will geltend machen, dass Wissen „höher geschätzt“ wird als „richtige Meinung“ und deshalb von einem Unterschied beider auszugehen ist, den er allerdings nicht anzugeben weiß. „Wahre Meinungen“ sind wahr und leiten richtig, so lange man sie hat; sie werden nicht falsch, aber man kann sie verlieren. Es geht darum, an ihnen „festzuhalten“. „Wahre Meinungen sind eine schöne Sache und bewirken lauter Gutes, solange sie dableiben. Für lange Zeit aber wollen sie nicht dableiben, sondern nehmen aus der Seele des Menschen Reißaus, so dass sie nicht viel wert sind, bis jemand sie durch Berechnung eines Grundes anbindet.[60]

Zu meinen, dass etwas (p) der Fall ist, unterscheidet sich „sachlich“ nicht davon, es zu wissen. Es ist derselbe Sachverhalt (p), auf den sich die Meinung oder das Wissen beziehen. Auch Meinungen haben einen Wahrheitsanspruch. „Ich meine, dass p“ und „ich weiß, dass p“ unterscheiden sich nicht in ihrem propositionalen Gehalt, sondern im Vermögen p zu begründen. Ob der im propositionalen Gehalt beschriebene Sachverhalt eine Tatsache (also wahr) ist, ist unabhängig davon, ob er gewusst oder „nur“ gemeint wird.

Meinen und Wissen sind Formen des Fürwahrhaltens. Die Wahrheit des Sachverhalts ist unabhängig von der Form des Fürwahrhaltens. Sie unterscheiden sich allerdings in der Verpflichtung, die mit der jeweiligen Form des Fürwahrhaltens verbunden ist. Zu meinen oder zu wissen sagt etwas über die „Einstellung“ desjenigen aus, der sich über den Sachverhalt äußert. Meinen wir, dass p, dann gestehen wir zu, dass es sich auch anders verhalten könnte und wir keine „wirkliche“[61] Begründung für p haben. Die Behauptung etwas zu wissen, schließt hingegen die Behauptung ein, überzeugende Gründe für p geben zu können.

Die Halbierung der Fläche – auch das sollte der Sklave hinbekommen, wenn er Wissen hat

Das bleibt in der Metaphorik des Anbindens etwas diffus und wir wüssten gerne, wie das auf sein Beispiel Anwendung findet, eine „wahre Meinung“ über den Weg nach Larissa zu haben oder ihn zu kennen. Beim Sklaven, dem es mit Hilfe von Sokrates gelang, das Quadrat mit doppeltem Flächeninhalt zu konstruieren, bleibt es fraglich, ob er sich damit ein Wissen oder eine „wahre Meinung“ erworben hat. Wenn er sich an die richtige Lösung erinnert (!), dann vielleicht ohne dafür die (konstruktive) Begründung geben zu können. Um es zu wissen, muss er in der Lage sein, die (konstruktive) Lösung zu begründen und zwar unabhängig von der Größe des Ausgangsquadrats. Und er müsste vermutlich auch in der Lage sein, ein Quadrat mit der Hälfte der Fläche zu konstruieren, damit wir ihm wirklich zusprechen, das Problem und seine Auflösung verstanden zu haben. Der Sklave muss zeigen, was er kann. Sokrates jedenfalls will ihm erst dann „ein Wissen über diese Dinge“ zusprechen, wenn er sich „häufig und auf vielerlei Weise“ damit beschäftigt hat.[62] Wir haben Wissen, wenn wir uns auf etwas verstehen. Es ist ein (erworbenes) Vermögen mit etwas umzugehen. Mathematisch geschult oder ein guter Mathematiker ist man dann, wenn man mit mathematischen Problemen umgehen und (bewiesene) mathematische Sätze für ihre Lösung nutzen kann.

Sich Verstehen auf

Das ist vor allem für das Wissen entscheidend, das wir mit Tugenden verknüpfen. Wenn Menon nach dem Erwerb von Tugend fragt, dann geht es ihm nicht um ein Set von wahren Sätzen, die er argumentativ verteidigen möchte. Es geht vielmehr um die Befähigung, sich in unterschiedlichen Handlungsfeldern auszuzeichnen oder ganz allgemein das (eigene) Leben „erfolgreich“ zu führen. Menon dürfte dabei vor allem an Erfolg in „politischen“ Dingen denken. Der Erwerb der Tugend zielt nicht auf die Erkenntnis der Wahrheit von Sätzen, sondern auf das Know How mit den Umständen, in denen wir uns finden, umgehen und das eigene Leben zu einem gelingenden Ganzen führen zu können.

