„Warum bist du so zeitig gekommen, oh Kriton? Oder ist es nicht noch früh?“[1] So werden wir in das berühmte Gespräch zwischen Sokrates und Kriton geworfen, in dem Kriton seinen Freund zur Flucht aus dem Gefängnis und weg von Athen überreden will. Sokrates wurde wegen Asebie zum Tode verurteilt und harrt nun im Gefängnis der Vollstreckung. Flucht ist möglich und vermutlich wäre man gar nicht so böse, wenn man das Urteil nicht vollziehen müsste. Aber die Zeit wird knapp, denn es steht zu befürchten, dass die Vollstreckung – der wir dann im platonischen Dialog Phaidon beiwohnen können – in drei Tagen erfolgen wird.
Wir wissen also natürlich wie die zeitgenössischen Leser, dass Kriton nicht erfolgreich war. Aber das macht die Sache nicht weniger spannend. Manche Geschichten leben davon, dass wir nicht wissen, wie sie ausgehen: happy end oder böses Ende, bekommen sich die Liebenden oder oder geht’s wie so oft daneben. Von anderen Geschichten kennen wir ihr Ende und wollen unbedingt wissen, wie es dazu kam. Natürlich wird Robinson Crusoe gerettet, wie hätte er sonst darüber schreiben können. Aber es interessiert uns brennend, wie es zur Rettung kam und wie er so lange überleben konnte. Bei philosophischen Geschichten wie dem Kriton geht es dabei um Gründe, die erwogen wurden und den Ausschlag gegeben haben.
Kriton heute?
Der Kriton kann deshalb auf besonderes Interesse rechnen, weil es dabei eben nicht um eine bloß akademische Frage im handlungsentlasteten Raum des philosophischen Seminars geht. Es geht auf Leben und Tod. Der Prozess gegen Sokrates und seine Verurteilung gilt traditionell als Beispiel für das angespannte Verhältnis von Macht und Vernunft, Philosophie und Politik. Das Todesurteil gegen Sokrates ist ein zivilisatorischer Skandal, der sich seither in Zensur und strafrechtlicher Verfolgung von unliebsamen „Intellektuellen“ bis hin zu Julian Assange immer wieder ereignet. Und obgleich doch alles für die Flucht zu sprechen scheint, lässt sich Sokrates nicht umstimmen. Der Kriton gilt deshalb in der Tradition als kontrovers diskutiertes Beleg für die Loyalitätspflicht der Bürger gegenüber dem Machtmonopol des Staats: sind wir also verpflichtet, staatlichen Verfügungen auch dann folgen, wenn wir sie für falsch halten und sie sich gegen uns richten? Würden wir in ähnlicher Situation wohl zur gleichen Entscheidung kommen? Sollte sich Julian Assange also mit sokratischen Argumenten in sein Schicksal fügen?
„Folge mir und rette Dich!“
Kriton versucht seinen Freund zur Flucht zu überreden. Es sind die üblichen Argumente, die man in solchen Fällen vorbringt: man dürfe sich Verpflichtungen nicht einfach entziehen und wäre es seiner Familie und Freunden schuldig.[2] Kriton beruft sich auf den gesunden Menschenverstand und „Wie-sieht-das-denn-aus“-Rücksichten: man wird nicht glauben, dass Sokrates nicht fortgehen wollte und es den Freunden anrechnen, ihm nicht zur Flucht verholfen zu haben.
Kriton behandelt das Ganze als eine finanzielle Investitionsentscheidung: Alles hat seinen Preis. Der für die Flucht ist nicht allzu hoch. Es gelte: Geld gegen Leben. Er müsse sich keine Sorgen machen, alles ist bereits organisiert. Also: „folge mir und rette Dich!“ [3]
Das Vernunft-Prinzip
Natürlich überzeugt das – wir wussten es vorher – Sokrates nicht. Und uns? Lassen wir das mal offen, in welchem Sinne es uns überhaupt überzeugen soll. „Lieber Kriton, Deine Sorge um mich ist wirklich sehr schätzenswert“,[4] bedankt sich Sokrates bei ihm wie wir das gelegentlich bei unseren überängstlichen Müttern tun, wenn sie sich mal wieder in Dinge einmischen, die sie nicht verstehen. Sorgen kann man sich eben auch zu viel machen. Sie können grund- und haltlos und völlig falsch sein. „Wir müssen also erwägen, ob dies wirklich tunlich ist oder nicht.“[5] Es geht alles um die Frage, ob die Handlung, zu der Sokrates durch Kriton aufgefordert wird, richtig oder falsch ist. Und Sokrates beruft sich auf eine Maxime, der er „nicht erst jetzt, sondern immer schon“[6] folge, nämlich „daß ich nichts anderem von mir gehorche als dem Satze, der sich bei der Untersuchung als der beste zeigt. Das aber, was ich schon ehedem in meinem Reden festgesetzt habe, kann ich nun nicht verwerfen, weil mir dieses Schicksal geworden ist; sondern jene Reden erscheinen mir noch ganz als dieselben, und ich schätze und ehre sie noch ebenso wie vorher.“[7] Die Maxime, nennen wir sie mal das „Vernunft-Prinzip“, gilt unbedingt und wird von seiner jetzigen Lage nicht relativiert. Es ist keine Schönwetter-Philosophie für die akademischen Gärten. Es muss sich am harten Leben beweisen. Das ist die erste grundlegende Botschaft, für die er sich bei Kriton die Zustimmung holen will. Aber er sucht sie nicht sofort und direkt zu gewinnen – das würde den etwas schwerfälligen Kriton wohl überfordern. Er wüsste gar nicht, welche Bedeutung das hat, dem er zustimmen würde.
