Joachims Traum

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Giottos Fresken in der Cappella degli Scrovegni in Padua markieren eine neue Epoche, den Beginn der Renaissance und damit der modernen Welt. Sie gehören zum bedeutsamsten, was in der europäischen Kunst geschaffen wurde.

Eines der herausragenden Schöpfungen ist dabei der Zyklus zum Leben Joachims dessen Herzstück „Joachims Traum“ darstellt.[1] Mit großer räumlicher Distanz (das Fresko befindet sich in gut 7 Meter Höhe) drängen sich vor allem Flächen aus Blau und Grau aneinander, scheinen sich hart gegeneinander abzusetzen und nehmen einen verwirrend dramatischen Verlauf. Von oben aus dem Blau nähert sich ein Engel, das Grau des Gebirges tut sich förmlich auf und schmiegt sich diesem Flug an. In der Verlängerung der „englischen“ Bewegung erkennt man eine kauernde Gestalt, vor einem schwarzen Nichts sitzen, das schwer auf ihm zu lasten scheint.

Verstörende Selbsterkenntnis

Ausschluss vom Tempel – WikiCommons

Joachim, ein alter Mann, hadert mit seinem Reichtum. Es ist der falsche. Er hat keine Kinder und fühlt sich arm. Sein Leben findet nicht das, was es sucht. Er ist zwar ein gläubiger, gottesfürchtiger Mann. Das macht die Sache für ihn aber nicht erträglicher. Im Gegenteil. Kinderlosigkeit ist eine Strafe Gottes, die zeigt, dass die von ihr betroffenen als unwürdig gelten, Nachkommen zu haben. Die Sache entwickelt sich schleichend und mit den Jahren des Wartens steigt die Verzweiflung und schwindet die Hoffnung. Als Joachim seiner Verzweiflung durch ein Opfer im Tempel Ausdruck verleihen will, wird er vom hohen Priester zurückgewiesen und aus dem Tempel gedrängt. Er ist ein Geschlagener, der sich die Gunst Gottes auch durch ein noch so reiches Opfer nicht erkaufen kann. Joachim vermag dem nicht zu widersprechen. Was er im Laufe der Jahre immer mehr zu ahnen begann, wird jetzt mit Blick auf den Priester zur Einsicht.

Detail von Ausschluss aus Tempel

Der Tempel steht auf „irdischen“ Fundament und wird von Giotto so kunstvoll in den Himmel eingelassen und aufgerichtet, dass der Schritt den Joachim auf Geheiß des Priesters machen muss, ein Schritt in die Heimatlosigkeit einer gottfernen Welt bedeutet. In diesem Augenblick erkennt Joachim seine Lage, sein Leben zerbricht. Die existentielle Wahrheit einer neuen Welt des ent- und verlassenen Daseins wird individuell sichtbar. Wir kennen solche „Wahrheiten“ – es sind die Wahrheiten unseres Lebens. Das Leben verläuft sich langsam und unmerklich. Was heute nicht, das ist dann – so hoffen wir – irgendwie morgen. Und dann wissen wir plötzlich: unsere „Lämmer“, die wir stolz vorbringen, sind nicht das Leben.[2] Es lief irgendwas schief – wir haben uns im eigenen Leben verlaufen. Es eine wahre Geschichte – eine, die ein- und ansichtig wird. So ist es mit uns – das heißt Da-Sein.

Abgeschiedenheit

Joachim bei den Hirten – WikiCommons

Joachim flieht in die Einsamkeit der Berge. Dort hüten Hirten seine Herden. Wir würden überdramatisieren, würden wir von bergiger Wüste sprechen. Das mag allenfalls dem reichen Leben des Reichen aus der Stadt so erscheinen. Es ein bescheidenes Leben in abgeschiedener Ruhe, das man hier führt. Hier ist alles in alter Ordnung. Die Welt der Menschen und ihrer Tiere ist karg und ärmlich, aber nicht verloren. Sie fügt sich mit grünenden Bäumen ins himmlische Ganze, das tief blau ihren bergend umschließenden Hintergrund bildet. Die Tiere sind gesund und munter, geborgen und in ihr eigenes Leben gelassen.

Detail aus Joachim bei den Hirten

Die Ankunft des Reichen aus der Stadt verunsichert. Was mag er hier wollen? Überwachen und Strafen? In jedem Fall bringt er seine „Probleme“ mit, die dieser Welt fremd sind und nicht hierher gehören. Vergleichen wir die freudige Begrüßung durch den Hund, der seinen Herrn wiederzuerkennt, mit dem kritischen Blick des Hirten, der nichts Gutes zu ahnen scheint. Und Joachim? Abwesend, in sich verschlossen, ein Büßer am eigenen Leben, einer, der in sich erstarrt. Er kommt als durchs Leben Geschlagener an: Ein Reicher der Zuflucht bei den Armen in einer für ihn unwirtlichen Gegend sucht. Eine selbstgewählte Verbannung, die seiner Verzweiflung entspricht. Vielleicht auch eine Rückkehr zur eigenen Vergangenheit, den Tagen, wo er selbst noch mit draußen war und der Versuch das alte Leben wieder lebendig zu machen?