Wer Tugend erwerben will, muss sich darum bemühen, was sie ist – das ist die sokratische Antwort auf Menons Ausgangsfrage. Sie kommt nicht aus einer Steckdose, die ich einfach legen lassen muss und aus der Wahrheiten abgezapft werden können. Was sie ist, weiß ich nur im Vollzug. Sie sagt sich nicht, sondern zeigt sich. Hätte Menon auf die anfängliche Nachfrage, was Tugend sei, mit einer gängigen Definition von Tugend als dem „Inbegriff aller lobenswerten Eigenschaft einer Person (oder eines anderen Lebewesens)“ geantwortet,[63] so wäre nicht viel gewonnen gewesen. Er hätte zeigen müssen, was er darunter versteht oder eben, dass er sich darauf versteht. Ein habituelles Vermögen muss sich zeigen. Die (richtige) Beschreibung der Tugend (know what) setzt voraus, dass man sie hat (know how).

Dramatisches Geschehen

Platon zeigt im Dialog, was es heißt, sich um Tugend zu bemühen, nämlich ein praktisches Wissen (know how) zu erwerben, das eigene Leben vernünftig zu führen. Platon führt ein Gespräch vor, das er Personen mit unterschiedlichen Charakteren und Absichten führen lässt. Wir erleben mit, wie sie etwas mit stolzer Begeisterung vortragen, sich auf Abwege begeben und Abkürzungen nehmen, wie sie sich verzweifelt winden, sich missmutig streiten und argumentative Fallen stellen, oder großzügig unterstützen und sich gegenseitig bestärken. So zeigt sich das sogenannte Menon Paradox als eine Ausflucht des angeschlagenen, zunehmend unwilligeren Menons, der seiner Unfähigkeit den Glanz eines fundamentalen philosophischen Problems geben will. Und der selbstkritische Leser mag sich vielleicht – toi, toi, toi – bei vergleichbaren „Ablenkungen“ mit glanzvollen, dekontextualisierten Scheinproblemen ertappt sehen.[64]

Man wird der Dramaturgie des Dialogs nicht gerecht, wenn wir in Äußerungen des vermeintlichen Helden Sokrates die Position Platons entdecken wollen. Gibt uns der nach Rache suchende Hamlet oder der verzweifelte King Lear die Meinungen Shakespeares wieder? Oder müssen wir sie bei Figuren aus dem Sommernachtstraum oder Wie es Euch gefällt suchen? Und ist das, was Faust im Faust sagt, was Goethe meint, oder doch mehr das, was er Mephisto in den Mund legt? So werden wir den dramatischen Kunstwerken wohl nicht gerecht. Goethe und Shakespeare wollen uns etwas zeigen, keine „wahren Meinungen“ verkünden.

Wir tun gut daran, uns in dieser dramatischen Einstellung auch den „Stücken“ Platons zu nähern. Er vertritt darin keine Lehre. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Anamnesislehre, die gemeinhin Platon zugeschrieben wird. Sie hat im Menon, aber auch im Phaidon, eine dramaturgische Funktion. Im Menon lässt Platon Sokrates richtigstellen, worauf es ihm, Sokrates, dabei ankommt: Nicht die Lehre der „Priesterinnen“ und „Priester“ will er verteidigen, er will stattdessen „in Wort und Tat“ dafür eintreten, dass es „uns besser macht“ zu suchen, „was man nicht weiß“ als zu glauben „was wir nicht wissen, das sei weder möglich zu finden noch nötig zu suchen“. Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und der Anamnesis der Seelen greift mythologische Vorstellungen der pythagoreischen Tradition auf. Menon huldigt vor allem empedokleischen Vorstellungen, die ebenfalls von einer seelenwandernden Wiederkehr der Seelen aus der Unterwelt ausgehen. Warum sollten wir bei einer marxistisch motivierten Kritik an der ethisch-moralischen Korrumpierung durch unfassbarem Reichtum nicht auf das biblische Gleichnis vom Kamel, das durchs Nadelöhr geht, zurückgreifen, wenn wir mit einem Katholiken sprechen? Das Gespräch setzt bei dem an, was die Gesprächspartner an Überzeugungen und Lebenserfahrung mitbringen. Die Qualität des Stücks zeigt sich dann u.a. darin, dass wir als lesende Zuschauer, die Charaktere plausibel, lebensecht und „typisch“ finden und uns das Geschehen nachvollziehbar erscheint. Es rührt etwas in uns an und hat eine kathartische Wirkung.