Deshalb geht Sokrates den Umweg über die Meinungen, die Kriton ins Spiel gebracht hat.[8] Der common sense versteht nicht, warum Sokrates das Angebot zur Flucht ausschlägt. Die „öffentliche Meinung“ würde ihm und den Freunden Vorwürfe machen. Aber auf die Meinungen der Vielen dürfe man gar nicht so viel geben. Meinungen seien mehr oder weniger hilfreich und gut. Die guten, denen man vertrauen kann, sind die der Vernünftigen. Dem kann Kriton zustimmen. Natürlich will er sich nicht mit der Menge gemein machen. Sokrates unterstützt das Argument mit einem für ihn typischen Vergleich. An wem soll man sich orientieren, an der Menge oder den Sachkundigen? Die Antwort ist klar: follow the science! Wer sich um die Gesundheit seines Körpers sorgt, der folgt dem Rat eines guten Arztes oder eines Fitness Coachs. Das Argument ist richtig und führt doch nicht recht weiter, denn es sagt uns nicht, wer ein guter Arzt ist und wer ein geeigneten Personal Trainer ausmacht.[9]
Aber unterstellen wir mal, das könnten wir cum grano salis wissen: ein guter Handwerker zeigt sich im Tun. Wie steht es aber mit dem, wonach eigentlich gesucht wird, dem Tunlichen. Ob es richtig ist zu fliehen oder nicht vielmehr zu bleiben, dabei will man sich nicht auf die Beurteilung der Menge verlassen. „Also keineswegs, o Bester, haben wir das so sehr zu bedenken, was die Leute sagen werden von uns, sondern was der eine, der sich auf Gerechtes und Ungerechtes versteht, und die Wahrheit selbst.“[10] Aber wo ist der Fachmann, die Fachfrau fürs Gerechte? Alena Buyx und ihre Ethikkommision? Nicht wirklich. Die Kirchen? Selbst Gläubige werden bei einigen doch sehr in Verruf gekommenen Bischöfen auf die priesterliche Autorität nicht unbedingt setzen wollen.
Das Ethik-Prinzip
Und schon wieder geht Sokrates einen bedeutsamen Umweg. Denn diese Frage, wer denn als Experte fürs Gerechte gelten dürfe,[11] umgeht er mit einer Rückbesinnung auf eine weitere Maxime, eine „Lebensregel“, die neben das „Vernunft-Prinzip“ gestellt wird: Soll auch diese Maxime, wir können sie Ethik-Prinzip nennen, von „uns noch fest stehen oder nicht, daß man nämlich nicht das Leben am höchsten achten muß, sondern das gut Leben“.[12] Ethik ist nicht Biologie. Es geht um eine Ausgestaltung des Lebens.
Fürs gute Leben muss man freilich leben und überleben. Das ist die Botschaft der Menge und die Überzeugung, der Kriton folgt. Aber Leben ist nicht vorrangig, dem dann noch eine richtige Gestaltung gegeben werden könnte. Nur lebende Wesen können nachdenken, aber alles Nachdenken steht immer unter der Perspektive des guten Lebens. Menschliches Leben kann gar nicht anders geführt werden. Wer das Überleben über das gute Leben stellt entmenschlicht sich. Man kann das Überleben als Teil des guten Lebens sehen – und so ist es wohl von Kriton gemeint. Das menschliche Leben steht immer vor der Wahl, sich aus guten Gründen gegen sich zu entscheiden. Die Idee des guten Lebens ist für das Führen des Lebens unhintergehbar.
Darauf hat uns der platonische Sokrates schon beim Arzt und beim Gymnastiklehrer vorbereitet. Beide zielen auf gedeihliche Gesundheit, einem hohen Gut, das mit anderen Gütern in Konkurrenz steht: wir bringen uns und unsere Gesundheit aus guten Gründen (willentlich und wissentlich) in Gefahr – z.B. um andere Menschen zu schützen. Wer nicht auf den Sachverstand der Sachkunden hört, dem entsteht Übel und er schadet ggf. seiner Gesundheit. Zerrüttete Gesundheit freilich, so gesteht Kriton ein, macht Weiterleben nicht wünschenswert. Um wie viel schlimmer ist eine zerrüttete Seelenlage. Auch hier stimmt Kriton zu und kommt damit auf einen rutschigen, argumentativen Schlitterkurs. Was tun, wenn das körperliche Überleben zu einer zerrütteten Seelenverfassung führt. Das Richtige zu tun, heißt eben auch, sich nicht zu schaden.
