Kultur der Zurückhaltung & ziviler Ungehorsam

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Lord Sumption hat sich nun seit Monaten kritisch geäußert: für manche eifrige Pandemie-Kämpfer*innen gilt er nun wohl als „Corona-Leugner“ oder „Covidiot“. Also einfach ignorieren? Einfach nicht hinhören? Diejenigen, die sich sicher sind, dass sie Recht haben, sollten jetzt aussteigen und vielleicht die Neuigkeiten der Bundesregierung oder einer ihrer Pressestellen lesen – sie verschwenden sonst nur ihre Zeit mit gefährlichem Unsinn.

 

Für diejenigen, die andere Meinungen noch ernstnehmen wollen, hat Freddie Sayers mit Lord Sumption ein Gespräch geführt, das zu denken gibt.

Ein „Liberaler mit kleinen L“

Lord Sumption ist mit seiner Kritik am Lockdown angeeckt. Er selbst sieht sich als einen „Liberalen mit kleinem L“, die nun zu einer angefeindeten Minderheit wurden. „Ich betrachte mich als Liberalen mit kleinem L. Bis zum Covid-Ausbruch war das eine sehr unverdächtige Position der Mitte. Seit dem Ausbruch ist sie kontrovers geworden, in den Augen einiger Leute sogar extrem. Das ist, denke ich, ein Hinweis darauf, wie weit sich unsere nationale Diskussion bewegt hat.

Freiheit (liberty) ist für ihn ein hoher, aber kein absoluter Wert. Natürlich gibt es „extreme“ Situationen, in denen sie eingeschränkt werden kann. Lord Sumption tut sich hier als Liberaler in der angelsächsischen Tradition eines John Locke, Adam Smith oder John Stuart Mill etwas schwer. Man kennt hier Konventionen (conventions) und redet nicht von „unantastbaren Grundrechten“. So „extrem“ muss die Situation ja gar nicht sein, die Freiheit begrenzt: die Freiheit des einen endet immer an der Freiheit des anderen und das Maß der Bewertung sind die „Grundrechte“, die rechtlich beschreiben, was eine Person zur Person macht.

Verhältnismäßigkeit

Jedenfalls – so meint Lord Sumption – ist COVID-19 keine solche extreme Situation: sie verursacht zwar „zusätzliche“ Tote (additional deaths), aber 99% der Bevölkerung bleiben ohne schwere Krankheitsverläufe weitgehend unbetroffen. Tatsächlich ergebe sich für den Einzelnen nur eine leichte Erhöhung des Risikos (a smal increase of risk) und das Durchschnittsalter der Betroffenen ist deutlich höher als die Lebenserwartung.[1] Aber natürlich sei das eine Abwägungssache und zwar keine wissenschaftlich-technische, sondern eine unter ethischen Gesichtspunkten (a judgement of value). Dabei müsse man auch die Folgen in Betracht ziehen, die eine Bekämpfung von COVID-19 hervorrufen. Eine Therapie darf natürlich niemals zu einer (dauerhaften) Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Erkrankten oder bislang gesunder führen. Eine Abwägung in diesem Sinne hat freilich niemals stattgefunden.[2]

Das chinesische Modell

Stattdessen wurde hilf- und planlos dem chinesischen Vorbild des Lockdowns gefolgt. Neil Ferguson, der mit seinen Horrorszenarien von 500.000 Toten Briten, die für 2020 zu erwarten seien (und 2 Millionen US-Amerikaner), die Lockdown Politik maßgeblich befeuert hat, hat in einem Interview mit der Times eingeräumt, dass sie aus Mangel an alternativen Maßnahmenvorschlägen, sich tatsächlich das chinesische Modell zum Vorbild genommen hatten.[3] Lord Sumption hält das für fatal: China sei ein totalitäres Regime und hat keine Freiheitskultur im westlichen Sinn (no culture of liberty), sondern folgt dem Prinzip, das der Einzelne dem Gemeinwohl bedingungslos untergeordnet werde (the individual persons are simple tools of collective policy). Es galt bislang als undenkbar, Menschen gesamtgesellschaftlich einzusperren (unthinkable to lock people up). Damit sei mit den in Jahrhunderten gewachsenen tragenden Überzeugungen der westlichen Kultur (basic collective conventions) gebrochen worden (we have cross the threshold), die freilich als Grundlage für Demokratie entscheidend seien.

