Vom reaktionären Militarismus ist gar kein so weiter Weg zum militaristischen Futurismus. Vom Exerzierplatz geht’s in die „Lehrsäle der Mechanik“. Der schmucke Offiziers-Schnickschnack des Helms mit Federbusch und der goldbestickten, mit Goldborten und Quasten behängten Uniformen, an der ein beinah nutzloser Säbel baumelt, wird durch den grauen Anzug ersetzt, in dem ein Rechenschieber steckt. Das „abenteuerliche Herz“ findet seine technische Form. Im Futuristischen Manifest von 1909 werden elf „Thesen“ formuliert und in der ersten spricht sich das „abenteuerliche Herz“ rückhaltlos aus: „Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit.“ Mut und Kühnheit wollen sie zeigen. Und „Auflehnung“. Und vor allem besingen sie die Schönheit der Technik, der Herstellung „großartiger“ Dinge: „die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen … ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.“ (These 4) Von Digitalisierung wusste man noch nichts und so wird erstmal das „Ingenieurswesen“ zum Wesen der Welt. „Wozu braucht man noch den Apollon von Belvedere, wenn man die neuen Formen eines Turbodynamos oder das Gliederspiel einer Dampfmaschinensteuerung vor Augen hat. Wen soll das tausendjährige Gerede darüber, was gut und böse ist, fesseln, wenn sich herausgestellt hat, daß das gar keine ‚Kontanten‘ sind, sondern ‚Funktionswerte‘ … Die Welt ist einfach komisch, wenn man sie vom technischen Standpunkt ansieht; unpraktisch in allen Beziehungen der Menschen zueinander, im höchsten Grade unökonomisch und unexakt in ihren Methoden; und wer gewohnt ist seine Angelegenheit mit dem Rechenschieber zu erledigen, kann einfach die gute Hälfte aller menschlichen Behauptungen nicht ernst nehmen.“ Aber – so erkennt das „abenteuerliche Herz“ des Musilschen Helden – irgendetwas stimmt nicht wirklich zusammen. Der Mensch will seiner Technik noch nicht gerecht werden. Er benimmt sich „in allem, was ihm für das Höhere gilt, … weit altmodischer“ als seine Maschinen. Nicht dass sie die Technisierung der Welt beklagen; im Gegenteil, sie wollen sie vorantreiben. Ihr „abenteuerliches Herz“ findet sich darin nur nicht mehr zurecht „Den Vorschlag, die Kühnheit ihrer Gedanken statt auf ihre Maschinen auf sich selbst anzuwenden“ empfinden sie als „Zumutung“. Sie werden in von gewaltigen Kräften umgestalteten Welt heimatlos: „ihr Gefühl hat noch nicht gelernt, sich ihres Verstandes zu bedienen“. Wir schreiben 1913 und noch nicht 1984. Wir sind heute natürlich weiter – wir googlen schließlich.
Inside Kakanien I.10: Die Welt des Rechenschiebers
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