Und noch eine kleine und sehr feine Verschiebung. Die Frage war zunächst, ob es (für Sokrates) richtig ist zu fliehen und sich der tödlichen Strafe zu entziehen. Wer das Urteil für falsch oder gar skandalös hält, von dem ist zu erwarten, dass er sie mit „Ja, rette Dich!“ beantwortet. Nun formuliert er die Frage neu als eine Frage der Gerechtigkeit: „Also von dem Eingestandenen aus müssen wir dieses erwägen, ob es gerecht ist, dass ich versuche, von hier fortzugehen, ohne dass die Athener mich fortlassen, oder nicht gerecht. Und wenn es sich als gerecht zeigt, wollen wir es versuchen: wo nicht, es unterlassen.“[13] Und das findet sofort die Zustimmung Kritons. Da das Urteil ungerecht ist, scheint alles auf Flucht gestellt. Sokrates aber ermahnt seinen Gesprächspartner allerdings, dem Ergebnis der gemeinsamen Untersuchung , die man nun vornehme, dann auch zu folgen und aufzuhören „immer dieselbe Rede zu wiederholen“. Platon lässt Kriton darauf vorsichtig antworten: „Das will ich versuchen.“[14]
Gerecht immer – Ungerecht nimmer
In welchem Sinne kann nun davon gesprochen werden, dass die Flucht aus dem Gefängnis gerecht sei? Von Gerechtigkeit sprechen wir in der Regel bei der Ver- oder Zuteilung von Gütern. Dass jemand ein größeres Stück vom Kuchen bekommt oder Dinge tun darf, die einem anderen nicht erlaubt sind, das kommt uns gerecht oder ungerecht vor. Gerechtigkeit bezieht sich auf Rechte (und Pflichten), die wir gegenüber anderen haben. Wir fordern von anderen Gerechtigkeit und andere fordern sie von uns. Gerecht ist etwas, wenn sie den Rechten anderer gerecht wird. Wir werden sehen, dass Sokrates ihr noch einen anderen Charakter geben wird, nämlich den des Sich-gerecht-Werdens. Dazu wählt er wieder einen Umweg, nämlich den übers Unrecht-Tun.
„Sagen wir, man dürfe auf gar keine Weise vorsätzlich unrecht tun? Oder auf einige zwar, nur auf andere nicht? Oder ist auf keine Weise das Unrechthandeln weder gut noch schön, wie wir oft ehedem übereingekommen sind.“[15] Sokrates betont das gemeinsame Verständnis, das sie in ihrem bisherigen Leben geleitet hätte. Kriton bestätigt stolz, ehr- und standesbewusst, dass Unrecht tun immer und unter allen Umständen schändlich sei. Würden wir ebenfalls zustimmen? Weiß Kriton wirklich, worauf er sich mit diesem Zugeständnis einlässt? Wir ahnen natürlich, wohin uns die sokratische Argumentation führen wird: also darf auch „der, dem Unrecht geschehen ist, nicht wieder Unrecht tun, wie die meisten glauben, wenn man doch auf keine Weise Unrecht tun darf?“[16] Entscheidend ist, dass Unrecht nicht mit Unrecht vergolten werden darf – wie das die griechische Adelsethik und nicht nur die – vorsah.
„Ich sage also weiter – oder frage vielmehr – muss, wer mit einem anderen übereingekommen ist, dass es gerecht sei, dem nachkommen, oder darf er betrügen?“ Kriton stimmt entschlossen zu, er muss die Übereinkunft erfüllen. Man muss zu dem stehen, was man gesagt hat – wenn es denn vernünftig gesagt war.
Die sprechenden Gesetze
Nun geht es in die letzte entscheidende Runde:
„Sokrates: Von hier aus betrachte es genauer[17]. Wenn wir, ohne die Stadt zu überreden, von hier weggehen, ob wir dann jemanden schlecht behandeln, und zwar die, welchen es am wenigsten geschehen sollte, oder ob nicht? Und ob wir an dem festhalten, was wir Billiges versprochen haben, oder nicht?
Kriton: Darauf weiß ich nicht zu antworten, Sokrates, was du fragst; denn ich verstehe es nicht.“ [18]
Kritons Möglichkeiten sind nun endgültig erschöpft. Sokrates hatte ihn aufgefordert, die Sache mit ihm zu besprechen und zu durchdenken. Aber er bekennt, nicht recht zu verstehen, was eigentlich untersucht werden und worauf er sich konzentrieren soll. Sokrates nimmt dabei eine Formel auf, die später erläutert und seitdem in der staatstheoretischen und rechtsphilosophischen Auslegung des Krition immer wieder heftig diskutiert wurde: überzeugen oder gehorchen, siegen oder sich ergeben: καὶ ἢ πείθειν ἢ ποιεῖν ἃ ἂν κελεύῃ.[19]
Aber der Reihe nach. Das Gespräch wird zu einem inszenierten Selbstgespräch, das durch kurze bestätigende Antworten Kritons gegliedert ist. Sokrates führt ein Gespräch mit sich selbst, nämlich der Personifikation der athenischen Gesetze, die für seine kulturelle Herkunft stehen.[20] Die Gesprächsführung wird prosopopoetisch durch „die Gesetze“ oder das Gemeinwesen[21] übernommen, die Sokrates zum mehr oder weniger passiv Antwortenden machen.
Die Gesetze (νόμοι), damit sind nicht positive Gesetze als niedergelegte Rechtsvorschriften gemeint. Es ist die rechtliche Verfasstheit der athenischen Polis selbst, das, was Athen als politische Einheit ausmacht. Nomos ist in Abgrenzung zur Natur (φύσις), die zweite kulturelle Natur derer, die unter ihm leben.
