Inside Kakanien I 32: Der Blick zurück – in einen anderen Zustand

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Wir waren auch mal 20. Da erlebt man manches zum ersten Mal. Vieles davon ist völlig normal: mit einem „Ach so ist das?!“ setzt sich die neue Normalität in ihr Recht. Anderes scheint alles zu verändern und bringt uns in einen „anderen Zustand“, von dem bei Musil so viel zu lesen ist. Man war schon verliebt, hatte seinen ersten Kuss und sein erstes Mal und dann trifft man eine ältere, verheiratete Frau und wird liebeskrank. Es ist nicht die große Liebe, mit der man sein Leben verbringen und alt werden möchte – wer denkt auch mit 20 ans Altwerden. Es ist etwas, das aus dem Rahmen fällt, „wie der letzte Anlaß, der eine Krankheit zum Ausbruch verhilft“, die schon länger in einem geschlummert haben mag. „Liebeskrankheit“, das ist nicht das „Verlangen nach Besitz“ – das wäre harmlos absurd. Sie ist vielmehr „ein sanftes Sichentschleiern der Welt, um deswillen man gern auf den Besitz der Geliebten verzichtet“. Es ist wie wenn „im Traum zwei Wesen einander durchschreiten können“. Man liebt und will doch „vor lauter Liebe so rasch wie möglich aus der Nähe des Ursprungs dieser Liebe“ kommen. Und dann schreibt man Briefe, die man nicht absendet – zum Glück! Musil nennt sie „nachtstille Briefe“ mit und über den besonderen Zustand, in dem man sich glaubte und weil man es glaubte auch war. „Alle Fragen und Vorkommnisse des Lebens nahmen eine unvergleichliche Milde, Weichheit und Ruhe an und zugleich eine gänzlich veränderte Bedeutung. Lief da zum Beispiel ein Käfer an der Hand des Denkenden vorbei, so war das nicht ein Näherkommen, Vorbeigehen und Entfernen, und es war nicht Käfer und Mensch, sondern es war ein unbeschreiblich das Herz rührendes Geschehen, ja nicht einmal ein Geschehen, sondern obgleich es geschah, ein Zustand.

Nun ist das alles Erinnerung an den Zwanzigjährigen, der man mal gewesen ist – oder es jedenfalls jetzt glaubt. Und den Zustand, in dem man sich glaubte, und der in dem man durch diesen Glauben jetzt gerät, sind, so unterschiedlich ihre Auslöser sein mögen, sich doch ähnlich. „Einen Augenblick lang“ klopft einem „das Herz eines Zwanzigjährigen in [der] Brust“ und das alles, weil sich etwas ins Gemüt rief, sich dort formierte und ausformulierte, ohne dass es von Bedeutung wäre, ob dem irgendetwas entspricht. Soll das Kunst oder gar Lebenskunst sein? Es ist jedenfalls eine Parallelaktion, die von Musil nicht (nur) kritisch reflektiert, sondern mit großer stilistischer Emphase zelebriert wird.

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