Zerbrechliche Demokratie

Die Demokratie ist von Natur aus zerbrechlich. Wir haben die Vorstellung, dass sie ein sehr robustes System ist. Aber Demokratien gibt es erst seit etwa 150 Jahren. In diesem Land kann man sagen, dass sie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts existieren – sie sind nicht die Norm. Demokratien galten in der Antike als inhärent selbstzerstörerische Regierungsformen.“ Lord Sumption verweist insbesondere auf Aristoteles, der die Gefahr einer Selbstzerstörung sah, wenn grundlegende Überzeugungen nicht mehr greifen. „Nun ist es durchaus bemerkenswert, dass Aristoteles‘ düstere Vorhersagen über das Schicksal der Demokratien durch die Erfahrungen des Westens seit Beginn der Demokratie falsifiziert wurden. Und ich denke, man muss fragen, warum das so ist.“ Lord Sumption sieht den Grund in einer „gemeinsame[n] politische[n] Kultur der Zurückhaltung. Und diese Kultur der Zurückhaltung, die, weil sie von der kollektiven Mentalität unserer Gesellschaften abhängt, extrem zerbrechlich ist, ziemlich leicht zu zerstören und extrem schwer wiederherzustellen.

„Kultur der Zurückhaltung“

Eine liberale „Kultur der Zurückhaltung“ erlaubt dem Staat keine absolute Gewalt über seine Bürger: „[Thomas] Hobbes glaubte an den absoluten Staat – es musste keine Monarchie sein, aber es musste absolut sein. Er sagte, dass es nichts gäbe, außer dass der Staat tatsächlich Menschen tötet, wozu der Staat nicht berechtigt sein sollte. Er war, sagen wir mal, kein Anhänger der Freiheit. Das liegt an seiner Erfahrung mit der Anarchie, die aus dem Bürgerkrieg in England resultierte. Hobbes glaubte, dass wir unsere Freiheiten bedingungslos und dauerhaft in die Hände des Staates abgeben, im Gegenzug für Sicherheit. Nun ist dies ein Modell, das seit dem Aufkommen einer erkennbaren Form des modernen Liberalismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts fast universell abgelehnt wird. Aber in der aktuellen Krise haben wir dazu geneigt, darauf zurückzugreifen. Und ich denke, dass das eine sehr auffällige und sehr unheimliche Entwicklung ist.

Die westlichen Demokratien sind vor allem demokratische Rechtsstaaten, die Gewaltenteilung auszeichnet und vielfach – wie in Deutschland – den Zugriff des Staates durch Zusicherung von unveräußerlichen Grundrechten schützen. Aber auch Grundrechte schützen – wie man nun sieht – in einer aufgeheizten Stimmung der Angst nur solange, wie die Bürger, die demokratisch legitimierten Gewalt begrenzen. Lord Sumption verweist auf John Stuart Mill: „John Stuart Mill betrachtete die öffentliche Stimmung und die öffentliche Angst als die Hauptbedrohung für eine liberale Demokratie. Die Tendenz wäre, dass sie die Politik in einer Weise beeinflusst, die die Insel, innerhalb derer wir berechtigt sind, unser Leben zu kontrollieren, auf so gut wie nichts verkleinert. Das ist es, was er als die große Gefahr ansah. Es ist nicht zu seinen Lebzeiten passiert; es ist in vielen Ländern im 20. Jahrhundert passiert, und es passiert jetzt in Großbritannien.

Ziviler Ungehorsam

Was nun aber, wenn der Staat übergriffig wird, wenn demokratische Regierungen dem chinesischen Weg folgen und sich über Grundwerte und -rechte im Namen des Gemeinwohls hinwegsetzen? Hierzu sagt Lord Sumption – wie gesagt einer der ehemals obersten Richter von Britannia – Erstaunliches. Zurecht unterscheidet er zwischen Moral und Recht und betont, dass es nicht per se unmoralisch sei, einem Gesetz nicht zu folgen, selbst wenn es demokratisch legitimiert ist![4] Das mag noch hingehen. Dass er allerdings die Gesetzgebung und Verordnungspraxis bei der COVID-19 Bekämpfung potentiell als einen solchen Fall sieht, das ist tatsächlich erstaunlich: „Ich finde es traurig, dass wir die Art von Gesetzen haben, die Menschen mit Bürgersinn möglicherweise brechen müssen. Ich habe in dieser Hinsicht immer eine Linie vertreten, die sich wahrscheinlich von der der meisten meiner früheren Kollegen unterscheidet. Ich glaube nicht, dass es eine moralische Verpflichtung gibt, dem Gesetz zu gehorchen… Man muss ein hohes Maß an Respekt haben, sowohl für das Ziel, das das Gesetz zu erreichen versucht, als auch für die Art und Weise, wie es erreicht wurde. Manche Gesetze laden zum Übertreten ein. Ich denke, dies [nämlich das Infektionsschutzgesetz] ist eines von ihnen.