Und eine vergleichbare Einschränkung wie bei der Anamnesislehre und der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele nimmt Sokrates auch bei der Unterscheidung von „wahrer“ oder „richtiger Meinung“ und Wissen vor: ob die metaphorische Redeweise (εἰκάζειν) der „Anbindung“ der wahren Meinung durch Gründe wirklich stichhaltig sei, darauf will er sich nicht festlegen. Aber den Unterschied zwischen „wahrer Meinung“ und Wissen den behauptet er mit Emphase als Wissen: „Obwohl ich das keineswegs sage, als ob ich es wüsste, sondern als ob ich es vermute (εἰκάζων). Dass aber richtige Meinung und Wissen unterschiedlich sind, das glaube ich keineswegs nur zu vermuten, sondern wenn ich irgendetwas behaupten würde, dass ich es weiß – und nur von wenigem würde ich das behaupten – so würde ich dieses für eines der Dinge halten, von denen ich ein Wissen habe.[65]

Im Bemühen um praktisches Wissen, also in der Philosophie, geht es nicht um den Erwerb von „Wahrheiten“, „wahren Meinungen“, sondern um die habituelle Kunst der Lebensführung, die sich im Vollzug – also in der eigenen Lebensführung selbst – zeigt. Dem wird der Dialog als Darstellungsform gerecht. Nicht der propositionale Gehalt unterscheidet Meinung von Wissen, sondern allein das Vermögen der Personen, mit den darin zum Ausdruck gebrachten „Tatsachen“ und „Normen“ umzugehen. Wer Philosophie so versteht, dass dort „Thesen“, also begründungsbedürftige Sachverhalte oder Normen, begründet werden, der wird im Traktat die naheliegende Form eines philosophischen Textes finden.[66]

Platon wählt dagegen den dramatischen Dialog. Uns mag das heute wundern. Nicht selten wurde die Dialogform deshalb auch nur als Vermittlungsform verstanden, in der ein Meister seinem Schüler Rede und Antwort steht. Wir fragen uns, warum Platon diese Form und nicht die einer Vorlesung (wie Aristoteles) oder eines Traktats gewählt hat. Er hätte es damit – so eine gängige Vorstellung – seinen Lesern leichter gemacht, die dann nicht hätten rätseln müssen, was sie nun als (ungeschriebene) Lehre Platons verstehen dürfen oder müssen. Aber das ist nicht nur, wie ich zu zeigen versuche, sachlich unangemessen oder gar falsch, es ist auch historisch reichlich anachronistisch. Warum wundern wir uns nicht, dass Mozart kein Blues-Stück geschrieben hat oder einen Reggae- oder Punk-Song: er hätte damit doch manches „einfacher“ ausdrücken können?! Platon hatte vor allem zwei literarische Formen vor Augen, in denen sich „Großes“ sagen, nämlich über „Gott und die Welt“ und das Dasein des Menschen reden ließ: das Epos und die Tragödie. Es ist also keineswegs so verwunderlich wie es uns heute zu sein scheint, dass Platon sich an beiden orientiert hat. Und seine Dialoge erweisen ihn darin als Meister. Die Philosophie ist seither der Versuch, das dramatische Geschehen des „Erwerbs“ von Wissen mitzuerleben.

[1] 70a: ἔχεις μοι εἰπεῖν, ὦ Σώκρατες, ἆρα διδακτὸν ἡ ἀρετή; ἢ οὐ διδακτὸν ἀλλ᾽ ἀσκητόν; ἢ οὔτε ἀσκητὸν οὔτε μαθητόν, ἀλλὰ φύσει παραγίγνεται τοῖς ἀνθρώποις ἢ ἄλλῳ τινὶ τρόπῳ;

[2] Menon stammt aus Thessalien und engagiert sich später als Kriegsherr, der sich für den persischen Thronanwärter Kyros verdingte, der seinen Bruder Artaxerxes II als Großkönig u.a. mit Unterstützung griechischer Truppen stürzen wollte.

