Melancholie

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Traditionell eine der vier Temperamente, die sich aus der Physiologie der Körperkräfte erklären sollten. Von der schwarzer Galle hat sie ihren Namen. Davon sind wir heute etwas abgekommen und doch würden Neurophysiologen wohl in der Physik der Säfte noch heute ihren Grund sehen. Stellen wir uns vor, wir hätten dann das Schaltbild der Melancholie vor uns liegen. Was würden wir wissen? Na ja, sagen wir wenig oder eigentlich nichts. 

Die Physik der Melancholie

Doch, sagen die Kritiker, wir könnten sie behandeln und medizinisch heilen. Falsch. Wir könnten an Hand des „Schaltbilds“ unsere Körpersäfte ein bisschen anders mixen und würden dann wieder nicht verstehen, was wir da eigentlich gemacht haben. Um einen Schaltplan oder Mixtur einer Stimmung zuzuordnen, muss man ja zunächst in der Stimmung dazu sein. Was ist denn eigentlich der Zustand, den wir mit einem solchen „Schaltplan“, nennen wir ihn M42, abzubilden meinen? „Na ja, Melancholie halt!“, sagt der begriffsstutzige Neurologe „Und M42 das ist Schwermut oder Trübsinn, Traurigkeit oder Überdruss, Wehmut oder Sehnsucht? Oder alles zusammen?“ Tatsächlich ist es nichts davon. Es ist nur ein Schaltbild für eine neurophysiologische Mixtur. Von dem was es abbilden soll, weiß das „Schaltbild“ und seine technischen Zeichner freilich gar nichts. Wollte man an Mischtabellen für Körpersäfte einen Grenzwert für Traurigkeit festmachen etwa im Übergang zum Trübsinn oder dem Überdruss, dann müssten wir ja vorher wissen, was diese Zustände als solche unterscheidet und zwar nicht mit Blick auf ihre Modellierbarkeit im Labor, sondern „an sich“, was sie „für uns“ sind – ihr Wesen. Der Laborfilter benötigt zunächst den begrifflichen Filter des sprachlich-geistigen Verstehens dessen, was wir erfahren. Philosophie vor Physik, Metaphysik vor Medizin.   

Robert Burton

Aber wie komm’ ich jetzt überhaupt auf Melancholie? Wegen des Trübsinns in der Pandemie? Nein, ausnahmsweise nicht. Die Anatomie der Melancholie, 1621 erschienen, feiert 400. Geburtstag. Sie entstammt der Feder von Robert Burton (1577-1640), eines anglikanischen Geistlichen und Bibliothekars. Er war ein begeisterter Sammler. In der ersten Auflage versammelte er (in zunächst rund 350.000 Wörter) alles, was er zur Melancholie in der Überlieferung finden konnte. Doch nie war es genug. Die zweite und dritte Auflage wuchsen weiter an und die vierte, posthum veröffentlichte Auflage zählte schließlich über 500.000 Wörter. Das grob geordnete Sammelsurium garnierte er mit nicht selten satirischen, selbstironischen Kommentierungen vor allem zur Absicht der Zusammenstellung. Er begriff Melancholie als eine Krankheit oder doch etwas, das krank machen konnte, und glaubte selbst an ihr erkrankt zu sein. 

Mein Los, das tausch‘ ich auf gut Glück
mit jedem Mistkerl, Galgenstrick,
wie Höllenfeuer brennt die Qual,
ich muß heraus, hab‘ keine Wahl,
das Leben ist mir hassenswert,
wer leiht ein Messer, hält das Schwert?
Anderes Leid – Gold gegen die
verfluchte Last: Melancholie.

