In der Höhle

Lesedauer 31 Minuten

Mit bestem Dank fürs
sonntägliche B&B –
an SB und MB.

 

Was man nicht selber weiß, dat muss man sich erklären“. Das gilt vor allem dann, wenn man sich im Recht glaubt und nicht zu verstehen vermag, wie  Andere es überhaupt anders sehen können. Nur gilt das meist auch für die Anderen, die es eben ganz anders sehen und ebenso ratlos sind. Beide Seiten schreien nach Aufklärung und sich gegenseitig ihr „Sapere Aude!“ zu.

Die Aufklärung und ihre Unmündigkeit

Was
ist Aufklärung?

Das macht die Sache schwierig und nicht selten gefährlich. Denn Aufklärung gilt nach dem berühmten Anfang von Kants Schrift Was ist Aufklärung von 1783 als „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“.[1] Wer aufklären möchte, der rechnet mit Unmündigen und zwar solchen, denen ihre Unmündigkeit schuldhaft zugeschrieben werden kann. Denn es liegt „nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes…Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (…), dennoch zeitlebens unmündig bleiben. Es ist so bequem, unmündig zu sein.[2] Das mag in vielen Fällen zutreffend sein, aber ist das der Geist, der die Verständigung leiten sollte? Beide Seiten zeihen sich der schuldhaften Unmündigkeit. Wer dem Aufklärer nicht zustimmt, der kann nicht mehr aufgeklärt, der muss erzogen oder besser umerzogen werden. Und am Ende muss, wer nicht hören will, fühlen. Schuld verlangt Strafe.

Die „wahre“ Aufklärung ist historisch und sachlich in der Position der Schwäche und sieht sich den herrschenden Mächten der Unvernunft gegenüber. Sie ist antiklerikal und für eine grundlegende Reform der herrschenden (feudalen) Ordnung. „Wahre“ Aufklärung geht von unten nach oben.

Demgegenüber sieht sich die „Aufklärung“ von oben nach unten einer wachsenden Gefahr delegitimierender Mächte gegenüber und setzt auf strenge Erziehung, konsequente Sanktionierung und weitgestreute Propaganda zur Stärkung der öffentlichen Ordnung und des Gemeinwohls. Während die einen um Aufmerksamkeit ringen, versuchen die anderen ihnen diese zu verwehren.

Immanuel Kant

Kant zeigt sich hier als Partei. Er setzt auf Freiheit der Meinung und des öffentlichen Austauschs, das heißt nicht zuletzt Freiheit von herrschaftlicher Regelung – jedenfalls was den „öffentlichen Gebrauch“ der Vernunft angeht.[3] Das „Publikum“ muss „sich selbst aufklären“: „Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allen, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.[4] Aber es wäre natürlich zu schön und zu einfach, wenn diese Freiheit einfach so gelten dürfte. „Öffentlicher Gebrauch“ der Vernunft muss selbstverständlich – so die Gegenaufklärer – vernünftig sein! Follow the Science heißt eben auch, die Unwissenschaftlichen zu canceln, denn die sind hoch infektiös: Wir erinnern uns an die Klage über die Infodemie, die viel infektiöser ist als das gemeingefährlich SARS-CoV-2. „Misinformation kills and we have a duty to suppress it”. Natürlich.

Die Hoffnung der revoltierenden Aufklärer, der „Faulheit und Feigheit“ der Unmündigen durch frohgemute Öffentlichkeitsarbeit zu begegnen, ist an sich schon etwas kränkelnd. Der Kampf der Obrigkeit gegen Desinformation und Delegitimierung bei gleichzeitiger Verängstigung des „Publikums“ scheint diese schwindsüchtige Zuversicht des Aufklärers endgültig zu ersticken. Alles kommt darauf an, einen „wahren“ Aufklärer als Regenten zu erwarten, der die gute Sache von oben auf den Weg bringt.[5]