[3] Wie Tugend erworben werden kann: ob sie gelehrt oder durch Übung erworben oder nur durch natürliche Anlagen einem zuteilwerden kann. Die Frage ist so formuliert, dass die gegebenen Optionen sich auszuschließen scheinen; freilich lässt Menon weitere Optionen offen (ἢ ἄλλῳ τινὶ τρόπῳ) und damit z.B. auch eine „Mischung“ aus den dreien: Michael Erler meint, „daß die zu Beginn gestellte Alternative, Tüchtigkeit (ἀρετή) sei zu üben oder zu lernen oder von Natur aus zu erlangen (70A), falsch gestellt sei. Die drei Komponenten gehören zusammen …“ (Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons, 1987, S. 79). Die alte Adelsethik hätte vermutlich dem letzteren den Vorrang gegeben und zugleich die Notwendigkeit der Einübung (παιδεία) nicht geleugnet. Die Lehrbarkeit setzt wiederum bestimmte natürliche Vermögen voraus. Menon scheint die Alternativen auch asymmetrisch inkludierend formuliert zu haben: Lehren schließt Übung ein. Was freilich mit bestem Willen nicht lehrbar ist, das kann vielleicht eingeübt werden. Wenn auch das nicht möglich ist, dann bleibt nur, dass wir von Natur ertüchtigt wurden und uns selbst gar nicht ertüchtigen können.

[4] 70b-c: καὶ δὴ καὶ τοῦτο τὸ ἔθος ὑμᾶς εἴθικεν, ἀφόβως τε καὶ μεγαλοπρεπῶς ἀποκρίνεσθαι ἐάν τίς τι ἔρηται, ὥσπερ εἰκὸς τοὺς εἰδότας

[5] 71a: οὐδὲ αὐτὸ ὅτι ποτ᾽ ἐστὶ τὸ παράπαν ἀρετὴ τυγχάνω εἰδώς. Den namenlosen Otto-Normal-Bürger Athens bringt Sokrates vermutlich durchaus kritisch ins Spiel: Er ist  durch die vielen Sophisten, die in Athen ihre Geschäfte treiben, völlig verwirrt. Es wird über so viel diskutiert, dass man schließlich gar nichts mehr zu wissen glaubt. Er weiß nichts (mehr?) über Tugend, was schließlich zum Niedergang Athens und nicht zuletzt zur Verurteilung des Sokrates führen wird.

[6] 71b: οὐκ εἰδὼς περὶ ἀρετῆς τὸ παράπαν

[7] Wer nichts weiß, weiß nichts, das ist „tautologisch“.

[8] Da die Leser des Dialogs vom unrühmlichen Ende des fragwürdigen Charakters wussten, ist das eine Relativierung des Wunsches von Menon, in den Besitz der Tugend zu kommen. Das kling ein bisschen so als würde der Große Aias sein Interesse bekunden, feine Stickarbeiten anfertigen zu können.

[9] Hier geht Sokrates von „von der Tugend überhaupt nichts wissen“ zu dem Nicht-Wissen, was Tugend (eigentlich) ist, über. Weiß man also nichts über Tugend, wenn man keine zufriedenstellende Definition zu geben vermag? Dann könnte man die gesuchte Definition nur methodisch beurteilen: Theodor Ebert zeigt in seinem eindrucksvollen Kommentar zum Menon (2018), dass es ein Ziel des ersten Teils des Menon ist, herauszustellen, was gute Definitionen methodisch auszeichnet, nämlich die Koextensionalität von Definiens und Definiendum.

[10] Schleiermacher übersetzt „τὰ τῆς πόλεως πράττειν“ mit „die Angelegenheiten des Staates zu verwalten“, während Theodor Ebert in seiner großartigen, vor allem philosophisch inspirierten Übersetzung von „kümmern“ spricht. Schleiermacher kann dann zwar bei der Spezifizierung „καὶ πράττοντα τοὺς μὲν φίλους εὖ ποιεῖν“ mit „und in seiner Verwaltung seinen Freunden wohlzutun“ an „verwalten“ anschließen, gibt dem Ganzen aber einen „staatsbürokratischen“ Charakter, der sicher nicht gemeint ist. Ebert dagegen übersetzt bei der Tugend der Frauen das „τὴν οἰκίαν εὖ οἰκεῖν“ als „das Haus gut verwalten“ und gibt damit der „Verwaltung“ einen anderen Sinn – obgleich man auch hier nicht an die „Hausverwaltung“ im Sinne des Immobilien- oder Facility-Managements denken darf. Vielleicht wäre hier er von „führen“ zu sprechen, nämlich der Haushaltsführung der sogenannten „Hausherrin“ oder vom „bestellen“ – aber was weiß ich schon!?