 

Philologisch-philosophische Anatomie

Frontispiz der Anatomie der Melancholie

Die Anatomie der Melancholie sollte dem Autor helfen, der „verfluchten Last“ der Melancholie zu entkommen. Tatsächlich ist sie gar keine Anatomie im medizinischen Sinne. Ein Sammlungsstück der Anatomie ist die Erzählung von Demokrit, der in den Augen seiner Mitbürger an der Melancholie erkrankt war. Sie baten deshalb Hippokrates nach ihm zu sehen. Hippokrates fand ihn im Wald bei der Obduktion von Tieren, weil er dort die „schwarze Galle“ und den Grund für ihre Vermehrung suchte, eine Obduktion von Menschen aber für verwerflich galt. Demokrit war der erste Anatom der Melancholie und Burton lieh sich (als Democritus Junior) seinen Namen, unter dem er seine „Anatomie“ veröffentlichte, um sich mit diesem Pseudonyme „ein bisschen mehr Redefreiheit“ zu sichern. Democritus Junior schneidet freilich keine Körper auf, um die Melancholie zu vergegenständlichen. Er sucht sie in der Erfahrung und der Lektüre von Erfahrungen der Überlieferung. Und auf diese Erfahrung setzt er auch beim Leser. Der Leser soll bei der Lektüre der klassischen Texte auf sich selbst blicken, für sich die welterschließende Kraft der Stimmung wie den durch sie nahegelegten, beängstigenden Weltentzug erfahren. Die Lektüre der Anatomie der Melancholie hat das Ziel, die heilsame Selbstbesinnung des Lesers anzustoßen, die der Autor bei der Zusammenstellung der Texte an sich selbst zu erfahren glaubte. Burton schrieb als Arzt, der die Seele heilen wollte, indem sie sich unter Hilfe der Erfahrung der überlieferten „Weltweisheit“ selbst von ihrer zerstörerischen Macht befreite. Walter Jens nennt die Anatomie „ein Buch ohne Beispiel: alexandrinisch und verrückt, gelehrt und irre, der Scholastik verpflichtet und, wenn man so will, Jean Paul präludierend.“

Und natürlich geht die Geschichte weiter. Kant z.B. lokalisiert sie im Umkreis des Erhabenen, sieht freilich die Gefahr zur Phantasterei und „Grillenfängerei“. Andere – Schelling z.B. – wollen in ihr die philosophische Stimmung schlechthin erkennen. Überhaupt verliert sie in der Romantik ihre Morbidität und ist wieder – wie gelegentlich in Tradition – Ausdruck eines besonderen, „genialischen“ Weltzugangs. Im mittelalterlichen Mönchswesen galt sie dagegen unter dem Namen acedia weniger als Krankheit denn als schwerwiegendes Laster, in dem sich die Missachtung der evangelische Frohbotschaft und eine dumpfe, selbstzentrierte Auflehnung gegen die Schöpfung kundtut. Heute würden wir wohl von Depression sprechen, die zu einer Volksseuche geworden sein soll. 

Vergleichen wir das, was wir bei der Lektüre Burtons und seiner philosophisch literarischen Nachfolger gewinnen können, mit dem was „die“ Wissenschaft verspricht, dann lohnt sich eine Lektüre der philosophischen „Anatomien“ allemal. Ein Vergleich zwischen des Reichtums Burtons mit dem, was laut einem philosophischen Wörterbuch als die „maßgebende und umfassendste Definition der Melancholie“ gelten soll, spricht für sich: Melancholie bezeichnet danach „anfallsweise Affektverschiebungen des manisch-depressiven Formenkreises mit trauriger, oft zugleich ängstlicher Verstimmung, Hemmung des Denkens und der psychischen, zentrifugalen Funktionen, die einmalig, periodisch, mit vereinzelten manischen Phasen alternierend oder in hartnäckiger Fixierung auftreten und nach heutiger Auffassung vorwiegend konstitutionell bedingt sind.“ Ich glaube, das soll alles sagen und sagt mir jedenfalls genug: dann lieber Burton. Die „verrückte“ und zugleich „gelehrte“ Anatomie ist eine Einladung, sich jenseits von Neurophysiologie mit sich selbst zu beschäftigen, indem man mit Zeugnissen der „Weltweisheit“ ins Gespräch zu kommen trachtet. Immer in der Gefahr gerade dadurch der Melancholie anheim zu fallen – dann aber als eine Stimmung, die der eigenen Person und dem was ist nach bestem Wissen entspricht.

 

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