Es war Unrecht …
„Die Gesetze“ werfen Sokrates vor, er würde die Polis in Gefahr bringen, die als Gemeinwesen nicht von der Willkür einzelner abhängen dürfe. „Entschiedene Rechtssachen“ dürften nicht missachtet werden.[22] „Oder sollen wir zu ihnen sagen“, fragt Sokrates Kriton, „‘Ja, die Stadt hat uns Unrecht getan und die Klage nicht recht gerichtet?’ Dies, oder was sollen wir sagen?“ Natürlich bekommt er von Kriton die entschiedene Antwort: „Dies, beim Zeus!“; er sieht sich offenbar endlich verstanden.[23] Wenn es Unrecht war, dann ist Widerstand erlaubt oder gar geboten. Allerdings nur, das wurde eingestanden, wenn dadurch nicht selbst Unrecht getan würde.
… aber es ging alles mit rechten Dingen zu …
Sokrates ist Sohn der Stadt, die ihn zum Tode verurteilt hat. Die Gesetze halten ihm vor, dass er alles, was ihn ausmacht, der Stadt verdankt und er ihr mehr Dankbarkeit und Gehorsam schuldet als den Eltern. Und tatsächlich scheint Sokrates der Stadt seiner Herkunft nicht viel vorwerfen zu wollen.
.. aus freier Entscheidung
Die Gesetze Athens gewähren doppelte Freiheit. Jedem Athener steht es frei, die Stadt zu verlassen und sich eine andere Heimat zu suchen. Sokrates ist in Athen geblieben, er hätte in all den Jahren in denen er in Athen lebte, die Stadt verlassen können und tat es nicht, obgleich er vieles an Athen zu kritisieren hatte und bei anderen Städten, in die er hätte gehen können manches „wohlgeordnet“ und vorbildlich fand (Sparta und Kreta z.B.). Und jedem steht es frei, die Polis mitzugestalten. Er kann sich in den politischen Willensbildungsprozess einbringen. „Wer von euch aber geblieben ist, nachdem er gesehen, wie wir die Rechtssachen schlichten und sonst die Stadt verwalten, von dem behaupten wir dann, dass er uns durch die Tat angelobt habe, was wir nur immer befehlen möchten, wolle er tun.“[24] Und hier formulieren „die Gesetze“ das berüchtigte „Überzeugen oder Gehorchen“, das seither viel diskutiert wird. Wir werden dem gleich noch nachgehen. Aber es ist nicht das entscheidende Argument.
Sich treu bleiben
„Die Gesetze“ verweisen im inneren Dialog nicht nur auf die nachteiligen Folgen, die der „Ungehorsam“ für den Staat hätte. Was aber würde der Flüchtige gewinnen? Nichts Gutes. Er wird ein aus dem eigenen Leben Vertriebener sein. „Daß du aber als ein alter Mann, dem wahrscheinlich nur noch wenig Lebenszeit übrig ist, dich nicht gescheut hast, mit solcher Gier nach dem Leben zu gelüsten mit Übertretung jedes heiligsten Gesetzes, wird das niemand sagen?“[25] Er würde sich „lächerlich“ machen und müsste, aus dem Gefängnis geflohen, „kriechend vor allen Menschen“ leben. Er wird allen als einer gelten, auf dessen Wort nicht zu zählen ist und der „Verträge und Versprechungen“ beliebig übertritt.
„Die Gesetze“ argumentieren auf dem Niveau Kritons: sie beziehen sich auf „die öffentliche Meinung“. Das wird Sokrates solange nicht beeindrucken als es nicht seinen beiden Maximen, dem „Vernunft-“ und dem „Ethik-Prinzip“ folgt. Genau das aber tut es. Auch „die öffentliche Meinung“ kann mal recht haben. Und im fiktiven Gespräch berufen sich „die Gesetze“ auf Sokrates selbst. Er wird das, was ihn zeitlebens geleitet hat, verraten ob des bloßen Überlebens willen und damit sich Übles zufügen und zwar das denkbar Schwerste, nämlich die Aufgabe dessen, was (s)eine Person ausmacht:
„wenn du jetzt hingehst, so gehst du hin als einer, der Unrecht erlitten hat, nicht zwar von uns Gesetzen, sondern von Menschen. Entfliehst du aber, so schmählich Unrecht und Böses mit gleichem vergeltend, deine eignen Versprechungen und Verträge mit uns verletzend und allen denen Übles zufügend, denen du es am wenigsten solltest, dir selbst nämlich,…“[26]
Exkurs: Apologie
„Die Gesetze“ verweisen dabei ausdrücklich auf das, was Sokrates selbst zu seiner Verteidigung vor Gericht vorbrachte. Er war nämlich im Rahmen seiner Apologie selbst aufgefordert, sich zu einer Strafe äußern, die er bei einer Verurteilung angemessen fände. In der für Sokrates typischen Ironie fordert er dort eine Belohnung, nämlich die Speisung im Pyrtaneion mit Zuerkennung der Ehrenbürgerwürde. Vor allem aber lehnt er die Verbannung als Ersatz der Todesstrafe dort ausdrücklich ab:
„Aber die Verweisung soll ich mir wohl zuerkennen. Die möchtet ihr mir vielleicht wohl zugestehen.
