Eine „mythologische Weltgeschichte“ [1] wurden Ovids Metamorphosen genannt. „Vom Beginn der Welt bis auf meine Zeiten“ so sagt der Dichter im „Vorwort“ [2], will sein „Lied“ die Verwandlungen der Formen zu neuen Körpern besingen. Wer ist dieser Dichter, der hier die Weltgeschichte göttlichen Wirkens erzählen will? Wir wissen einiges über ihn, aber fast ausschließlich von ihm. Es gibt wenige, fast keine, unabhängigen Quellen zu seinem Leben und seiner Person. Was wir von ihm „wissen“, wissen wir aus seinen Schriften. Ovid ist gleichsam das Produkt der eigenen Dichtung. Ovid, mit ganzem Namen Publius Ovidius Naso,[3] wird 43 v. Chr. in Mittelitalien geboren und gehört dem Landadel an. Er kann es sich leisten, der politischen Ämterlaufbahn den Rücken zu kehren, um sich ganz auf die Dichtung zu konzentrieren. Aufmerksamkeit erregt er mit seinen Liebesgedichten (Amores) und seiner Liebeskunst (Ars amatoria) und wird 8 n. Chr. von Augustus an den nordöstlichen Rand des Reiches nach Tomi am Schwarzen Meer verbannt. Er hat da gerade die Metamorphosen fertiggestellt und berichtet darüber in seinen Klageliedern (Tristitia) und seinen Briefen aus Ponto (Epistulae ex Ponto). So heißt es über die Metamorphosen in den Tristitia:[4]
Fort vom Amboss ward mir das Werk aus den Händen genommen;
So fehlt dem, was ich schrieb, leider das letzte, der Schliff.
Deshalb bitt’ ich um Nachsicht und nicht um Beifall: es ist mir
Beifall, oh Leser, genug, wenn du mich nur nicht verschmähst.
Nimm auch die Verse entgegen, die sechs; sie mögen am ersten
Buche vielleicht zu Beginn finden den richtigen Platz:
‚Wer du auch bist, der die Bände ergreift, die des Vaters beraubt sind,
Wenigstens ihnen vergönn’ Wohnung in euerer Stadt!
Wisse – zu freundlichem Urteil –: nicht sind sie editiert von dem Dichter,
Sondern entrissen dem Tod, als man ihn lebend begrub!
Alle die Mängel daher, die das unvollkommene Dichtwerk
birgt, sie wären getilgt, aber es war mir verwehrt.‘
(Hervorhebung HL)
Ein nachträgliches Vorwort zum Vorwort, so scheint es, wird hier formuliert, in dem das Werk als „unvollkommen“ (rudis: roh, unausgebildet) erklärt wird. Dem Exilierten, der sich aus der Stadt verstoßen „lebendig begraben“ sieht, geht es hier aber weniger um die Metamorphosen als vielmehr um sich. Er leidet unter der Verbannung und stilisiert sie in den Tristitia zu einem Dauer-Winter in schmerzlicher Einsamkeit. Seine Beschreibung dürfte seiner wirklichen Lage im Exil aller Wahrscheinlichkeit wenig entsprochen haben.[5] Der Grund seiner Verbannung lässt er im Ungewissen. Ovid legt in wenigen Andeutung nahe, sie rühre von einer Verstimmung des Augustus her. Das ist wiederum nicht sonderlich plausibel. So wird seine Verbannung trotz Begnadigungsappell nach dem Tod des Augustus (14 n. Chr.) durch seinen Nachfolger Tiberius (14-37 n. Chr.) jedenfalls nicht aufgehoben.
Das, was Ovid über Ovid schreibt, sind weniger Tatsachen als Ausdruck des eigenen Selbstverständnisses. Ovid ist selbst eine Figur seines künstlerischen Schaffens – und damit uns „Modernen“ nicht ganz fern. Sein Selbstverständnis ist allerdings ein ganz besonderes. Vergleichen wir das „Vorwort zum Vorwort“, das er in den Tristitia den Metamorphosen geben will, mit dem tatsächlichen Epilog der Metamorphosen, nämlich den letzten neun Versen des 15. Buches, also gleichsam dem Ende der Geschichte und ihrer Wandlungen, dann ergibt sich ein völlig anderes Bild: [6]
Und jetzt hab’ ich vollendet ein Werk, das nicht Jupiters Zornwut,
Feuer und Schwert, die zehrende Zeit nicht zu tilgen vermögen.