Und tatsächlich hält er, Lord Sumption!, bürgerlichen Ungehorsam und Nichtbefolgen der Maßnahmen für geradezu naheliegend: „Manchmal ist das Öffentlichkeitswirksamste, was man mit despotischen Gesetzen (!) wie diesen tun kann, sie zu ignorieren. Ich denke, dass, wenn die Regierung lange genug mit dem Einsperren von Menschen beharrt, abhängig von der Schwere der Einsperrung, ziviler Ungehorsam ist wahrscheinlich das Ergebnis sein. Es wird diskreter ziviler Ungehorsam auf die klassische englische Art sein – ich glaube nicht, dass wir auf die Straße gehen und Transparente schwenken werden. Ich denke, wir werden einfach in aller Ruhe beschließen, dass wir dem Ganzen keine Beachtung schenken werden. Es gibt einige Dinge, die man beachten muss: Man kann nicht in ein Geschäft gehen, wenn es geschlossen ist. Andererseits kann man Freunde auf einen Drink einladen, egal was Herr Hancock sagt. Das machen die Leute in gewissem Maße schon.

Zwar lehnt er (persönlich) große, demonstrative Aktionen ab und erachtet sie für ungeeignet. Aber jeder Einzelne wird mit sich ins Reine kommen müssen, wie er mit den unverhältnismäßigen, übergriffigen und Grundrechte außer Kraft setzenden Maßnahmen umgehen will. Jedenfalls sieht er den Zeitpunkt dafür für zivilen Ungehorsam längst gekommen: „Jeder wird seine eigene, unterschiedliche Schwelle haben. Aber ich denke, dass wir in den Augen vieler Leute, die die Schließung ablehnen, und einiger Leute, die sie befürworten, diesen Punkt schon vor langer Zeit erreicht haben.

Und was lernen wir?

Der Zuschauer ist verblüfft. Freddie Sayers, der die Positionen Lord Sumptions ja durchaus kennt – sie geben schließlich den Anlass zum Gespräch – scheint dann doch auch überrascht. Er fasst die Sache sicherheitshalber nochmal zusammen und fragt dann – zum guten Ende gleichsam – noch nach dem, was wir für die Zukunft aus der Krise lernen könnten. Der Antwort von Lord Sumption ist nichts mehr hinzuzufügen:

Mein erster Vorschlag ist, dass Regierungen Informationen nicht als ein Werkzeug zur Manipulation des öffentlichen Verhaltens behandeln sollten. Sie sollten ruhiger sein als die Mehrheit ihrer Bürger; sie sollten völlig objektiv sein. Meine zweite Lektion wäre, dass Regierungen, die sich mit wissenschaftlichen Themen befassen, sich nicht von einer einzelnen Fraktion von Wissenschaftlern beeinflussen lassen sollten. Sie sollten immer prüfen, was ihnen gesagt wird, so wie z.B. Richter Expertenmeinungen prüfen, indem sie einen Gegenexperten produzieren und herausfinden, welcher Satz von Ansichten am besten passt.

[1] Man darf wohl hinzusetzen: das erhöhte Risiko für den Einzelnen – insbesondere wenn er einer Risikogruppe angehört – ist gesamtgesellschaftlich nicht so groß, dass gesamtgesellschaftliche Maßnahmen getroffen werden sollten.

[2] Im Übrigen wurde nie der Nachweis der Wirksamkeit der Maßnahmen geführt, die die Grundrechte außer Kraft gesetzt haben und Millionen Existenzen gefährdet oder zerstört haben. Dort wo überhaupt Untersuchungen angestellt wurden, zeigte sich, dass die versprochene Wirkung ausblieb und sich sogar gegenteilige Effekte zeigten.

[3] So Lord Sumption im Interview.

[4] Man könnten sagen, dass sei fast trivial: Verstöße gegen Gesetze oder Verordnungen sind nicht per se unmoralisch, wenn die Unterscheidung zwischen Recht und Moral eine „kategorische“ und nicht nur graduelle sein soll (Recht als Teilmenge der Moral). Das gilt nicht nur für „unmoralische“ Gesetze. Auch wer gegen das durchaus sinnvolle Waffengesetz verstößt, weil er ein Messer mit 13 cm langer feststehender Klinge trägt, wird dadurch nicht 1 cm unmoralisch.

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