Leben in der Höhle

Die Aufklärer berufen sich nicht selten auf ein klassisches Bild, das ihr Elend und das ihres unmündigen Publikums erklären soll, nämlich auf das Platonische Höhlengleichnis aus der Politeia. Dort hat man sich im Gespräch mit Sokrates und unter seiner Führung einen Idealstaat ausgedacht.[6] Man befürchtet nun wohl nicht zu Unrecht, dass dieses Ideal nicht bei allen auf Zustimmung stoßen könnte.[7] Das alles scheint in dem Höhlengleichnis zu kulminieren, das seither immer wieder als treffende Beschreibung des falschen Bewusstseins und seiner Wirkungskraft herangezogen wurde. In der Perspektive einer „kritischen Theorie“ handelt es sich um den Verblendungszusammenhang, der Aufklärung verhindert.

Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten langgestreckten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vornhin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sie eine Mauer aufgeführt, wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauten, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen.[8]

Über der Mauer wird allerlei „Zeug“ sichtbar, das von Menschen vorbeigetragen wird, die selbst hinter der Mauer verborgen bleiben. Diese „Nachbildungen“ werfen Schatten auf die Wand und nur diese können von den Gefesselten gesehen werden.

Illustration des Höhlengleichnisses

Glaukon, der Gesprächspartner des Sokrates (und Bruder von Platon), nennt das „ein gar wunderliches Bild“ (ἄτοπον εἰκόνα) mit „wunderlichen Gefangenen“ (δεσμώτας ἀτόπους).[9] Atopos, ortlos und nicht in der alltäglichen Normalität angesiedelt, so wird auch Sokrates selbst charakterisiert. Und Sokrates sieht tatsächlich die Höhlenbewohner „uns ganz ähnlich“ (ὁμοίους ἡμῖν), denn (!) „meinst du wohl, daß dergleichen von sich selbst und voneinander etwas anderes zu sehen bekommen als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberliegende Wand der Höhle wirft“?[10] Darin soll die Ähnlichkeit zwischen uns und diesen elenden Geschöpfen liegen? Sie gleichen uns, weil auch wir uns nur schattenhaft sehen? Es ist doch sehr auffällig, dass Sokrates vor allem die Schatten, die die Gefangenen selbst werfen, zum Vergleichspunkt nimmt. Sie/uns von den Fesseln und ihrem/unserem „Unverstand“ (ἀφροσύνη) zu befreien, ihrer besinnungslosen Unkenntnis über sich selbst, heißt demnach so viel wie uns selbst „hinter“ den Schatten zu erkennen.

Schmerzhafter Aufstieg …

Die Befreiung ergibt sich in dem erzählten Gleichnis freilich nicht von selbst und aus innerem Antrieb. Sie braucht den äußeren Anstoß, der durchaus schmerzhaft empfunden wird. Die Rede ist von Zwang (ἀναγκάζω) und Gewalt (βίᾳ). Der Entfesselte, der sich umwendet und sich auf den Weg nach oben und dem Licht des Feuers entgegen machen muss, wäre zunächst geblendet und würde seinen Augen nicht trauen, wenn er nun die Gegenstände wahrnehmen würde, die die vertrauten Schatten auf der Wand warfen. Noch schmerzlicher wäre der Weg vom Feuer weg ans Tageslicht: „Und … wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel Schmerzen haben und sich ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nichts sehen können von dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird.

Geblendet würde er dort die Dämmerung dem hellen Tag und den nächtlichen Mondschein der strahlenden Sonne vorziehen. Die Dinge würde er lieber in ihrem Schatten und Spiegelbildern schauen und erst nach einiger Gewöhnung (συνήθεια) könnte er in ihnen die Vorbilder jener Nachbildungen erkennen, die die Höhlenbewohner in den flackernden Schatten sahen. Im Licht der Sonne gewönne er schließlich Klarheit über sich und die Welt: das, was er bisher wahr-genommen hatte, die Schatten auf der Wand, waren nur Schatten von Kopien der wirklichen Dinge, denen er nun ansichtig geworden ist.