Mag er erscheinen, der Tag, wann er will, der nur meines Leibes
Herr ist, die Frist meines schwankenden Lebens zu enden: unsterblich
schwingt der edlere Teil meines Wesens sich über die hohen
Sterne empor, und unzerstörbar dauert mein Name;
Und wo die Römer bezwungene Länder beherrschen, die Völker
Werden mich lesen: ich bleibe, wenn irgend die Ahnung der Sänger
Wahrheit besitzt, im Ruhm für ewige Zeiten lebendig.
Wow. Dieser Autor hat wirklich Selbstbewusstsein.[18] Nichts von Mängeln und Unvollkommenheiten des Werks. Das Werk bezeugt das unsterbliche Wesen des Dichters, das weder durch das kaiserliche Rom noch durch die Götter oder den Tod bezwungen werden kann. Die Metamorphosen vollenden sich in der Verwandlung des künstlerischen Schaffens, der Verwandlung vom sterblichen Untertanen, der der Willkür der Herrschaft und dem Geschick der Zeiten ausgeliefert ist, zu einem freien Wesen.
Wenn wir genau hinhören, dann klingt diese Apotheose des Künstlers und seines Schaffens gleich zu Beginn der Metamorphosen an.
Von den Gestalten zu künden, die einst sich verwandelt in neue
Körper, so treibt mich der Geist. Ihr Götter, da ihr sie gewandelt,
Fördert mein Werk und lasset mein Lied in dauerndem Flusse
Von dem Beginne der Welt bis auf meine Zeiten gelangen.
Michael von Albrecht gibt das in seiner Prosaübersetzung so wieder:
Von Gestalten zu künden, die in neue Körper verwandelt wurden, treibt der Geist. Ihr Götter – habt ihr doch jene Verwandlungen bewirkt – beflügelt mein Beginnen und führt meine Dichtung ununterbrochen vom allerersten Ursprung der Welt bis zu meiner Zeit.
Ich werde mich bei der Lektüre nicht allzu oft auf den lateinischen Text einlassen. Hier halte ich es allerdings für ratsam oder sogar geboten. Nicht weil ich die Übersetzung kritisieren möchte – Übersetzungen sind eine Kunst, die dem Original nur gerecht werden, wenn sie kongenial darüber hinausgehen. Es sind vor allem die Ausdrucksmöglichkeiten der lateinischen Sprache, die von Ovid hier genutzt werden, um etwas auszudrücken, was im Deutschen so nicht möglich ist und dort lange Erläuterungen erfordert.
Mir geht es vor allem um den ersten Halbsatz, der in beiden herangezogenen deutschen Übersetzungen zu einem eigenen Satz separiert wird. Im Lateinischen steht dafür:
In nova fert animus mutatas dicere formas
corpora ….[7]
Die Form des Satzes ist verwirrend: in nova gehört zu corpora, „in neue Körper“ kapselt den Satzgedanken. Wenn wir den Satz (für deutsche Leser) grammatisch übersichtlicher gliedern wollten, dann sähe das etwa so aus:
animus fert dicere mutatas formas in copora nova:
(Geist treibt zu sagen von der Verwandlung der Formen in neue Körper).
Ovid lässt seinen ersten Vers dagegen mit in nova beginnen. Er beginnt neu. Geist drängt zu Neuem und er hat den Autor erfasst. In nova richtet den Leser sofort aus – Neues darf oder muss er erwarten, wenn er diesen Text liest. Gelesen hat der Zeitgenosse die Metamorphosen nicht als Buch, sondern als Schriftrolle. Und das macht den ersten Satz so wichtig. Bei Rollen ist der erste Satz nicht nur ästhetisch wichtiger als bei einem Buch: bei Schriftrollen, jede steht für ein „Buch“, kann man nicht der Empfehlung von Marshall McLuhan folgen, Seite 69 zu lesen, um sich einen ersten Eindruck vom Buch zu machen.[8] Man muss von vorne entrollen. Und da beginnt alles in nova.
„Groll“ (μῆνις) ist das erste und bestimmende Wort der Ilias. Mit Μῆνιν ἄειδε θεὰ („Vom Groll singe Göttin…) lässt Homer sein Epos beginnen, dessen Handlung wesentlich durch den Groll des Achill bestimmt wird.[9]
Zum Neuen also drängt bei Ovid der animus, eine geistige Kraft. Und zwar übers „Sagen“, dicere, dem „sprachlich Gegenwärtigmachen“, das in der sprachlichen Konstruktion eingerahmt wird von mutatas formas, den verwandelten Formen oder eben der Verwandlung der Formen. Sprechen so scheint es ist Formwandel oder Formgebung. Die Verwandlung der Formen schafft neue Wirklichkeit.