Annas Erscheinung

Verkündigung an Anna – WikiCommons

Was er nicht weiß, Anna, seiner Frau, hat ein Engel eine Botschaft gebracht: sie wird schwanger werden mit Maria. Giotto zeigt uns eine „Verkündigung“ wie wir sie später in unendlicher Vielfalt wieder antreffen, dann durch Gabriel bei Maria selbst. Die betende Anna empfängt den Engel, die göttliche Botschaft, und glaubt. Wieder können wir nicht genau sagen, ob der Engel Grund des Betens (- wohl eher nicht) oder ob das Beten (vermutlich) das Erscheinen des Engels hervorruft. Beides „gehört“ zusammen – die „Wahrnehmung“ der göttlichen Botschaft ist eine „englische“ Erscheinung. Anders als Maria zeigt Anna keine Abwehrhaltung. In ihrem Blick findet sich dankbares Staunen. Es wird ihr nichts abverlangt und zu glauben fällt ihr nicht schwer. Sie wird es am eigenen Körper erleben.

Verzweifeltes Ringen

Joachim dagegen ringt mit sich und seinem Leben. Er versucht mit sich ins Reine zu kommen.

Joachims Opfer – WikiCommons

Er sucht im Gebet das Gespräch mit Gott Hilfe, Klarheit und Trost. Er gibt sich ganz seiner Suche, seinem Verlangen nach Erlösung hin. Er wirft sein altes Leben ab und bringt – stellvertretend durch seinen Reichtum im Lamm– sich selbst zum Opfer. Kriechend zieht es ihn aus seiner alten Behausung hinauf und hinein in das Blau des Himmels. Er gleicht selbst einem Lamm – der Faltenwurf seines Umhangs gleich dem Skelett des verbrennenden Lamms. Sein Leben verbrennt. Da erscheint ihm ein Engel. Gebannt und ungläubig starrend stockt er. Es ist der irre Blick eines Verirrten. Die Tiere bemerken all das nicht. Auch der Hirte, der skeptischen Blicks das Geschehen verfolgt, nimmt die Erscheinung nicht wahr. Ihm scheint sich die Ahnung zu bestätigen, dass mit seinem Herrn etwas nicht stimmt.

Joachim glaubt sich auch jetzt noch verloren. Die Botschaft des Engels, dass Anna mit Maria schwanger ist, vermag er nicht zu glauben. Giotto zeigt den Engel als schwebende Erscheinung, als ein Phantasma, das dem irdischen entspringt und sich aus dem Boden von Joachims Welt erhebt. Er erscheint ihm als Wunschbild, als trügerischer Schein.

Als er den Hirten aufgewühlt vom Engel erzählt, drängen sie ihn zur Heimkehr. Die englische Botschaft passt zu ihrer Sicht auf die Welt: Dass der Engel dem merkwürdigen Treiben Joachims ein Ende zu bereiten sucht, entspricht ihrer Vorstellung von Ordnung, einer Ordnung, in der sich auch Joachim bisher heimisch glaubte, die ihm nun aber völlig entrückt ist.

Himmlische Begegnung in entrückter Welt

Joachims Traum – WikiCommons

Joachim „überfällt“ die Nacht der Verzweiflung. Er fällt ins zweifelnde Nichts. Und so sehen wir ihn in Giottos Meisterstück von „Joachims Traum“ zusammengekauert und in die eigene Welt versunken. [3] Wir kennen die Landschaft (die Hütte und den hochaufragenden Berg hinter ihr) und doch hat sie sich verändert: Zeigte sie sich bei Ankunft Joachims noch mit grünen Bäumen und zufriedenem Vieh, so ist sie nun abweisend, zerklüftet und mit äußerst spärlichen Bewuchs. Der Innenraum der Hütte, die bei der Ankunft Joachims noch durch Tiere „bewohnt“ und in warmem Braun gehalten ist, wird nun zur drückenden schwarzen Macht, die sich hinter Joachims Rücken auftut und in der alles zu verschwinden droht. Die links stehenden Hirten, fügen sich ins bergisch Irdische ein, sind freilich von Joachim durch eine durchs Bild laufende Felskluft getrennt. Rechts davon, wird der kauernde Joachim mit der Hütte, ihrem schwarzen Innen und dem wie ein „apotropäisches Monster“[4] aufragenden Berg zu einem abweisenden Ganzen verschmolzen, das dem nahenden Engel entgegensteht.

Und doch bildet der Körper des Engels und der Rücken des kauernden Joachim eine bild- und sinnstiftende Linie. Der Engel scheint förmlich zur Rettung heranzufliegen. Joachim sitzt am Abgrund. Ein äußerstes Stück seines schützenden Mantels scheint bereits ins Leere hinabzufallen, ganz so wie das schwarze Schaf auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht bei der hungrigen Suche nach Nahrung abzustürzen droht und sich durch die gespreizten Vorderbeine nur noch mühsam zu halten vermag.

