Keine Wahrheit ohne Engel

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Sandro Botticelli: Verkündigung (um 1490)– Uffizien, Florenz (Wikimedia) – Vergrößern

(Dieser Beitrag erscheint als erster Teil einer Artikelserie zur bildenden Kunst:
Teil II – »Veronika sei Dank, ein Bild ist nicht nur ein Bild« und Teil III – »Kinder an die Macht«.)

Die Malerei hat Jahrhunderte darum gerungen als „hohe“ Kunst zu gelten. Sie wurde nicht den freien Künsten (artes liberales) zugerechnet, sondern dem Handwerk (artes mechanicae). „Freie Künste“ sinsd solche, die freie Männer in ihrer Freiheit ausbilden. Im Umkehrschluss darf man folgern, dass die „mechanischen Künste“ durch „Unfreie“ und Bedienstete ausgeübt wurden. Zu ihnen zählen die Web- und Baukunst, das Metallhandwerk und z.B. auch die Koch- und Heilkunst. In vielem hatte die Malerei bei der Ausgestaltung von Tempeln, Kirchen und Palästen eine Nähe zu Bauhandwerk und Architektur. Sie galt als Ausschmückungskunst. Nicht dass man ihren Wert bestritten hätte. Man hatte durchaus Sinn fürs Schöne. Aber sie musste durch ein Wissen angeleitet werden, das anderen Wissensformen entsprang: der Philosophie oder der Theologie.

Vor allem die christliche Kunst – oder sagen wir besser: die bildende Kunst im sich herausbildenden Christentums – wurde in den Dienst der Vermittlung der christlichen Botschaft gestellt. „Im Anfang war das Wort“ (en archä än ho logos) und der „logos“ musste durch „Logien“ verstanden werden, Theologie und Philosophie (und die artes liberales). Die Kraft der Bilder konnte dazu genutzt werden, das geoffenbarte Wort unmittelbar ansichtig und unvermittelt wirksam zu machen. Das ist vor allem dann wichtig, wenn nicht (nach-)gelesen werden kann, was einem mitgeteilt werden soll. Die in der Heiligen Schrift versammelten Geschichten konnten durch Bilder anschaulich gemacht und ihre Wirkung auf die Gläubigen be- und verstärkt werden. So zeigt die Darstellung der Wunder Jesu, was geschehen ist. Heiligenlegenden können lebhaft dargestellt und so ihre Geschichten erinnert und gegenwärtig gehalten werden. Siehe, so war’s, es steht klar vor Augen. Schau hin! Wie sollte man nicht glaubhaft finden, was man sieht. Tatsächlich können die Bilder den Glauben nur bestärken und formen, bilden, nicht schaffen.

Die Kunst im Dienst von Staat und (vor allem der) Kirche war insbesondere Auftragskunst. Man malte, was man gesagt bekam. Die Gläubigen sollten eindrücklich erinnert und zu einem Leben im Glauben ermahnt werden.

Nicht immer ist sofort einsichtig, warum bestimmte Motive besondere Bedeutung hatten. Die Kreuzigung sicher. Auch das letzte Abendmahl und die Auferstehung. Ein Motiv, das sich in tausenden von Abbildungen findet und den Gläubigen in den Kirchen nahezu überall zugänglich war, ist die Darstellung der Verkündigung an Maria. Was gibt diesem nur im Lukas-Evangelium (Lk 1,26ff) bezeugten Ereignis eine so herausgehobene Bedeutung?

Der Engel trat bei ihr ein und sagte: Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir. Sie erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe. Da sagte der Engel zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast bei Gott Gnade gefunden. Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und seine Herrschaft wird kein Ende haben.

Es ist offenbar eine „Frohbotschaft“ (die Grußformel, die der Engel gebraucht, „chaire“, heißt wörtlich „freue Dich“). Der „jungen Frau“ wird ein Kind verheißen, ein „großes“ wird es sein, der Thron Davids wird ihm zu eigen sein. Marias Einwand, dass dies doch so wie die Dinge stehen, so ohne Mann, gar nicht ginge, wird durch Gabriel ausgeräumt.

Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden. Auch Elisabet, deine Verwandte, hat noch in ihrem Alter einen Sohn empfangen; obwohl sie als unfruchtbar galt, ist sie jetzt schon im sechsten Monat. Denn für Gott ist nichts unmöglich.

Ich lese die Stelle mal gegen den Strich um das Beunruhigende herauszustellen, das in dieser englischen Botschaft liegt: Was wir, die Leser des Evangeliums von seinem Ende her wissen, das muss und kann Maria (in der „geschichtlichen“ Erzählzeit) gar nicht beunruhigen. Maria kann es getrost auf sich zukommen lassen. Der fehlende Mann? Er wird sich dann schon finden. Wenn wir uns richtig dumm stellen, dann ist auch die Antwort Marias nicht wirklich erstaunlich: „Da sagte Maria: Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast. Danach verließ sie der Engel.

Bei Matthäus ist die Sache eigentlich dramatischer: bei ihm findet sich die Verkündigung nicht; Matthäus geht vom dem Umstand der Schwangerschaft aus, die allerdings ohne noch (!) mit ihrem Verlobten „zusammengekommen“ zu sein, eintrat und nur dem „Wirken des Heiligen Geistes“ zugerechnet werden müsse. Das kann man glauben oder auch nicht. Lukas ist da „zukunftsoffener“. Alles bestens also? Zugegeben, da gibt es ein paar „Kleinigkeiten“, die die Sache gegenüber dem natürlichen Kinderwunsch vieler „junger Frauen“ reichlich sonderbar macht: die Rede vom „Sohn des Höchsten“ mag metaphorisch noch durchgehen (so wie wir uns alle als „Kinder Gottes“ begreifen) und der „über sie kommende“ Heilige Geist darf als „Geist“ vielleicht ebenfalls ganz „platonisch“ verstanden werden (honi soit qui mal y pense!); der Thron Davids mag auch noch irgendwie vorstellbar sein, aber eine ewige Herrschaft, die „kein Ende“ haben soll?

Natürlich wissen wir, dass es sich bei der Verkündigung um eine Botschaft handelt, die sich erfüllt. Wir wissen es, weil wir die Geschichte kennen. Wir wissen um Jesu Wirken, seinen „königlichen“ Einzug in Jerusalem, seine Verurteilung als „König der Juden“ und vor allem um seine Auferstehung. Die göttliche Botschaft in Gestalt des Erzengels Gabriel bestätigt die göttliche Herkunft Jesu und seine Rolle im Heilsplan.

Rogier van der Weyden: Columba-Altar-Triptychon, linke Tafel, Verkündigung (um 1455) – Alte Pinakothek, München – Wikimedia

Sieht man sich die Verkündigungsbilder an, dann finden wir dort meist alle Elemente der Geschichte anschaulich abgebildet: Die Seelenzustände von Gabriel und Maria werden in Gesten und Mimik anschaulich – der Erzengel tritt freundlich, feierlich und entschlossen auf, während das Erschrecken Marias durch zurückweichende, abwehrende Haltung Ausdruck findet. Die Botschaft selbst wird (meist in frühen Darstellungen) für so unverzichtbar angesehen, dass sie expressis verbis auf Spruchbändern wiedergegeben wird, die sich vom himmlischen Boten zu Maria strecken (so auch im Columba-Altar). Wir finden die nicht „unvermittelt“ zu sehende „Reinheit“ der „jungen Frau“ oft durch weiße Lilien (siehe Columba-Altar) und/oder durch klares Wasser versinnbildlicht, das in kunstvoll gemalten Gläsern schimmert. Das Ganze trägt sich meist in einem (von weltlichen Versuchungen) geschützten Raum zu, dem Innenraum eines Hauses oder in einem „umgrenzten Garten“ (hortus conclusus).