Die Form ist das, was die Dinge zu dem macht, was sie sind und als die wir sie ansprechen – man darf hier getrost an die platonischen Ideen denken[10] und nicht zuletzt an den „aristotelischen“ Hylemorphismus, der die Dinge als geformten Stoff versteht. [11] Die Form (morphé, μορφή) bestimmt, was etwas ist, sein Wesen. Die Verwandlung der Formen bezeichnet also keine Veränderung von Zustandseigenschaften einer Sache, sondern der Verwandlung ihres Wesens. Welche Farbe ein Ball hat, ist für sein „Ball-Sein“ unwesentlich. Die Farbe gehört nicht zu seiner Form und wenn sie sich ändert, weil sie z.B. ausbleicht, dann verändert sich damit nicht sein Wesen – der ausgebleichte Ball bleibt eben Ball. Die Ovidschen Metamorphosen sind Wesensveränderungen, etwas wird etwas anderes, Neues entsteht.
Geist
Etwas treibt davon zu „künden“ wie sowohl die Vers- als auch die Prosaübersetzung dicere wiedergeben.[12] Die Götter – so heißt es ausdrücklich im zweiten (Halb-)Satz – haben diese Verwandlung bewirkt und sie werden nun angerufen, das Vorhaben des Dichters durch „Inspiration“ zu unterstützen.[13] Hier spricht der Dichter das erste Mal von sich – „meinem Vorhaben“.[14] Während die Versübersetzung von Hermann Breitenbach (wie viele andere) gleich im ersten (Halb-)Satz vom Dichter sprechen – „Von den Gestalten zu künden, die einst sich verwandelt in neue / Körper, so treibt mich der Geist.“ ist da Michael von Albrechts Prosaübersetzung textnäher, denn von „mich“, „mir“ oder „mein“ ist im Lateinischen gar nichts zu finden: „Von Gestalten zu künden, die in neue Körper verwandelt wurden, treibt der Geist.“
Geist bewegt das Sprechen, Künden und sprechend Aufzeigen (dicere). Und dieses Sprechen (dicere) verlangt die Inspiration durch die Götter, die die Verwandlung der Formen allererst bewirkt haben. Bei dem Sprechen (dicere) geht es um die Verwandlung der Formen in neue Formen. Sprechen (dicere) ist selbst eine Formverwandlung, es ist schöpferisch.
Die göttlichen Verwandlungen zur Sprache zu bringen ist das Vorhaben des Dichters. Er erhofft Inspiration für sein Vorhaben, das doch bereits abgeschlossen ist, wenn der Leser über diese Hoffnung liest. Nicht die Musen sprechen durch ihn (wie z.B. bei Hesiod),[15] sein Sprechen ist „nur“ angehaucht von den Göttern und tatsächlich vom schöpferischen Geist getrieben. Er erzählt die „mythologische Weltgeschichte“ und damit für die zeitgenössischen Leser durchaus vertrauten Stoff. Aber er erzählt es neu, er erzählt es und gibt dem göttlichen Formwandel eine bleibende Form.
„Was bleibet aber, stiften die Dichter“, wird achtzehnhundert Jahre nach Ovid Hölderlin (1770-1843) „sagen“ (dicere!?).[16] Ganz diesen Geist atmet – wie sich gezeigt hat – Ovids Epilog: sein Name wird „unaustilgbar“[17] und „für ewige Zeiten lebendig“ sein.
Demnächst …
Die Verwandlung der Formen in neue Körper wird als Kosmogonie erzählt, als Geschichte der Weltentstehung oder Schöpfung. Wer was wie „schöpft“, darum wird’s dann gehen – vermutlich etwas, an das wir definitiv nicht mehr glauben können, das wir viel besser wissen und dem wir vermutlich nicht mehr viel abgewinnen können. Schau’n wir mal…
[1] So z.B. Niklas Holzberg in Ovids Metamorphosen, 2016, S. 12.
[2] Michael von Albrecht gliedert den Text wie durchaus üblich in einzelne Abschnitte und übertitelt die ersten vier Verse mit „Vorwort des Dichters“.
[3] Ovid selbst nennt sich in seinen Werken Naso.
[4] I, 7, 29-40: Ablatum mediis opus est incudibus illud / defuit et scriptis ultima lima meis. / Et veniam pro laude peto, laudatus abunde / non fastiditus si tibi, lector, ero. / Hos quoque sex versus, in primi fronte libelli / Si praeponendos esse putabis, habe: / ‚orba parente suo quicumque volumina tangis, / his saltem vestra detur in urbe locus! / Quoque magis faveas, haec non sunt edita ab ipso, / sed quasi de domini funere rapta sui. / Quidquid in his igitur vitii rude carmen habebit, / emendaturus, si licuisset, eram‘.