Detail von Joachims Traum

Aber betrachten wir den Engel genauer. Er springt förmlich aus dem Himmelsblau. Er materialisiert sich im Flug. Während der Kopf des Engels leiblich lebendig erscheint (man beachte nur das Haar und die zwei fliegenden Haarsträhnen) und der Stoff der Begleitung von Oberkörper und des ausgestreckten Arms des Engels greifbar erscheint, muss der Rest sich erst noch aus dem himmlischen Blau kon-figurieren. Auch Annas Engel sprang aus dem Blau. Beinahe im Fensterrahmen festklemmend, zeigt Giotto ihn uns aus dem Blau wie aus dem Nichts inkorporiert.

Detail aus Verkündigung an Anna

Das sichtbare „Herkommen“ des Engels aus dem himmlischen Blau scheint den entscheidenden Unterschied zu machen. Anders als bei Joachims erster Begegnung mit dem Engel, der sich ganz aus dem Irdischen zeigte, ist dieser Engel ein „Pro-dukt“ des Himmels. Und seine „Realität“ ist über allen Zweifel erhaben. Die Begegnung im tiefen Ohnmachtsschlaf Joachims ist „wirklicher“ als die Wach-Erscheinung, die sich dem Zweifel des Selbstbetrugs ausgesetzt sieht. Joachim wird zu Anna zurückkehren und die Heilsgeschichte kann ihren Lauf nehmen.

„Joachims Traum“ ist kein Traum. Er ist eine Erfahrung, die wir im Kleinen gelegentlich machen: ein verunsichertes Ansichhalten, ein Aussetzen der gewohnten Erwartungen und ein Rückzug aus der verwirrenden Welt, in der Hoffnung, dass wir neue Sicherheit gewinnen, die sich nicht aus den alten Gewohnheiten speist. Und es gibt die existentielle, joachimische Erfahrung, die unser Leben im Ganzen in Frage stellt und etwas begegnen lässt, das aus himmlischen Höhen neue Wege eröffnet.

Was wir können – und was nicht

Giotto di Bodone – WikiCommons

Giotto hat diese existentielle Erfahrung gemacht. Blicken wir mit Giotto, dem neuen Maler zurück. Was bringt sie mit die (neue) Malerei in den Tempel der Wahrheit? Welches Lamm wird sie auf den Altar legen? Die alte Kunst taugt nicht mehr. Sie kommt mit Giotto in eine existentielle Krise. Der schöne Schein kann täuschen. Der täuschende Charakter gehört zum Wesen von Erscheinungen. Und mehr noch: Trugbilder gehören zum Handwerkszeug des Teufels.

Dagegen setzt Giotto das Hervorbringen. Der Engel erscheint aus dem (blauen) Nichts. Sein Erscheinen lässt die Schöpfung selbst erscheinen. Die göttliche und die des Künstlers. Realität ist Diskontinuität, ist Hervorspringen, Materialisieren. Die künstlerische Darstellung ist das „Herstellen“ eines Bilds, von etwas Wirklichem, sein „Materialisieren“. Die Kunst des Künstlers macht aus, eine Erscheinung wirklich werden zu lassen, eine Geschichte ansichtig werden zu lassen und ihr Wirklichkeit in der Geschichte zu geben.

Giotto ist kein verkündender Engel – wie das das Selbstverständnis seiner Nachfolger sein wird. Er ist einer, der sich beauftragt sieht, den Himmel zu materialisieren. Ihn auf die Erde und fürs Leben der Menschen greifbar zu machen. Wie im Himmel so auf Erden.

[1] Giotto greift Erzählungen vom Leben Mariens auf, die sich im Umkreis apokrypher Schriften finden. Insbesondere das apokryphe Protoevangelium des Jakobus, entstanden in der Mitte des zweiten Jahrhundert, berichtet darüber ausführlich.

[2] Mit „mein Haus, mein Auto, meine Yacht“ werden wir so wenig erlöst wie durch unsere „Kleinkunst“ des Lebens:

Ihr sitzt in euren Zimmern und ihr wartet auf das Glück
Und ihr habt schon zwanzigtausend Zigaretten ausgedrückt
Redet nur von den Projekten und von eurem neuen Stück
Manchmal frage ich mich bin ich oder ihr verrückt? 

Ich will nicht schlecht über euch reden
Es ist ja doch nur primitiv
Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst
zutiefst

Es gibt eine Herzlichkeit jenseits von Jonglieren
Das ist doch wirklich gar nicht allzu schwierig zu kapieren
Ihr werdet hunderttausendmal Kaffee trinken gehen
Und werdet hunderttausendmal wieder nichts verstehen

[3] In verbreiteten Schriften zum Marienleben heißt es z.B.: „And when Joachim was turning over in his mind whether he should go back or not (cumque Ioachim in animo suo revolvendo cogitaret si reverteretur aut non), it happend that he was overpowered by a deep sleep; and behold, the angel who had already appeared th hom when awake, appeared to him in his sleep…”

[4] So sieht es Timothy J. Clark in seinem anregenden Buch „Heaven on Earth, Painting and the Life to Come” (2018), das neben Giotto auch Brueghel, Poussin, Veronese und Picasso in außerordentlich beeindruckender Weise interpretiert.

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