[11] Das Argument ist gar nicht so blöde wie es uns, die wir sokratischen Sinn beweisen wollen, scheint. Die vielen Tugendausprägungen legen nahe, dass es dabei einige geben könnte die leicht zu bestimmen sind – neben anderen, bei denen das eher schwierig werden dürfte. Wenn man nun aber, bei der „Unzahl der Tugenden“ bei einigen ganz gut sagen könne, was sie ausmacht, dann stellt sich zumindest für sie die Frage, wie sie erworben werden können. Es ist im Übrigen ja keineswegs ausgemacht, dass alle Tugenden gleich erworben werden könnten. Das, was die Tugenden zu Tugenden macht, muss nichts für ihren Erwerb hergeben. Klinkersteine und Kunststoffverputz sind beides Außenverkleidungen von Häusern, werden aber ganz unterschiedlich realisiert, d.h. aufgetragen. Nur wenn der Erwerb der Tugend(en) sie wesentlich charakterisiert, kann man aus ihrem Wesen auf ihren Erwerb schließen. Das scheint mir aber noch offen.

[12] 72a: καὶ ἄλλαι πάμπολλαι ἀρεταί εἰσιν, ὥστε οὐκ ἀπορία εἰπεῖν ἀρετῆς πέρι ὅτι ἐστίν

[13] Theodor Ebert übersetzt mit „Gestalt“ und wirbt mit guten Gründen für diese sachlich nüchterne Übersetzung, die nicht zu viel Ideenlehre hineingeheimnist; die Heideggersche Übertragung mit „Aussehengefällt mir aber – Theodor Ebert möge es mir verzeihen – auch ganz gut.

[14] 73c-d: τί ἄλλο γ᾽ ἢ ἄρχειν οἷόν τ᾽ εἶναι τῶν ἀνθρώπων; εἴπερ ἕν γέ τι ζητεῖς κατὰ πάντων.

[15] Platon scheint mir auch hier ein dramaturgisches Element zu nutzen: er lässt den genervten Menon die Anforderung wiederholen, die er durch seinen Vorschlag ganz offensichtlich nicht einlöst: „Wenn du schon nach etwas suchst, was einheitlich für alle Fälle passt.

[16] 77b: ‘χαίρειν τε καλοῖσι καὶ δύνασθαι

[17] 77b: καὶ ἐγὼ τοῦτο λέγω ἀρετήν, ἐπιθυμοῦντα τῶν καλῶν δυνατὸν εἶναι πορίζεσθαι.

[18] Die subjunktive Aussage „Wenn es regnet, wird die Straße nass“ bleibt wahr, wenn wir uns darin getäuscht haben, dass es regnet – ganz egal ob die Straße nun nass oder trocken ist.

[19] Theodor Ebert sieht in der sokratischen Argumentation „ein Beispiel par excellence eines elenktischen Argumentes, bei dem der Diskussionspartner schließlich gezwungen sein wird, das Gegenteil seiner Ausgangsthese zu behaupten“ (Platon, Menon, griech-dt, herausgegeben, übersetzt und mit kommentierenden Anmerkungen versehen von Theodor Ebert, 2019, S. 144).

[20] Menon verbindet seinen Zustand mit einer Warnung, die auf das Schicksal des Sokrates vorausweist: würde Sokrates das als Fremder in einer anderen Stadt tun, was er hier mit ihm angestellt habe, würde man ihn „wohl als Hexer verhaften“.

[21] 80d: σὺ μέντοι ἴσως πρότερον μὲν ᾔδησθα πρὶν ἐμοῦ ἅψασθαι, νῦν μέντοι ὅμοιος εἶ οὐκ εἰδότι. ὅμως δὲ ἐθέλω μετὰ σοῦ σκέψασθαι καὶ συζητῆσαι ὅτι ποτέ ἐστιν.

[22] 80d: καὶ τίνα τρόπον ζητήσεις, ὦ Σώκρατες, τοῦτο ὃ μὴ οἶσθα τὸ παράπαν ὅτι ἐστίν; ποῖον γὰρ ὧν οὐκ οἶσθα προθέμενος ζητήσεις; ἢ εἰ καὶ ὅτι μάλιστα ἐντύχοις αὐτῷ, πῶς εἴσῃ ὅτι τοῦτό ἐστιν ὃ σὺ οὐκ ᾔδησθα;

[23] 80c: μανθάνω οἷον βούλει λέγειν, ὦ Μένων. ὁρᾷς τοῦτον ὡς ἐριστικὸν λόγον κατάγεις, ὡς οὐκ ἄρα ἔστιν ζητεῖν ἀνθρώπῳ οὔτε ὃ οἶδε οὔτε ὃ μὴ οἶδε; οὔτε γὰρ ἂν ὅ γε οἶδεν ζητοῖ—οἶδεν γάρ, καὶ οὐδὲν δεῖ τῷ γε τοιούτῳ ζητήσεως—οὔτε ὃ μὴ οἶδεν—οὐδὲ γὰρ οἶδεν ὅτι ζητήσει.

