Exaktes Leben ist eine Illusion. Das „Ideal des exakten Lebens“ (siehe Inside Kakanien I 61) ist keine gute Idee. Das Exakte ist ein beschränkter Ausschnitt des Lebens. Das Leben muss dafür eigens zugeschnitten werden. Es gilt, was gelten soll und die vorausgehenden Unterstellungen, genannt Hypothesen, zu bestätigen vermag. Wissenschaftliche Gewissheit stellt sich nur ein, wenn wir von der sie umgebenden Ungewissheit absehen, sie konstruktiv ignorieren. Ignoranz ist Bedingung für wissenschaftliche Gnosis – wenn es so etwas denn überhaupt gibt.[1] Follow the Science benennt hingegen propagandistisch den Zwang, sich der Welt experimentell zu bemächtigen. Wissenschaftlich wissen wir, was wir experimentell zurechtgerückt haben. Jenseits davon müssen wir „Verrücktes“ beurteilen, das sich dem Experiment entzieht. Wissenschaftler, wenn sie sich nicht an der Gewalt von Modellen ergötzen, bescheiden sich dann schnell, über den speziellen Fall nur „ganz“ allgemein etwas sagen zu können. „Die weitere Entscheidung“ müsse dann der Urteilskraft anderer überlassen bleiben, die durch das unwissenschaftliche Leben gewonnen wird.
Die Unsicherheit des Lebens wird von Menschen nun „wieder zu Ansehen“ gebracht, „die ein etwas unsicheres Metier“ betreiben und z.B. Philosophisches zur Zeit zum Besten geben: „Dichter, Kritiker, Frauen und die den Beruf einer neuen Generation Ausübenden, Klage erhoben, daß das pure Wissen einem unseligen Etwas gleiche, das alles hohe Menschenwerk zerreiße, ohne es je wieder zusammensetzen zu können, und sie verlangte einen neuen Menschheitsglauben, Rückkehr zu den inneren Urtümern, geistigen Aufschwung und allerlei von solcher Art.“ Zu Jugendtagen findet mancher das „cool“. Es gilt dann als Auflehnung gegen die Festlegung auf langweilige Sicherheiten. Man will nicht wissenschaftlich, man will „hypothetisch leben“ und drückt damit den Mut aus, das Leben mit dem „Wunsch nach großen Zusammenhängen“ zu führen und so, dass „jeder Schritt ein Wagnis ohne Erfahrung ist“, aber den „Hauch der Widerruflichkeit“ hat und bald auch ganz anders geführt werden könnte. Man kann „zu nichts ohne Vorbehalt ja sagen“ und zögert, „aus sich etwas zu machen“, in dem „sich schon das Gerippe durchzeichnet, das zuletzt von [einem] bleiben soll“. Älter und ein Musilscher Charakter geworden, wird diese Lebenseinstellung „mit dem Begriff eines Essays“ verbunden, nämlich „ein Ding von vielen Seiten“ zu nehmen „ohne es ganz zu erfassen“: „Der Wert einer Handlung oder einer Eigenschaft, ja sogar deren Wesen und Natur“ erscheinen dann „abhängig von den Umständen, die sie umgaben, von den Zielen, denen sie dienten, mit einem Wort, von dem bald so, bald anders beschaffenen Ganzen, dem sie angehörten“. „Du sollst nicht töten!“, etwas an das, wir uns „in mancher Hinsicht“ (!) streng halten wollen, erregt zugleich unsere Phantasie, wenn wir dem Verstoß im Theater begegnen oder „beim Genuß der Zeitungsnachrichten“, unsere Gedanken „ganz ungeregelt zwischen Abscheu und Verlockung“ umherschweifen. Das alte Leben war noch durch die Natur der Dinge und seiner selbst bestimmt. Im „Essayismus“ gerät alles auf die schiefe Bahn. Ein Mord kann als ein gemeines Verbrechen oder als eine heroische Tat verstanden werden. „Das scheinbar Feste wurde darin zum durchlässigen Vorwand für viele andere Bedeutungen, das Geschehende zum Symbol von etwas, das vielleicht nicht geschah, aber hindurch gefühlt wurde“.