[5] Ovid dürfte weiterhin das Leben eines wohlhabenden Römers geführt haben, der sich nun – zugegeben unfreiwillig – seiner dichterischen Berufung widmen konnte. Was Ovid über Stadt. Land und Leute seines Verbannungsorts schreibt ist widersprüchlich, mit teilweise absurden Verzerrungen und entspricht jedenfalls nicht dem, was andere über die Region am Schwarzen Meer berichten.
[6] XV 871ff: Iamque opus exegi, quod nec Iovis ira nec ignis / nec poterit ferrum nec edax abolere vetustas. / cum volet, illa dies, quae nil nisi corporis huius / ius habet, incerti spatium mihi finiat aevi: / parte tamen meliore mei super alta perennis / astra ferar, nomenque erit indelebile nostrum,
quaque patet domitis Romana potentia terris, / ore legar populi, perque omnia saecula fama, / siquid habent veri vatum praesagia, vivam.
[7] Die vier Zeilen des Prooemium lauten:
In nova fert animus mutatas dicere formas
corpora; di, ceoptis (nam vos mutastis et illas)
adspirate meis primaque ab origine mundi
as mea perpetuum deducite tempora carmen.
[8] “To find your perfect novel, see page 69”: https://www.theguardian.com/books/booksblog/2008/jul/23/tofindyourperfectnovelsee
[9] Vergleiche Vergils berühmter Anfang der Aeneis: arma virumque cano…, was in der Übersetzung von Johannes Götte (1988) zu „Waffentat künde ich und den Mann…“ wird.
Ein anderes sehr schönes, aber meines Wissens immer noch zu wenig gewürdigtes Beispiel ist der Anfang des Platonischen Phaidon, einem der schönsten Dialoge Platons und der gesamten Philosophiegeschichte. Es geht am Beispiel der letzten Stunden des Sokrates ums eigene Leben und Sterben: ist die Seele unsterblich und was folgt aus der Beantwortung dieser Frage für die eigene Lebensführung. Platon lässt den Dialog mit αὐτός beginnen: „Selbst warst Du dabei…?“ – es kommt auf den Leser selbst an, aus den letzten Stunden des Sokrates etwas für die eigene Lebensführung zu gewinnen.
[10] Cicero schreibt dementsprechend (Orator 3, 10): „diese Formen der Dinge nennt Platon Ideen“ (has rerum formas appellat ἰδέας)
[11] Hylemorphismus ist freilich kein aristotelischer Ausdruck, sondern ein später Kunstbegriff und entspringt der scholastischen Formalisierung und Systematisierung des aristotelischen Denkens.
[12] Auch Niklas Holzberg übersetzt mit künden
[13] Ovid spricht von adspirare, also einem Einhauchen von etwas, das einem günstig ist und fördert.
[14] Coeptis meis und mea tempora, mein Vorhaben/Beginnen und meine Zeit, aber nicht meum carmen, „mein Lied“ (bei Hermann Breitenbach) oder „meine Dichtung“ (bei Michael von Albrecht), oder?
[15] Hesiod lässt seine Theogonie mit einem Musenanruf beginnen: „Musen, Helikonische,von euch will ich mein Singen beginnen…“ (Μουσάων Ἑλικωνιάδων ἀρχώμεθ‘ ἀείδειν…); und auch seine Werke und Tage beginnen vergleichbar: „Musen, Pierische, die Ruhm in Gesängen gewähren…“ (Μοῦσαι Πιερίηθεν ἀοιδῇσι κλείουσαι…) – wieder zwei schöne Belege für die richtungsweisende Bedeutung des Textanfangs!
[16] So die letzte Verszeile seines Gedichtes Andenken.
[17] Indelebile scheint mir mit „unzerstörbar“ – wie das beide herangezogenen Übersetzungen tun – nicht überzeugend: es bezieht sich auf den Namen (nomen) und deshalb ziehe ich „unaustilgbar“ vor.
[18] Vor Ovid bereits Horaz, der davon spricht sich mit seinen Oden „ein Denkmal geschaffen [zu haben], dauerhafter als Erz“. Später wird Shakespeare in seinem 55. und 65. Sonett davon sprechen, dass seine Lieder und Reime bis zum Jüngsten Gericht erhalten bleiben.