[24] Das ist die Programmformulierung für das philosophische Gespräch – es wird hier den Priestern zugesprochen, die von ihrem Umgang mit „göttlichen“ Dingen, Rechenschaft geben wollen.

[25] Bezeichnender Weise schränkt Sokrates das hier auf die Dichter ein, die „göttlich sind (θεῖοί εἰσιν)“.

[26] 81b: ἀλλὰ σκόπει εἴ σοι δοκοῦσιν ἀληθῆ λέγειν. φασὶ γὰρ τὴν ψυχὴν τοῦ ἀνθρώπου εἶναι ἀθάνατον …Es ist ein komisches Spiel, das Sokrates da treibt. Auf die Frage, ob er sagen könne, warum er dem „eristischen Argument“ nicht folgen will, antwortet er komödiantisch: „Ja, das kann ich.“ Er hätte nämlich etwas gehört. Was denn? Etwas Wahres. Und erst auf nochmalige Nachfrage, was das denn sei, antwortet er schließlich mit dem Hinweis auf die Unsterblichkeit der Seele, was den Fragenden und die Leser auch erstmal verblüfft zurücklassen dürfte. – Ich erinnere mich an einen vergleichbaren, witzig entnervenden Dialog: „Weißt Du schon, was wir dem Kollegen zum Abschied schenken könnten“ – „Ja.“ – „Was denn? – „Ein Buch.“ – „Was für ein Buch?“ – „Ein gutes.“ – „Welches denn?“ – „Ein Gebundenes“ – „Von wem?“ – „Von einem Philosophen.“ …

[27] Sokrates fügt noch die erstaunliche Annahme hinzu, dass „die ganze Natur ja miteinander verwandt ist“.

[28] 81d.

[29] Sokrates reagiert darauf ironisch: Menons Verständnisprobleme werden von ihm als Trick bezeichnet, der ihn überführen soll.

[30] Das von Sokrates gewählte Beispiel hat den besonderen Reiz, dass der Sklave in die Lage versetzt wird, mit der irrationalen Größe – nämlich eine, die nicht durch einen Bruch dargestellt werden kann – umzugehen, nämlich mit .

[31] 85d.

[32] 85d: τὸ δὲ ἀναλαμβάνειν αὐτὸν ἐν αὑτῷ ἐπιστήμην οὐκ ἀναμιμνῄσκεσθαί ἐστιν;

[33] 85e: καὶ τῶν ἄλλων μαθημάτων ἁπάντων

[34] 81c.

[35] Erinnern setzt nicht voraus, dass wir tatsächlich etwas gewusst haben. Von Erinnern sprechen wir auch, wenn wir uns an Meinungen erinnern. Wenn uns ein Name wieder einfällt, nach dem wir gesucht haben, muss es nicht bedeuten, dass es der richtige ist: dass wir nach „Homer“ gesucht haben, heißt eben nicht, dass er Autor der Theogonie ist. Wir haben „gefunden“, wonach wir gesucht haben, haben aber das Falsche gesucht.

[36] Siehe die oben bereits angeführte Stelle 85d: „Das Selbst-aus-sich-selber-ein-Wissen-Heraufholen, ist das nicht Sich-Wiedererinnern

[37] Traditionell wurde die Anamnesis-Lehre als Metapher für den „Erwerb“ von apriorischem Wissen verstanden, also solchem, das wir nicht aus der Erfahrung gewinnen, das vielmehr als Voraussetzung für aposteriorisches Wissen angenommen werden kann oder muss. Es ist dann in gewissem Sinne ein „Selbst-aus-sich-selber-ein-Wissen-Heraufholen“, aber eben keine Erinnerung. – Jedenfalls ist die schnelle Übertragung auf alle „anderen Wissenschaften“ nicht nachvollziehbar und wir müssen wohl die Provokation mithören, die darin liegt, dem Sklaven alle Wissenschaften zuzueignen. Das schreit geradezu nach Widerspruch.

