Man hört nichts – weil nichts gesagt wird

Lesedauer 6 Minuten

Die einen fordern gründliche – und das heißt für „Philosophen“ natürlich immer philosophische – Analyse. Die anderen möchten „Philosophie in Echtzeit“, was vielleicht – hoffentlich – nichts anderes als Philosophie zur Zeit meint?! Es ist vor allem der verzweifelte Ruf nach Beachtung. Auf die Epidemiologen, Virologen, Infektiologen und so hört man, auf die Philosophen, ähm :innen, nicht. Wir müssen einfach schneller sein und etwas bedeutsamer klingen. Insgesamt bleibt alles ein großes Blablabla. Hören Sie sich das mal an; es ist nicht aus dem Kontext geschnitten – versprochen: 

Die ‚Corona-Krise‘ fordert die Philosophie heraus [ah ja], da [!] sie nicht nur ein Thema der theoretischen Erkenntnis, sondern zugleich auch die Situation bezeichnet, in der wir uns gegenwärtig vorfinden [ach so! deshalb!]; und da diese Situation in semantischer und praktisch-existenzieller Hinsicht eine ‚Grenzsituation‘ unseres geteilten Lebens im Sinne von Karl Jaspers darstellt …“ 

„Semantische Grenzsituation“

Wenn man jetzt nicht sofort weiß, was „semantische Grenzsituationen“ sind, dann hilft uns die Autorin weiter: „Semantisch bildet die Corona-Krise eine Grenzsituation in einem von Theda Rehbock [muss ich zugeben: kenn ich nicht, Mist] für medizinethische Problemlagen herausgearbeiteten Verständnis [hmm, wenn Philosophen, ähm, :innen schon mal „arbeiten“?!]: In der aktuellen Krise verlieren zentrale anthropologische und ethische Grundbegriffe ihre alltägliche Selbstverständlichkeit. die Vagheit, die etwa die Begriffe der Gesundheit und Krankheit unter den Bedingungen der Pandemie annehmen, tritt im breit angelegten Testen hervor. Es entkoppelt die Diagnose vom leiblichen erleben und reagiert damit darauf, dass wir uns in der Pandemie gesund fühlen, gesund aussehen, aber bereits infiziert, erkrankt sein und den Krankheitserreger weitergeben können.“ Ok, ich glaube, ich weiß, worauf die Autorin hinaus will, aber sagen tut sie’s nicht – vermutlich ist das ihre „semantische Grenzsituation“. Wer gesund aussieht, kann krank sein – und umgekehrt, was mich oft mehr nervt, weil meine Mutter dann nervt … Das ist keine „semantische Grenzsituation“, vor allem nicht ihre: sie hat vermutlich ein Problem zwischen „infiziert“, „erkrankt“ und „ansteckend“ unterscheiden zu können. Vermutlich liefert sie deshalb auch keine erhellende „semantische Grenzziehung“, sondern bleibt dabei, dass ihr alles sehr kompliziert vorkommt. 

„Praktisch-existenzielle Grenzsituation“

Aber da gibt’s ja noch die „praktisch-existenzielle Grenzsituation“! Die klingt auch irgendwie philosophischer, irgendwie menschlicher: „In praktischer Hinsicht [existenziell nicht vergessen!] stellt die Corona-Krise eine Grenzsituation dar, da in ihr allgemeines Wissen über die Grenzen menschlichen Lebens existenzielle Relevanz gewinnt.“ Einmal kurz durchatmen, dann weiter philosophieren: also praktisch ist Corona „grenzwertig“, weil die „Grenzen menschlichen Lebens“ aufscheinen? Nicht wegen des Lockdowns, dem Einsperren der Alten, den Schul- und Spielplatzschließungen, der Zerstörung von wirtschaftlichen Existenzen und der Aufhebung von Grundrechten, nein, es geht um Größeres – festhalten – Sie bekommen jetzt einen Erkenntnis-Boost: „In der Pandemie sind wir mit einer Bedrohung durch Krankheit konfrontiert, die in Mitteleuropa überwunden schien [meint sie jetzt Krankheit überhaupt oder diese?, ich fürchte sie meint „an sich“!] und in der das anthropologische Wissen [ach ja, das Wissen der Anthropologen, ähm :innen? oder unser Wissen über ihr Gebiet?] über die menschliche Sterblichkeit konkret wird.“ Puh. Ich glaube fast, „anthropologisches Wissen“ ist das, was man common sense nennt, das was jeder weiß!? Nur halt nicht „konkret“! Und wenn einer „konkret“ wird, dann sollten Sie immer aufpassen, dann wird’s meistens unklar (- auch wenn’s eine ist). Dank der Pandemie wissen wir jetzt, dass wir krank werden und an Krankheiten sterben können. Toll. Die meisten hatten das ja über Krebs und Herzinfarkten, Schlaganfällen und Diabetes fast vergessen. 

Aber bitte, die Autorin hat noch viel mehr über die „praktisch-existenzielle Grenzsituation“ zu berichten: „Aus den Perspektiven der ersten Person singular und plural [ja, so sprechen Leute, die semantische Grenzerfahrungen machen] kann verstanden werden, dass der Tod nicht nur allgemein ‚allen Menschen‘, sondern mir, uns existenziell bevorsteht [alle, dazu gehöre wirklich ich?!]. Auch das allgemeine Wissen über die Grenzen individueller und sozio-kulturell geteilter Lebensgestaltung gewinnt in der Corona-Grenzsituation [die gibt’s nämlich auch noch!] konkrete [da haben wir’s wieder, ;-)] Bedeutung. Das Wissen über die Grenzen individueller Lebensgestaltung wird in der Corona-Krise etwa in Situationen existenziell relevant, in denen die Zukunft in ihrer Ungewissheit erfahrbar wird.“ Ok, ok, ich höre gleich auf. Aber einen erhellenden Satz, nämlich gleich den nächsten, will ich noch raushauen. Achtung: „Das Wissen über die Grenzen von intersubjektiv geteilter Gestaltung wird in Widersprüchen von sozialen Praktiken konkret [!], die in der aktuellen Krise offensichtlich werden.“ 

Was soll man dazu sagen? 