Aber von großer Lebenslust müßte ich wohl besessen sein, wenn ich so unvernünftig wäre, daß ich nicht berechnen könnte, da ihr, meine Mitbürger, nicht imstande gewesen seid, meine Lebensweise und meine Reden zu ertragen, sondern sie euch zu beschwerlich und verhaßt geworden sind, so daß ihr euch nun davon loszumachen sucht, ob also wohl andere sie leichter ertragen werden. Weit gefehlt ihr Athener.
Ein schönes Leben wäre mir das also, in solchem Alter auszuwandern und, immer umhergetrieben, eine Stadt mit der anderen zu vertauschen. Denn das weiß ich wohl, wohin ich auch komme, werden die Jünglinge meinen Reden zuhören, eben wie hier.“[27]
Den Einwand, immerhin würde er nach seiner Verweisung noch leben, weist er mit Hinweis auf das „Ethik-Prinzip“ ab: das ist „euch wohl am allerschwersten begreiflich zu machen“, dass es nicht ums Leben, sondern um gut Leben geht und – in der Schleichermacherschen Übersetzung – „ein Leben ohne Selbsterforschung gar nicht verdient gelebt zu werden,“[28] weil es nämlich kein menschliches Leben wäre (οὐ βιωτὸς ἀνθρώπῳ).
Niemanden Unrecht tun
Niemanden Unrecht tun, das heißt vor allem nicht sich selbst. Es heißt an den beiden Maximen festhalten und ausgerichtet am „Ethik-Prinzip“ des guten Lebens dem zu folgen, was einem nach reiflicher Überlegung der Gründe als das beste erscheint.[29] Sokrates stellt die philosophisch-ethische Besinnung über alles andere. Und darum geht es im Kriton eigentlich: Platon führt uns vor, wie philosophisches Nachdenken auch in Situationen handlungsleitend bleibt, in denen andere aus Beklemmung und Todesangst „den Kopf verlieren“.
Dabei sind die sprechenden Gesetze ein merkwürdiger Kunstgriff. Sie haben eigentlich nichts zu sagen. Sie haben ja bereits im Urteil gesprochen. Natürlich sind sie von der Richtigkeit ihres Urteils überzeugt, sonst würde es ja nicht gelten. Und sie gehen keineswegs davon aus, dass dem alle zustimmen – insbesondere der Verurteilte nicht, der deshalb im Gefängnis eingesperrt ist.
„Die Gesetze“ philosophieren nicht. „Die Gesetze“ sind das rhetorische Gegenstück zu Kritons Überzeugungsversuch. Sie zielen auf Kriton, nicht auf Sokrates, der ja nicht überzeugt werden muss. Sie versuchen rhetorisch zu gewinnen, indem sie auf herrschende Meinungen zurückgreifen. Alles wirkt wie ein rhetorisches Übungsstück. Wollen wir ernsthaft glauben, dass das, was Sokrates sie vorbringen lässt, das letzte sokratisch-platonische Wort sei? Die vorgebrachten Meinungen werden nicht untersucht und geprüft, sie werden benutzt. Die Formel „überzeugen oder gehorchen“ gehört dem politisch-rhetorischen Kampf an, nicht der Philosophie. Sie fordert Ergebenheit vom Besiegten, dem ansonsten der (politische) Tod droht.
Alles, was „die Gesetze“ vorbringen, kann man anders sehen und wäre einer „gemeinsamen Überlegung“ bedürftig. Sokrates lässt sie so sprechen und sich so antworten, um Kriton zu überzeugen. Wir können sicher sein, dass Sokrates diesen etwas einfältigen Kriton schnell in Verlegenheit bringen könnte, würde er nach den Gründen seiner Überzeugungen fragen und sie einer Prüfung unterziehen. Ihre Argumentation schwächelt in vielerlei Hinsicht. Sie ist geprägt von einem fragwürdigen paternalistischen Selbstverständnis „der Gesetze“, wonach die Bürger dem Staat wie den Eltern per se Dankbarkeit und Gehorsam schulden. „Verträge und Vereinbarungen“ (συνθήκαι καὶ ὁμολογίαι), die die Bürger durch ihr Verbleiben in der Polis „gleichsam“ geschlossen hätten, dürften nicht gebrochen werden. [30] Aus dem Umstand, dass Sokrates die Stadt nicht verlassen hat, obwohl es ihm frei stand, kann aber kaum geschlossen werden, dass er es nun nicht mehr dürfe.
Das Argument zeigt vielmehr, dass es einzig auf den Willen des Sokrates ankommt. Er muss sich treu bleiben, nicht in dem Sinne des Einhaltens eines Versprechens, das er anderen gegeben hat. Das zentrale Argument des Einhaltens von Versprechen oder Verträgen gilt nicht unbedingt. Natürlich gibt es gute Gründe, ein Versprechen zu „korrigieren“ und das in ihm Ausgesprochene auf das „eigentlich“ Gemeinte zu verstehen. Natürlich dürfen wir einem Betrunkenen seine Wagenschlüssel nicht zurückgeben und uns dabei auf das Einhalten eines „Versprechens“ beziehen, obgleich wir damit meist nur der lästigen Auseinandersetzung entgehen wollen.[31]
Es ist das metaphorisch sich selbst gegebene Versprechen, nämlich der Wille, die beiden Maximen zur Grundlage der eigenen Lebensführung zu machen. Nicht das Schicksal und nicht die mehr oder weniger zufällige Erregtheit durch Neigungen und Triebe leiten das Leben. Sokrates hält „trotz alledem“ an einer vernünftigen Gestaltung des eigenen Lebens fest.