[38] 86a. „Wahre Meinungen“ (ἀληθεῖς δόξαι) werden aufgeweckt durch Fragen zu „Kenntnissen“ (ἐπιστῆμαι). Das gibt dem Argument noch einen zweiten Boden, der im Folgenden wichtig wird, wenn „wahre Meinungen“ zur Grundlage der Tugend werden.

[39] Exemplarisch ist die Aufforderung des Handwerkers, der gerade etwas fertigt, an seinen Gesellen, er möge ihm schnell mal das Werkzeug reichen. Der Geselle muss nun „wissen“, was der Meister grade braucht und bezeugt seine Unkenntnis, wenn er ihm das falsche „Ding“ zureicht.

[40] Solche künstlichen, dilemmatischen Paradoxien sind von „gewöhnlichen“ Paradoxien zu unterscheiden, bei denen sich etwas anderes verhält als „man“ es vorderhand meint. Was uns zunächst unplausibel vorkommt, erweist sich doch als richtig. Typische Beispiele finden sich bei Wahrscheinlichkeiten, bei denen mathematisch Ungeübte nicht selten ungläubig gucken: Ein beliebtes Beispiel ist das Ziegenproblem, bei dem sich selbst Mathematiker immer wieder auf Abwegen befinden (Cf. Gero von Randow, Das Ziegenproblem, Denken in Wahrscheinlichkeiten, 2004). Oder finden Sie es nicht „paradox“, also vorderhand unplausibel, dass die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Schüler in einer Klasse von 30 Schülern am selben Tag Geburtstag haben bei über 70% liegt? Oder bei einer Impfeffektivität von 90% (wie bei den Corona-Impfstoffen), nicht 90% der Geimpften geschützt sind, es vielmehr über 100 Impfungen braucht, um einen Geimpften wirklich vor der Erkrankung zu schützen?

[41] Erst Sokrates bringt es in die Form eines Dilemmas, dessen Formulierung Menon dann ausdrücklich lobt.

[42] Sokrates bekennt ausdrücklich seine Abneigung. Das Menon Paradox ist nichts, was er irgendwie gut oder nachvollziehbar hält.

[43] 86b.

[44] Th. Ebert, a.a.O., S. 155.

[45] 86b-c: καὶ τὰ μέν γε ἄλλα οὐκ ἂν πάνυ ὑπὲρ τοῦ λόγου διισχυρισαίμην: ὅτι δ᾽ οἰόμενοι δεῖν ζητεῖν μή τις οἶδεν βελτίους ἂν εἶμεν καὶ ἀνδρικώτεροι καὶ ἧττον ἀργοὶ εἰ οἰοίμεθα μὴ ἐπιστάμεθα μηδὲ δυνατὸν εἶναι εὑρεῖν μηδὲ δεῖν ζητεῖν, περὶ τούτου πάνυ ἂν διαμαχοίμην, εἰ οἷός τε εἴην, καὶ λόγῳ καὶ ἔργῳ.

[46] Sokrates wählt zur Veranschaulichung seines „hypothetischen“ Vorgehen wieder ein nicht triviales geometrisches Beispiel: cf. Th. Ebert, a.a.O. 2019, S. 121ff.

[47] Damit lässt sich die Tragfähigkeit der Hypothese, Tugend sei lehrbar, prüfen: denn „hätten wir nicht auch umgekehrt mit der Vermutung ganz recht, dass das, wofür des weder Lehrer noch Schüler gibt, nicht lehrbar sei.“ (89e) Gibt es keine Tugendlehrer, dann ist Tugend kein lehr- und lernbares Wissen.

[48] 89e

[49] 89e.

[50] 92b: …ἐξελαύνουσαι, εἴτε τις ξένος ἐπιχειρεῖ τοιοῦτόν τι ποιεῖν εἴτε ἀστός.

[51] Ob Menon tatsächlich bei Anytos zu Gast war spielt für den Dialog keine Rolle. Er bringt jedoch zwei Männer zusammen, denen man als durchaus „Gleichgesinnte“ eine freundschaftliche Nähe zutrauen kann.

[52] 94e-95a.

[53] 92e: τί δὲ ἑνὸς ἀνθρώπου ὄνομα δεῖ ἀκοῦσαι; ὅτῳ γὰρ ἂν ἐντύχῃ Ἀθηναίων τῶν καλῶν κἀγαθῶν, οὐδεὶς ἔστιν ὃς οὐ βελτίω αὐτὸν ποιήσει ἢ οἱ σοφισταί, ἐάνπερ ἐθέλῃ πείθεσθαι.

