Kapitel 39 war „nur“ das wegbereitende für Kapitel 40. Und in eben diesem 40. Kapitel dreht Musil nun so richtig auf und … und er beschreibt auch den „Geist“ von Leuten, die das „dürre“ 39. gar nicht im vorbereitenden Fluss der Komposition verstehen, Leute, in denen „sich mit der Zeit eine gewisse Bereitschaft zur Verneinung“ entwickelt hat, „eine biegsame Dialektik des Gefühls, die [sie] leicht dazu verleitet, in etwas, das allgemein gut geheißen wird, einen Schaden zu entdecken, dagegen etwas Verbotenes zu verteidigen und Pflichten mit dem Unwillen abzulehnen, der aus dem Willen zur Schaffung eigener Pflichten hervorgeht“. Von solchen Leuten haben wir auf PzZ natürlich noch nichts gehört.
Und was heißt überhaupt „Geist“? „Es ist so natürlich, daß der Geist als das Höchste und über allem Herrschende gilt. … Was kann, schmückt sich mit Geist, … Geist ist, in Verbindung mit irgendetwas, das Verbreitetste, das es gibt. Der Geist der Treue, der Geist der Liebe, ein männlicher Geist, ein gebildeter Geist, der größte Geist der Gegenwart, wir wollen den Geist dieser und jener Sache hochhalten, und wir wollen im Geiste unserer Bewegung handeln.“ Der Alltag des Gewohnten mit seinen Sorgen und Mühen, seinen unterhaltsamen Ablenkungen, seinen Nichtigkeiten und seinen Verbrechen, erscheint dagegen „geistlos“.
„Geist“ ist ein „Wort, dem man nicht gerne allein begegnet“, dann nämlich, „wenn [es] alleine dasteht, als nacktes Hauptwort“ ist es kahl wie ein Gespenst. Und man muss sich nicht vor Geistern fürchten, sie aber auch nicht besonders ernst nehmen. Ihre Substanzlosigkeit macht sie irreal.
Im frühen griechischen oder jüdischen Denken war von Pneuma (πνεῦμα) oder Ruach die Rede. Das Pneuma meint nicht das Atmen selbst, sondern den Hauch, der das Atmen des Lebendigen erst ermöglicht und dem leblosen Körper das Leben „einhaucht“. Der Geist ist allerdings nicht mit dem Leben gleichzusetzen. Lebendiges hat eine Seele (ψυχή, anima), ist beseelt, und verdankt dieses Leben dem göttlichen Geist, der ihm das Leben, also sein Beseeltsein, einhaucht. Lebendiges grenzt sich von seiner Umwelt ab. Es ist „(kon)zentriert“ und schafft ein Innen gegen ein Außen. Freilich weiß es von diesem konzentrierten Verhalten nichts. Nur Lebendiges, das in seinem Verhältnis zum anderen seiner selbst von sich weiß, hat Geist. Später spricht die Philosophie von spiritus, mens oder animus. Lebewesen, die Geist „haben“, verstehen sich – und ihr Verhalten als das ihre – mit Blick auf das, was sie nicht sind. Geist bezeichnet das Vermögen, im anderen sich zu erkennen und sich im Anderen. Geist ist etwas, das Personen und ihr Verhältnis zueinander und zu ihrer Welt in der sie miteinander leben auszeichnet. Für geistige Wesen werden Dinge bedeutsam. Das Beim-Andern-Sein ist so ein Bei-Sich-Sein, dem das Andere ein „Teil“ seiner selbst wird und es selbst ausmacht.