Keine Staatstheorie
Das Thema des Kriton ist nicht der Staat, es ist kein staatsrechtlicher oder rechtsphilosophischer Diskurs. Dass im Kriton so etwas wie eine vertragstheoretische Begründung des Staats vorliegen könnte, scheint mir nicht plausibel. Es geht nicht darum, ob wir dem Staat etwas schulden, dass so weit geht, dass wir gleich einem stalinistischen Tribunal der eigenen Verurteilung zustimmen. Nicht die Partei oder die Polis hat immer Recht; unbedingt sind nur die Vernunft- und die Ethik-Maxime.
Natürlich hat man sich gern auf die Loyalitäts- und Gehorsamspflicht des Bürgers gegenüber dem Staat berufen. Und es mag gute Gründe dafür geben, sie in bestimmten Grenzen einzufordern. Auch demokratische Rechtsstaaten z.B. fordern sie für politische Entscheidungen ein, dann nämlich, wenn die rechtsstaatliche Verfahrensregelungen eingehalten wurden. Das ist ein weites und gefährliches Feld – wie die deutsche Geschichte zeigt.[32] Es wird jedenfalls im Kriton nicht philosophisch behandelt, sondern nur als rhetorisches Kampfmittel der Gesetze zur Sprache gebracht, die damit gehorsame Einwilligung in einen zivilisatorischen Skandal fordern.
Philosophische Lebensführung
Der platonische Dialog Kriton begründet weder die Maximen noch die philosophische Lebensführung, die sich dadurch – z.B. im Unterschied zum sophistischen Geschäft oder dem politischen Machtkampf – ergibt. Platon führt sie vor, er zeigt sie uns in ihrer Wirksamkeit. Deshalb ist wie in allen platonischen Dialogen die Dramaturgie entscheidend. Es geht nicht um eine Theorie, sondern vielmehr darum beispielhaft und vorbildlich zu zeigen, wie das eigene Leben geführt werden kann.
Der Unruhe des Kriton wird die Gelassenheit Sokrates entgegengestellt. Der Dialog stellt uns mit seinem „Warum bist du so zeitig gekommen, oh Kriton?“[33] recht unvermittelt in die ungewöhnliche Gesprächssituation. Kriton war bereits in der Nacht zum schlafenden Sokrates gekommen, um angesichts der knapp werdenden Zeit die Flucht zu organisieren. Aber dann weckt er ihn doch nicht – und auf diesen Umstand weißt uns Platon mit der ausdrücklichen Nachfrage Sokrates hin: „Warum als hast du mich nicht gleich geweckt, sondern dich so still hingesetzt?“ Ja, etwas hat seine Sorge verwandelt: „Nein, beim Zeus, Sokrates, wollte ich doch selbst lieber nicht so lange gewacht haben in solcher Betrübnis. Aber sogar dir habe ich schon lange verwundert zugesehen, wie sanft durch schliefst; und recht wohlbedächtig habe ich dich nicht geweckt, damit dir die Zeit noch recht sanft hingehe. Denn oft schon freilich auch sonst im ganzen Leben habe ich dich glücklich gepriesen deiner Gemütsart wegen, bei weitem aber am meisten bei dem jetzigen Unglück, wie leicht und gelassen du es erträgst.“[34]
Während der eine sorgenvoll nicht in den Schlaf kommt, schläft Sokrates den Schlaf der Gerechten. Es ist diese „Gemütsart“, die Kritons Plan plötzlich durchkreuzt. Kriton stutzt verwundert und erkennt darin Sokrates Lebensführung. Platon führt uns diese Gemütsart der sokratischen Lebenskunst vor. Der Kriton hat nicht die Vermittlung von theoretischem Wissen, sondern die Vorführung praktischen Könnens zum Ziel. Er zeigt, worin die Größe der philosophischen Lebensart liegt, nämlich noch in größter Not sein Leben vernünftig zu führen.
Am Ende des Dialogs verweist Sokrates darauf, dass er vom Logos so eingenommen ist wie die Zuhörer korybantischen Flötenspiels, das sie in orgiastische Trance versetzt. „Also wisse nur, was meine jetzige Überzeugung betrifft, daß, wenn du etwas hiergegen sagst, du es vergeblich reden wirst. Dennoch aber, wenn du glaubst, etwas damit auszurichten, so sprich.“ Aber Kriton hat „nichts mehr zu sagen“. „Wohl denn, Kriton, so laß uns auf diese Art handeln, da uns hierhin der Gott leitet.“ Auf diese Art zu handeln, nämlich philosophisch inspiriert, ist das Erbe der platonischen Philosophie. Man kann es nachlesen und sich vor allem anderen retten.