[54] 95b.

[55] 97c: ὅτι φρόνησις μόνον ἡγεῖται τοῦ ὀρθῶς πράττειν

[56] 88c: τὴν ἀρετὴν φρόνησιν δεῖ τιν᾽ εἶναι.

[57] Das Argument berief sich auf die Nützlichkeit von Tugend: Güter seien aber nur durch den rechten Gebrauch nützlich. Deshalb müsse Tugend auf der Einsicht in den rechten Gebrauch gründen. Auch das Argument wackelt verdächtig und wird von Sokrates in einer mutwillig verzerrten Form präsentiert: „Wenn die Tugend also eine seelische Eigenschaft ist und sie notwendigerweise nützlich ist, dann muss sie Einsicht sein, da doch alle seelischen Eigenschaften an und für sich weder nützlich noch schädlich sind und erst wenn Einsicht oder Unverstand dazukommen, schädlich oder nützlich werden. Nach diesem Argument muss die Tugend, da sie doch nützlich ist, eine Art Einsicht sein.“ (88c-d) Nun ist Einsicht (φρόνησις) auch etwas „in der Seele“ und sie muss – anders als andere Wissensarten einen besondere „Nähe“ zum Glück (εὐδαιμονία) haben wie das durch Sokrates insinuiert wird (88c).

[58] 97c.

[59] 97c.

[60] 97e-98a: καὶ γὰρ αἱ δόξαι αἱ ἀληθεῖς, ὅσον μὲν ἂν χρόνον παραμένωσιν, καλὸν τὸ χρῆμα καὶ πάντ᾽ ἀγαθὰ ἐργάζονται: πολὺν δὲ χρόνον οὐκ ἐθέλουσι παραμένειν, ἀλλὰ δραπετεύουσιν ἐκ τῆς ψυχῆς τοῦ ἀνθρώπου, ὥστε οὐ πολλοῦ ἄξιαί εἰσιν, ἕως ἄν τις αὐτὰς δήσῃ αἰτίας λογισμῷ. Theodor Ebert übersetzt λογισμός etwas sperrig mit Berechnung. Berechnung sei ein „success word“ und „bezeichnet einen erfolgreich zum Abschluss gebrachten Prozess“. (Gute) Gründe binden „wahre Meinungen“ also erfolgreich an – wir wissen dann mit ihnen umzugehen.  

ἐπειδὰν δὲ δεθῶσιν, πρῶτον μὲν ἐπιστῆμαι γίγνονται, ἔπειτα μόνιμοι: καὶ διὰ ταῦτα δὴ τιμιώτερον ἐπιστήμη ὀρθῆς δόξης ἐστίν, καὶ διαφέρει δεσμῷ ἐπιστήμη ὀρθῆς δόξης.

[61] Eine, die uns überzeugt und von der wir annehmen, dass sie auch für andere überzeugend sein müsste.

[62] 85c.

[63] Das ist die von Theodor Ebert gegebene Worterklärung von ἀρετή. Er zitiert die pseudo-platonische Definitionen der Tugend als „Habitus (ἕξις) eines sterblichen Lebewesens, der an sich lobenswert ist“ findet sich. Theodor Ebert, a.a.O., 2018, S. 50.

[64] Ein Ausdruck wird so oft wiederholt bis er einem eigentümlich fremd vorkommt und man gar nicht mehr weiß, was damit überhaupt gemeint ist. Die „sinnlose“ Wiederholung reißt den Ausdruck aus seinem sprachlichen Verwendungszusammenhang, dekontextualisiert ihn und verwandelt ihn zu einem befremdlichen Lautgebilde. Alles verschwimmt im Kontextlosen. Was war nochmal das Problem?

[65] 98b: καὶ μὴν καὶ ἐγὼ ὡς οὐκ εἰδὼς λέγω, ἀλλὰ εἰκάζων: ὅτι δέ ἐστίν τι ἀλλοῖον ὀρθὴ δόξα καὶ ἐπιστήμη, οὐ πάνυ μοι δοκῶ τοῦτο εἰκάζειν, ἀλλ᾽ εἴπερ τι ἄλλο φαίην ἂν εἰδέναι — ὀλίγα δ᾽ ἂν φαίην — ἓν δ᾽ οὖν καὶ τοῦτο ἐκείνων θείην ἂν ὧν οἶδα.

[66] Noch naheliegender erweist sich die scholastische Form der Quaestiones, nämlich der methodisch geordneten Darstellung des Problems und ihrer Lösung.

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