„Une chose qui pense, c’est à dire un esprit.“ In dieser missverständlichen Formulierung schwingt noch die frühe Vorstellung eines unkörperlichen Teils der Körper mit, der den Körpern Leben gibt, der sie sinnhaft bewegt und ihm eine Ausrichtung gibt. Er schafft einen bedeutsamen Zusammenhang und macht aus den einzelnen, chaotischen Körpern ein sinnvolles Ganzes. Der Geist ist dabei – sehr missverständlich ausgedrückt – „etwas“, das im Körper „sitzt“ und ihn zu dem macht, was er ist. Geht dieser Teil verloren, dann wird der Körper geistlos und zerfällt ins Chaos von Bruch-Stücken, die kein Sinnganzes mehr ergeben. Als geistige Wesen tun wir etwas, das über das von außen zugeschriebene Ursache-Wirkungsverhältnis von Körpern hinausgeht und einen sinnvollen, einheitlichen Zusammenhang stiftet, der ihr Tun prägt. Geist bezieht sich auf das andere seiner selbst und gibt ihm Bedeutung.
Wesen, die Geist haben, eignen sich die geistlose Welt der Dinge, des „Ungeistes“ an, stiften Sinn im Unsinn. Geistloses gibt es nur für geistige Wesen, so wie nur Lebendiges tot sein kann. Welt überhaupt gibt es nur für geistige Wesen – Tiere haben keine Welt, sie leben in unserer. Wer als geistiges Wesen mit „offenen Augen“ durch die Welt läuft, weiß das und weiß deshalb ums Andere seiner selbst. Die von Menschen gestaltete Stadt wird diesem Blick etwas, das Sinn im Unsinn ist. Auf dem Weg zu einem Termin laufen wir durch die Straßen, steigen in Busse und halten uns wie selbstverständlich an die „öffentlichen Verkehrsregeln“ – alles hat Sinn, ohne dass wir darüber nachsinnen müssten. Dann plötzlich fallen wir – ohne dass wir wüssten wie uns geschieht – aus diesem Sinnzusammenhang ins dinglich Sinnleere: die Straßen werden zu Schluchten, die Häuser zu Steinmassen, die Passanten zu herumirrenden Ameisen. Was dann geschieht, „stammt in der Tat aus einer völlig anderen Welt, als es die war, in der [wir] soeben noch Baum und Stein wie eine empfindsame Fortsetzung [unseres] eigenen Leibes erlebt“ haben. In der „geistreichen“ Künstlichkeit fühlt der Mensch „die Gefahr nahe, wo er das Schicksal jener Riesentierrassen der Vorzeit wiederholen wird, die an ihrer Größe zugrundegegangen sind; aber er kann nicht ablassen.“
Der „Geist“, der sich so von einem Substrat löst – nicht mehr der Geist einer Bewegung, eines Vertrages oder einer Freundschaft ist – wird eigentümlich unwirklich. Der „Geist so fest verbunden mit der zufälligen Gestalt seines Auftretens“ löst sich als Geist doch stetig von diesem „beiläufigen“ Auftreten. Gewinnen wir Geist, wenn wir „Dichter lesen und Philosophen studieren“? Und „was fangen wir mit all dem Geist an? Er wird auf Massen von Papier, Stein, Leinwand in geradezu astronomischen Ausmaßen immer von neuem erzeugt, wird ebenso unablässig unter riesenhaftem Verbrauch von nervöser Energie aufgenommen und genossen: Aber was geschieht dann mit ihm? Verschwindet er wie ein Trugbild? Löst er sich in Partikel auf? Entzieht er sich dem irdischen Gesetz der Erhaltung? Die Staubteilchen, die in uns hinabsinken und langsam zur Ruhe kommen, stehen in keinem Verhältnis zu dem Aufwand. Wohin, wo, was ist er? Vielleicht würde es, wenn man mehr davon wüßte, beklommen still werden um dieses Hauptwort Geist?!“
Wir kommen ins Grübeln über das für die (europäische) Kultur so wichtige „Hauptwort Geist“. Musil lässt seinen Helden fragen, „ob es nicht am Ende, da es doch sicher genug Geist gebe“, in Kakanien „bloß daran fehle, daß der Geist selbst keinen Geist habe“? Wenn wir die Welt, durch die wir stolpern, zu verlieren drohen, dann hilft nur noch, sich in eine Parallelaktion zu flüchten.