Es gibt aber auch „Ausschmückungen“ zum überlieferten Text, die den Text bedeutsam erweitern. Der Heilige Geist, der auf Maria niederkommen soll, ist in Form einer schwebenden Taube abgebildet und/oder durch Lichtstrahlen dargestellt, die auf sie fallen (siehe Columba-Altar). Immer wieder tauchen in den Darstellungen auch Gegenstände auf, die die Szene in den weiten Zusammenhang der Heilsgeschichte stellen und auf die Passionsgeschichte vorausweisen:

  • Äpfel als Anspielung auf und/oder direkte Abbildungen von Paradies und Sündenfall (beim Columba-Altar als Schnitzwerk am Lesepult) – Maria als neue Eva, die sich nicht dem teuflisch angebotenen Apfel, sondern dem englisch verhießenen Messias zuwendet.
  • Kreuze, die direkt auf die Passionsgeschichte des verheißenen Sohns vorausweisen (im Columba-Altar trägt Gabriel ein Haarband mit auf gestecktem Kreuz); es gibt dafür eine besonders anschauliche Darstellung in der Verkündigung des Mérode-Triptychon (1420-1430): auf den Strahlen des Heiligen Geistes schwebt ein Kind, das ein Kreuz trägt, in den Schoß Mariens.

Das Erschrecken über die Erscheinung des Engels bekommt damit eine andere Bedeutung: die „Frohbotschaft“ ist zugleich eine „Schreckensmeldung“ nämlich Passionsverheißung. Wir kennen diese Stimmung aus unzähligen Madonnabildern, die Maria mit dem Kind zeigen: in allen großen Darstellungen ist etwas von dem mütterlichen Schmerz zu sehen, der sich im Vorblick auf den Ausgang der Geschichte einstellt. In den freudigen Stolz der Mutter auf ihr „großartiges“ Kind – thront nicht jede Mutter mit ihrer Tochter/ihrem Sohn als wären sie einer neuen Königin/einem neuen König gleich? – mischt sich das schmerzliche Wissen um sein Dasein als „Sein zum Tode“, seiner Bestimmung zum Opfertod am Kreuz. Was Maria in Echtzeit nicht wissen kann, weiß uns der Maler als Gottesmutter zu zeigen. In der Verkündigung bedeutet die „gute Hoffnung“ Mariens den Kreuzestod des Sohnes. Davon ist im Text des Evangeliums nach Lukas nichts zu lesen. Nicht weil der Text etwas verschwiege oder schlecht erzählt ist. Es liegt im Wesen des Textes „diskursiv“ zu sein: eine Geschichte hat ihre Einheit in der zeitlichen Folge ihrer Geschichten. Sie kann nicht alles zugleich und auf einmal sagen, was sich doch erst in der Erzählzeit zuträgt. Was zu sagen ist, muss nacheinander gesagt werden. Die Bedeutung des Erzählten erschließt sich erst im Durchgang durch die Geschichte. Beim wiederholten Lesen verstehen wir die Szene aus der Geschichte und von ihrem Ende her und können schließlich einsehen, was uns das Bild unvermittelt zeigt. Darin liegt die eigentümliche Stärke des Bilds, die die Künstler für sich reklamieren. Sie geben die Einsicht, um die sich die Leser eines Textes bemühen.

Das wird durch eine weitere „Ergänzung“ zum Text bei Lukas verstärkt, die sich in fast allen Verkündigungsbilder findet: Maria wird mit einem Buch gezeigt, in dessen Lektüre sie offenbar vertieft war, eh’ sie durch die Erscheinung des Engels aufschreckt.

Was ist das für ein Text, den Maria da liest? Die Bibel? Liest sie oder betet sie? Mal sieht es mehr nach dem einen, mal mehr nach dem andern aus. Die Schwierigkeit, das im Bild zu unterscheiden, gründet nicht in der Schwäche des Malers, es gründet in der Sache. Was Lesen heißt, ist nicht so einfach zu sagen. Es ist ein Durchlaufen des Textes mit dem Ziel das zu verstehen, was er mitteilt. Verstehen ist zirkulär. Der Sinn des Ganzen ergibt sich nur durch die Teile und deren Sinn nur durchs Ganze. Dem Lesen (lectio) ist das überlegende Verstehen beigeordnet (meditatio), das in der Aneignung des Mitgeteilten (oratio) zur Einsicht (contemplatio) führt. Einen Text verstehen heißt, die Teile zu einem Sinnganzen zu vermitteln (meditieren), es so anzueignen, dass man sich auf das Gesagte und in ihm sich versteht. Die lesende Maria kommt zur Einsicht, die sich ihr in der Gestalt des Engels auftut. Etwas zeigt sich (plötzlich) als das im Text Gemeinte, wird offenbar, an- und einsichtig. Es wird nicht durch den Leser und auch nicht durch die lesende Maria geschaffen, es begegnet, es ereignet sich und spricht sich ihr zu.