[1] Kriton 43a: τί τηνικάδε ἀφῖξαι, ὦ Κρίτων; ἢ οὐ πρῲ ἔτι ἐστίν;
[2] 45c-d: „Überdies dünkst du mich deinen eigenen Söhnen untreu zu sein, die du ja auferziehen und ausbilden könntest, nun aber sie verläßt und davongehst, so daß es ihnen, was dich anlangt, ergehen wird, wie es Waisen zu ergehen pflegt im Waisenstande. Denn entweder solltest du keine Kinder erzeugt haben oder auch treulich aushalten bei ihrer Erziehung und Ausbildung.“
[3] 44b: ἀλλ᾽, ὦ δαιμόνιε Σώκρατες, ἔτι καὶ νῦν ἐμοὶ πιθοῦ καὶ σώθητι:
[4] 46b: ὦ φίλε Κρίτων, ἡ προθυμία σου πολλοῦ ἀξία
[5] 46b: σκοπεῖσθαι οὖν χρὴ ἡμᾶς εἴτε ταῦτα πρακτέον εἴτε μή:
[6] 46b: οὐ νῦν πρῶτον ἀλλὰ καὶ ἀεὶ
[7] 46b-c: τοιοῦτος οἷος τῶν ἐμῶν μηδενὶ ἄλλῳ πείθεσθαι ἢ τῷ λόγῳ ὃς ἄν μοι λογιζομένῳ βέλτιστος φαίνηται. τοὺς δὴ λόγους οὓς ἐν τῷ ἔμπροσθεν ἔλεγον οὐ δύναμαι νῦν ἐκβαλεῖν, ἐπειδή μοι ἥδε ἡ τύχη γέγονεν, ἀλλὰ σχεδόν τι ὅμοιοι φαίνονταί μοι, καὶ τοὺς αὐτοὺς πρεσβεύω καὶ τιμῶ οὕσπερ καὶ πρότερον:
[8] Wohlgemerkt: wir müssen immer bedenken, dass Platon Kriton sie ins Spiel bringen lässt, und Platon es ist, der Sokrates so agieren lässte Es ist ein fiktiver Dialog, bei dem jeder Gesprächsschritt vom Autor mit Blick auf das mit dem „Kunstwerk“ Beabsichtigten komponiert ist.
[9] In modernen Zeiten machen wir uns da wieder die Erfahrungen der Menge zu nutze: ihre Erfahrungen, die sie in 5 Sterne Bewertungen einordnen, nehmen wir dann mehr oder weniger ernst.
[10] 48a: οὐκ ἄρα, ὦ βέλτιστε, πάνυ ἡμῖν οὕτω φροντιστέον τί ἐροῦσιν οἱ πολλοὶ ἡμᾶς, ἀλλ᾽ ὅτι ὁ ἐπαΐων περὶ τῶν δικαίων καὶ ἀδίκων, ὁ εἷς καὶ αὐτὴ ἡ ἀλήθεια.
[11] In der vorausgehenden Erwähnung macht er denn auch eine bedeutsame Einschränkung: „wenn es einen Sachverständigen hierin [überhaupt] gibt“
[12] 49b: καὶ τόνδε δὲ αὖ σκόπει εἰ ἔτι μένει ἡμῖν ἢ οὔ, ὅτι οὐ τὸ ζῆν περὶ πλείστου ποιητέον ἀλλὰ τὸ εὖ ζῆν.
[13] 48b-c: οὐκοῦν ἐκ τῶν ὁμολογουμένων τοῦτο σκεπτέον, πότερον δίκαιον ἐμὲ ἐνθένδε πειρᾶσθαι ἐξιέναι μὴ ἀφιέντων Ἀθηναίων ἢ οὐ δίκαιον: καὶ ἐὰν μὲν φαίνηται δίκαιον, πειρώμεθα, εἰ δὲ μή, ἐῶμεν.
[14] 49a: ἀλλὰ πειράσομαι
[15] 49a: οὐδενὶ τρόπῳ φαμὲν ἑκόντας ἀδικητέον εἶναι, ἢ τινὶ μὲν ἀδικητέον τρόπῳ τινὶ δὲ οὔ; ἢ οὐδαμῶς τό γε ἀδικεῖν οὔτε ἀγαθὸν οὔτε καλόν, ὡς πολλάκις ἡμῖν καὶ ἐν τῷ ἔμπροσθεν χρόνῳ ὡμολογήθη; – die Schleiermachersche Übersetzung von ἀδικητέον als „müsse unrecht tun“ ist zwar wörtlich korrekt, aber etwas sperrig.
[16] 49b: οὐδὲ ἀδικούμενον ἄρα ἀνταδικεῖν, ὡς οἱ πολλοὶ οἴονται, ἐπειδή γε οὐδαμῶς δεῖ ἀδικεῖν.
[17] Die Schleichermachersche, mehr als sperrige Übersetzung „Von hier aus nun schaue um“ gibt das griechische ἀθρέω doch sehr missverständlich wieder.
[18] 49e-50a: ἐκ τούτων δὴ ἄθρει. ἀπιόντες ἐνθένδε ἡμεῖς μὴ πείσαντες τὴν πόλιν πότερον κακῶς τινας ποιοῦμεν, καὶ ταῦτα οὓς ἥκιστα δεῖ, ἢ οὔ; καὶ ἐμμένομεν οἷς ὡμολογήσαμεν δικαίοις οὖσιν ἢ οὔ;
Κρίτων
οὐκ ἔχω, ὦ Σώκρατες, ἀποκρίνασθαι πρὸς ὃ ἐρωτᾷς: οὐ γὰρ ἐννοῶ.
[19] 51b.
[20] Es ist also die gesellschaftliche Natur des Sokrates, die hier mit sich selbst spricht. Er ist Athener, ist geprägt durch den Nomos der Stadt.
[21] 50a: οἱ νόμοι καὶ τὸ κοινὸν τῆς πόλεως
[22] 50b: ὃς τὰς δίκας τὰς δικασθείσας προστάττει κυρίας εἶναι.