Der Vorbehalt, eine Sache nicht vollkommen erfassen zu können, wird zur endgültigen Lebenseinstellung, die nichts Festes, Natürliches und Maßgebendes mehr gelten lässt. „Denn ein Essay ist nicht der vor- oder nebenläufige Ausdruck einer Überzeugung, die bei besserer Gelegenheit zur Wahrheit erhoben, ebenso aber auch als Irrtum erkannt werden könnte… ein Essay ist die einmalige und unabänderliche Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt“. Die Maßlosigkeit wird zur maßgeblichen Maxime. Der Essayist ist „Meister des innerlich schwebenden Lebens“, mit dem die Vernunft nichts anzufangen weiß. „Die Lehre der Ergriffenen zerfällt in der Vernunft der Unergriffenen zu Staub, Widerspruch und Unsinn“.
Das alles ist nicht ohne Anstrengung zu lesen und hat nicht gerade den Erzählfluss eines gewöhnlichen Romans. Musil trägt Überlegungen vor, die nicht durch das Handlungsgeschehen des Romas initiiert oder motiviert sind. Im 62. Kapitel lässt der Autor (wieder mal) nicht seinen Helden sprechen, sondern reflektiert selbst über seine Romanfigur und die Welt, in der er ihn „agieren“ oder besser gesagt sein „innerlich schwebendes Leben“ vollziehen lässt. Der Leser bekommt den Eindruck, dass der Autor mit sich selbst um den richtigen Ausdruck ringt, weil etwas über den Zustand der Welt loswerden und direkt zu uns sprechen will. „Ein Mann, der die Wahrheit will,“ so Musil, „wird Gelehrter; ein Mann, der seine Subjektivität spielen lassen will, wird vielleicht Schriftsteller; was aber soll ein Mann tun,“, so fragt sich Musil, „der etwas will, das dazwischen liegt“? Nietzsche könnte als solch’ ein Mann gelten, dessen Talent ihn zwischen Wahrheit und Kunst schweben lässt. Vor allem aber scheint Musil an sich selbst zu denken. Das Ringen um die Bestimmung seiner Berufung ist selbst ein Teil dieser Berufung.
Kritische Musil-Leser, die ihm vorwerfen, den Roman nur als Hülle eines ermüdend ausschweifenden und „künstlich“ aufgeblasenen literarischen Essayismus zu mißbrauchen, werden sich darin bestätigt sehen. Tatsächlich wirken solche essayistischen „Reflektionskapitel“ doch etwas konstruiert und die Formulierungen, so beeindruckend sie sich – vor allem nach der zweiten und dritten Lektüre – auch hervortun, hinterlassen beim Leser doch den Eindruck, dass da einer brillieren will, und er dem Leser mit jeder gelungenen Phrasierung zugleich das Zugeständnis abverlangt, dass das nun doch „gar nicht so schlecht“ formuliert sei, vor allem nicht „gewöhnlich“, sondern eben außergewöhnlich gekonnt. Es mag gelten, „daß nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens“ – aber auch das muss eben eindrucksvoll formuliert und in Szene gesetzt sein.
So beschreibt er z.B. die „Unerschütterlichkeit“, die seinem Helden nach „der großen Erschütterung“, die ihn mit Blick auf die Sicherheiten des Lebens ergriffen hatte, nicht als Ausdruck eines „Willens“ oder einer „Zuversicht“, sondern als „ein zähes Festhalten an sich, das sich schwer austreiben läßt wie das Leben aus einer Katze, selbst wenn sie von den Hunden schon ganz zerfleischt ist“. Und seine „Gedanken“ sitzen „nachdem sie gebraucht sind“ bei ihm herum „wie die Klienten im Vorzimmer eines Anwalts, mit dem sie nicht zufrieden sind“. Ich fürchte so fühlen sich auch manche von „meinen“ Gedanken, wenn sie bei mir Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr darauf warten müssen, dass sich ihr vermeintlicher „Anwalt“ endlich mal um sie kümmert und aktiv wird – ohne in Parallelaktion.
[1] Die docta ignorantia des Nicolaus Cusanus (1401-1464) zielt zwar Topos der negativen Theologie auf etwas anderes, darf aber als schon als Ausdruck der gelehrten Einsicht verstanden werden, die menschlichen Erkenntnisse nicht zu überschätzen.