Hans Süß von Kulmbach: Verkündigung (1513) – Kunsthistorisches Museum, Wien – Foto HL 2019

In einer Verkündigungsdarstellung von Hans Süss von Kulmbach (1480-1522) im Kunsthistorischen Museum Wien finden wir fast alle typischen Motive der Verkündigung wieder. Allerdings ist die Szene auf zwei Tafeln aufgeteilt: rechts die lesende Maria über die der Heilige Geist in Form einer Taube schwebt und ihr eine erstaunliche Einsicht gibt. Die sehen wir auf der rechten Tafel dargestellt, nämlich die Erscheinung des Engels, der als Bote die göttliche Botschaft verkörpert, deren nun offenbar Maria an- und einsichtig wird. Beide Tafeln gehören zusammen, sie bilden einen Bildraum. Die sinnende (lesend meditierende) Maria sieht aus dem Bild auf ein anderes als Versinnbildlichung des Verstandenen.

Maria als lesende ist das Bild der Kirche selbst. Die Verkündigung verstehen, ihr folgen und die Botschaft (das Wort) zur/in die Welt bringen, das ist die Aufgabe der Kirche. Die Darstellung der Verkündigung fordert auf, dem „Vorbild“ zu folgen.

Und Marias Antwort auf die Verheißung ist Anerkennung: Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast. Das ist auch die Haltung, die von uns durch die Vergegenwärtigung im Bild gefordert wird. Das Bild zeigt etwas und es zeigt uns etwas. Sie stellt die „alte“ Geschichte in einen neuen, zeitgemäßen Raum. Das Bild vergegenwärtigt die Bedeutung. Es zeigt, um was es geht. Es ist unsere Welt, in der sich die Geschichte er-eignet. Die Kleidung, die Gegenstände, die Lokalität, die Landschaften im Hintergrund zeigen die Welt des zeitgenössischen Betrachters. Maria steht für die Kirche und damit für uns alle. Die zeitgenössische Tracht Mariens nähert sie dem Betrachter und macht die Verkündigung an sie zu einer für uns. Der Betrachter wird in die biblische Szene einbezogen.

Marias „Erschrecken“ wird damit zu einem beunruhigenden, aufrüttelnden Anspruch an uns. Damit bekommt die Verkündigung eine neue Dimension: was der Engel für Maria, das ist das Bild für die Gemeinde und den gläubigen Betrachter. Der Maler wird zum verkündigenden Engel. Maria im Bild vergegenwärtigt die Botschaft, die sich an uns richtet.

Simone Martini: Verkündigungstriptychon Mittelteafel (1333) – Uffizien, Florenz – Wikimedia

In einer berühmten, vergleichsweise frühen Darstellung von Simone Martini (aus dem Jahr 1333) wird dieses Erschrecken besonders eindrucksvoll ansichtig: Maria wird von der „Schwere“ der Botschaft in ihren Sessel und an den Rand der mittleren Bildtafel gedrückt, sie weicht erschreckt zurück und zeigt eine ängstliche Haltung des Selbstschutzes. Was da auf sie zukommt wird von ihr nicht als Frohbotschaft wahrgenommen. Die Botschaft stellt sie und uns auf die Probe.

Es ist das Wesen aller Erfahrung, das sie ent-täuscht. Sie hat etwas, das sich gegen unsere Erwartung einstellt. Sie ändert unsere Wahrnehmung, zeigt, dass nicht mehr gilt, was wir bisher meinten. Die Sache erscheint in neuem Licht. Die Sache selbst zeigt sich (plötzlich) und setzt sich gegen das bisher von uns Zurechtgelegte durch.