Ich will nicht schlecht über Euch reden / Ist ja doch nur primitiv / Ich verabscheue Euch wegen / Eurer Kleinkunst zutiefst.

Das alles entstammt einem Beitrag aus Information Philosophie (Juni 2/2021) in dem sich Stellungnahmen zu „Was macht die Corona-Krise für die Philosophie so interessant?“ finden. Dabei findet sich auch etwas zu individueller Freiheit und kollektiver Beschränkung:

Individuelle Freiheitsrechte dürfen nur eingeschränkt werden, wenn dieser Beschluss seinerseits als Akt der Freiheit, das heißt der kollektiven politischen Selbstbestimmung der Betroffenen verstanden werden kann. Wer sich selbst einschränkt, dem geschieht kein Unrecht.“ Husch, husch und weg sind sie die Grundrechte. Natürlich meint es der Standpunktgeber nicht so, aber die kollektive Selbstbestimmung erlaubt den Judenstern, oder? Und was heißt „kollektive Selbstbestimmung“? Ist das „Selbst“, das sich bestimmt, das „Kollektiv“? Die Nation oder wie es im Grundgesetz heißt das „Volk“? Schränkt das „Volk“ sich also ein oder schränkt es die Freiheiten der „Betroffenen“ ein? Wir, das Volk, also die Mehrheit, sperrt die Alten ein. Ist das gemeint? Und wäre das eine „Selbsteinschränkung“? Was ist den ein „Akt der Freiheit“, der die „individuelle Freiheit“ einzuschränken berechtigt? Fragen über Fragen, große Fragen, die gestellt wurden und auf die es Antworten gibt, große Antworten, mit denen wir uns auseinandersetzen, die wir verstehen sollten. Da könnte Philosophie doch helfen … nur husch husch geht das vermutlich nicht. Ich würde mal mit Kant (1724-1804) anfangen. Oder, damit ich nicht als vorentschieden gelte, wer nachrechnen möchte mit John St. Mill (1806-1873) – dann aber auch wirklich rechnen, nicht nur modellieren!

Markus Gabriel

Markus Gabriel ist auch ein ganz Schneller – worauf er, glaube ich, durchaus stolz ist. Er hat sich früh in Sachen Corona-Maßnahmen geäußert. Immer wieder auch kritisch. Man muss dem nicht in allem zustimmen – und ich tu’s auch nicht – aber die Diskussion über die Richtigkeit und Rechtmäßigkeit der Maßnahmen verdient doch Gehör. In Die Welt bezeichnete er „Deutschlands postfaktische Pandemiepolitik“ als „einen Anschlag auf die Vernunft, der sich längst nicht mehr sinnvoll durch den Hinweis auf die weiterhin allzu reale Bedrohung durch das Virus rechtfertigen lässt“. Gabriel hat auch am „Manifest der offenen Gesellschaft“ mitgewirkt. Dabei geht es um den „ruhigen und angstfreien“ Austausch jenseits „der erregten Zuspitzung in den Medien, weg von Konformitätsdruck und einseitiger Lagerbildung in der Gesellschaft und weg von einem unguten Schwarz-Weiß-Denken. gefragt ist die grundsätzliche Offenheit auch für den möglichen Irrtum, in der grundsätzlichen Annahme, dass auch das Gegenüber im Streit von besten Motiven geleitet sein  und grundsätzlich recht haben kann„. 

Cancel Culture

flickr.com

Gegen diese Stimmung versucht sich auch das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ zu wenden. Das kann sich vor Aufnahmeanträgen im Moment kaum mehr retten. „Um Leib und Leben muss hier niemand fürchten. Um die Möglichkeit, vom Mainstream abweichende Meinungen vertreten zu können, ohne angefeindet oder vom fachlichen Austausch ausgeschlossen zu werden, in vielen Bereichen schon. Wenn jetzt nichts getan wird, um die Debattenkultur zu stärken, wird von einer Wissenschaft, die sich auch unzeitgemäße Betrachtungen erlaubt und neue Denkwege einschlagen kann, bald nicht mehr viel übrig sein.“ So Maria-Sibylla Lotter, Professorin für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. 

Natürlich ist das ein wenig zugespitzt. Und nicht jedes Opfer ist wirklich ein großer Verlust. Man kann schon streiten, ob Christoph Lütge die beste Wahl für die Besetzung des bayrischen Ethikrats ist. Er wurde nun abberufen, also rausgeschmissen, weil er sich mehrfach öffentlich und sehr deutlich gegen die Corona-Politik der Bayrischen Staatsregierung ausgesprochen hat. Das geht natürlich nicht. Der Ethikrat darf natürlich nicht denen widersprechen – und schon gar nicht öffentlich, die ihn bezahlen oder bezahlen lassen (bezahlen tun’s ja immer noch „wir“). 

Besser ist da schon, Corona als Chance für die Philosophie zu sehen und niemanden mit seinem Blablabla zu „semantischen und/oder praktisch-existenziellen Grundsituationen“ zu enttäuschen – ganz „konkret“!

Schreibe einen Kommentar