[23] 50b-c: ἢ ἐροῦμεν πρὸς αὐτοὺς ὅτι ‘ἠδίκει γὰρ ἡμᾶς ἡ πόλις καὶ οὐκ ὀρθῶς τὴν δίκην ἔκρινεν;’ ταῦτα ἢ τί ἐροῦμεν;
Κρίτων: ταῦτα νὴ Δία, ὦ Σώκρατες.
[24] 51e: ὃς δ᾽ ἂν ὑμῶν παραμείνῃ, ὁρῶν ὃν τρόπον ἡμεῖς τάς τε δίκας δικάζομεν καὶ τἆλλα τὴν πόλιν διοικοῦμεν, ἤδη φαμὲν τοῦτον ὡμολογηκέναι ἔργῳ ἡμῖν ἃ ἂν ἡμεῖς κελεύωμεν ποιήσειν ταῦτα,
[25] 53d-e: ὅτι δὲ γέρων ἀνήρ, σμικροῦ χρόνου τῷ βίῳ λοιποῦ ὄντος ὡς τὸ ’ εἰκός, ἐτόλμησας οὕτω γλίσχρως ἐπιθυμεῖν ζῆν, νόμους τοὺς μεγίστους παραβάς, οὐδεὶς ὃς ἐρεῖ
[26] 54b-c;
[27] Apologie 37c-e: ἀλλὰ δὴ φυγῆς τιμήσωμαι; ἴσως γὰρ ἄν μοι τούτου τιμήσαιτε. πολλὴ μεντἄν με φιλοψυχία ἔχοι, ὦ ἄνδρες Ἀθηναῖοι, εἰ οὕτως ἀλόγιστός εἰμι ὥστε μὴ δύνασθαι λογίζεσθαι ὅτι ὑμεῖς μὲν ὄντες πολῖταί μου οὐχ οἷοί τε ἐγένεσθε ἐνεγκεῖν τὰς ἐμὰς διατριβὰς καὶ τοὺς λόγους, ἀλλ᾽ ὑμῖν βαρύτεραι γεγόνασιν καὶ ἐπιφθονώτεραι, ὥστε ζητεῖτε αὐτῶν νυνὶ ἀπαλλαγῆναι: ἄλλοι δὲ ἄρα αὐτὰς οἴσουσι ῥᾳδίως; πολλοῦ γε δεῖ, ὦ ἄνδρες Ἀθηναῖοι. καλὸς οὖν ἄν μοι ὁ βίος εἴη ἐξελθόντι τηλικῷδε ἀνθρώπῳ ἄλλην ἐξ ἄλλης πόλεως ἀμειβομένῳ καὶ ἐξελαυνομένῳ ζῆν. εὖ γὰρ οἶδ᾽ ὅτι ὅποι ἂν ἔλθω, λέγοντος ἐμοῦ ἀκροάσονται οἱ νέοι ὥσπερ ἐνθάδε
[28] Apologie 38a: ὁ δὲ ἀνεξέταστος βίος οὐ βιωτὸς ἀνθρώπῳ
[29] Nur so kann die Argumentation überhaupt gelingen. Wenn „die öffentliche Meinung“ zeigen könnte, dass dem Staat mit der Flucht ernsthaft und grundlegend geschadet würde, wäre das noch kein überzeugendes und handlungsleitendes Argument für die Duldung der Urteilsvollstreckung. Daraus könnte nämlich zum Beispiel gefolgert werden, dass ein solcher Staat falsch eingerichtet und damit politisch verändert werden muss.
[30] 51e „behaupten“ „die Gesetze“ Sokrates „hätte durch die Tat angelobt“ sich ihnen zu unterwerfen. Das Verbleiben der Bürger komme also einem „unbedingten“ Versprechen oder einem Vertrag ohne Laufzeitbegrenzung und Aufhebungsregelung gleich.
[31] Das verhandelt Platon auch im ersten Buch der Politeia als grobes Mißverständnis der Versprechenshörigkeit.
[32] Heute wird für den Impfzwang ähnliches eingefordert und einige sahen sich gezwungen, zu fliehen. Sie wurden verurteilt, etwas zu- oder angetan zu bekommen, dem sie sich nicht unterziehen wollten.
[33] Kriton 43a: τί τηνικάδε ἀφῖξαι, ὦ Κρίτων; ἢ οὐ πρῲ ἔτι ἐστίν;
[34] 43b: οὐ μὰ τὸν Δία, ὦ Σώκρατες, οὐδ᾽ ἂν αὐτὸς ἤθελον ἐν τοσαύτῃ τε ἀγρυπνίᾳ καὶ λύπῃ εἶναι, ἀλλὰ καὶ σοῦ πάλαι θαυμάζω αἰσθανόμενος ὡς ἡδέως καθεύδεις: καὶ ἐπίτηδές σε οὐκ ἤγειρον ἵνα ὡς ἥδιστα διάγῃς. καὶ πολλάκις μὲν δή σε καὶ πρότερον ἐν παντὶ τῷ βίῳ ηὐδαιμόνισα τοῦ τρόπου, πολὺ δὲ μάλιστα ἐν τῇ νῦν παρεστώσῃ συμφορᾷ, ὡς ῥᾳδίως αὐτὴν καὶ πρᾴως φέρεις.