Das Wahre begegnet so. Es zeigt sich. Es widerfährt jemandem, der Sinn sucht. Das Wahre wird erfahren, nicht ersonnen oder gemacht. Die Strenge der moralischen Pflicht erfahren wir nach Kant vor allem daran, dass sie unserer Neigung, unserem Geneigt-Sein zu etwas, widerspricht – eine (verpflichtende) Aufforderung wäre ja gar nicht nötig und tatsächlich ziemlich unsinnig, wenn sich das Geforderte von selbst einstellte. Durchaus analog erfahren wir das Wirkliche als etwas, das sich unserem Verständnis entgegenstellt und ihm widersteht. Wir erfahren das Wirkliche als etwas Anstößiges, etwas, das sich uns in den Weg stellt. Das etwas anders ist als gedacht (und anders als wunschgemäß läuft), ist sicherlich kein hinreichender Grund, es für wahr (oder moralisch richtig) zu erklären. Fake-News gewinnen durch Absurdität nichts hinzu. Als notwendige Bedingung – oder sagen wir eine „wahrscheinliche Begleiterscheinung“ – dürfen wir es aber vermuten.

Erfahrungen sind verstörend. Sie stören unser bisheriges (Selbst-) Verständnis und fügen das Erfahrene in einen neuen Sinnzusammenhang. Erfahrungen künden davon, wie es um uns und die Welt steht. Sie sind deshalb nicht einfach chaotisch, weder unsinnig noch sinnlos. Sie sind wegweisend und Sinn stiftend. Erfahrungen werden in einem Sinnhorizont gemacht, in Mariens Fall dem Versuch, seinen Glauben zu verstehen und das heißt sich in ihm zu verstehen und sich das Geglaubte anzueignen.

Was die Verkündigung im Bild zeigt ist nicht die plötzliche Erscheinung eines „Außer-“ oder „Überirdischen“ bei einer lesenden Frau („Hilfe! Was wollen Sie hier? Wie kommen Sie hier überhaupt hier rein?“). Was hätte das auch mit uns zu tun? Was die „englische Verkündigung“ von einer täuschenden Halluzination unterscheidet, ist, dass sie uns etwas zu sagen hat, dass wir sie als Teil einer Geschichte begreifen, die uns ergreift.

Wahrheit überwältigt, sie ist nicht ausgedacht oder ausgemalt. Sie drängt sich auf. Wer die Wahrheit will, der will sich von ihr überwältigen lassen. Der will sie zugesprochen bekommen und auf sie hören. Er will „englische“ Verkündigung. Dinge sprechen nicht, von ihnen kann kein Sinn ausgehen. Wer nicht von Engeln reden will, der muss von der Wahrheit schweigen. Das Wahre braucht den Engel, der sie den Menschen zuspricht. „Selbstgeworfenes“ zu fangen ist „läßlicher Gewinn“:

erst wenn Du plötzlich Fänger wirst des Balles,
den eine ewige Mitspielerin
Dir zuwarf, Deiner Mitte, in genau
gekonntem Schwung, in einem jener Bögen
aus Gottes großem Brückenbau:
erst dann ist Fangen-können ein Vermögen, –
nicht Deines, einer Welt.

Haben Engel Schatten und können sie Fußabdrücke hinterlassen? Ja, es sind die Schriftzeichen, die Texte, die als ihre Spuren zurückbleiben und denen wir lesend, meditierend und aneignend folgen können, um ihnen ansichtig zu werden und ihnen wieder zu begegnen. Mit der Darstellung der Verkündigung in der Malerei rückt sich der Künstler in die Rolle des Engels, der keine Schriftzeichen, sondern Bilder hinterlässt, Sinn- und „Vorbilder“, die das Welt- und Selbstverständnis bestimmen. Sie zeigen etwas, das unsere Augen öffnet und uns zur Einsicht bringt.

Die Darstellung der Verkündigung ist zugleich eine Demonstration der neuen Rolle der Malerei. Die bildenden Künstler verstehen sich als Wahrheitsträger. Sie künden von dem was ist und überwältigen uns damit. Bilder sind „englische Grüße“. Achill hört auf das Wort Athenes (vgl. Der zwanglose Zwang Athenes). Maria hört die englische Verkündigung und nimmt sie an. Uns spricht die Kunst zu – und das ist gut so, so lange sie Wahrheit spricht.

(Dieser Beitrag erscheint als erster Teil einer Artikelserie zur bildenden Kunst: Teil II – »Veronika sei Dank… ein Bild ist nicht nur ein Bild«.)

Die Links dieser Seite wurden zuletzt am 11.10.2019 überprüft.


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