Aufklärung zeigt sich hier als ein schwieriger Weg, für den wir all unseren Mut zusammennehmen und großen Fleiß aufbringen müssen, um unter größter Anstrengung den schmerzvollen Aufstieg zur Erkenntnis zu schaffen. Lernen geschieht hier nicht über Infotainment. Sich seiner selbst und der Welt bewusst zu werden, das ist nicht der reinste Spaß – und das mag auch erklären, warum so viele Mitbürger der Höhle es „so bequem finden, unmündig zu sein[11] und zu bleiben.

… und gefährlicher Abstieg

So weit, so gut. Der Aufklärer weiß nun aus eigener Erfahrung, dass die Begeisterung der Gefesselten, sich selbst auf den Weg zu machen, nicht vorausgesetzt werden darf, sondern allererst geweckt werden muss. Aber kann der Aufgeklärte die Einsicht, zu der er nun gekommen ist, seinen früheren Leidensgenossen überhaupt mitteilen? Jedenfalls birgt es gewisse Gefahren:

Wenn ein solcher nun wieder hinunterstiege und sich auf denselben Schemel setzte, würden ihm die Augen nicht ganz voll Dunkelheit sein da er so plötzlich von der Sonne herkommt? – Ganz gewiß. – Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert, ehe er sie wieder dazu einrichtete, und diese Zeit der Gewöhnung wird nicht ganz kurz sein, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen und es lohne nicht, daß man versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen? – So sprächen sie ganz gewiß, sagte er [Glaukon].[12]

Da der Dialog nach Sokrates’ Verurteilung als Jugendverführer und Verkünder gottloser Lehren verfasst wurde, dürfen wir darin sicher einen Hinweis auf den Skandal erkennen, den das Todesurteil von 399 v. Chr. durch die Athener seither darstellt: Sokrates wird selbst das Schicksal erleiden, das in dem von ihm vorgetragenen Gleichnis die Gefesselten dem Erweckten bereiten.

Darin glauben sich seither viele Aufklärer wiederzuerkennen. Ihr Wille zur Befreiung der Menschheit erntet Unverständnis und aggressiven Undank mit der Gefahr, dass es mit ihnen so endet wie mit Sokrates. Das Gleichnis zeigt ihnen, warum sich die Mitbürger nicht bereitwillig aufklären lassen – sie verharren im falschen Bewusstsein von Gefangenen. Es zeigt, dass es nicht an der Botschaft, sondern am Empfänger der Botschaft liegt, wenn sie keine Wirkung entfaltet – oder jedenfalls nicht die Gewünschte.[13]

Die Gefangenen des Gleichnisses glauben, dass der Zurückgekehrte „mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen“ sei. Von Rückkehrern erwartet man, dass sie sich reuig eingliedern – man denke nur ans biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn[14] – nicht aber, dass sie daraus eine Erfolgsstory machen und die „Zurückgebliebenen“ damit kränken, ihnen jetzt auf die Sprünge helfen zu müssen.

Wenn das Gleichnis „erklären“ soll, warum die Aufklärung keine begeisterte Aufnahme findet, so kann das auch die „Gegenaufklärung“ für sich reklamieren. Sie sieht die herrschende Ordnung von Leuten bekämpft, die im falschen Bewusstsein verhaftet sind und aus ihren Verschwörungstheorien nicht herausfinden. Wenn ihnen Fakten-Checker helfen wollen, sich aus der populistischen Verstrickung zu lösen, reagieren sie uneinsichtig und aggressiv. Kehrt nun Herr Drosten, pardon, Prof. Dr. Drosten erleuchtet aus seinen lichtenden Laboren zurück oder John Ioannidis? Das wird uns das Gleichnis nicht lösen können. Zeigt es nicht auch selbst schon verschwörerische Züge: wie anders sind die Fesseln und die im Verborgenen agierenden „Gaukler“ (θαυματοποιοί) zu verstehen, die den Gefesselten die Schatten auf der Höhlenwand vermitteln – die Höhlenwand würden wir heute wohl als Bildschirm bezeichnen, auf den Medienschaffende, öffentlich-rechtliche oder alternative, ihre virtuellen Propaganda-Schatten (θαύματα) werfen.

Hat das Gleichnis – so gelesen (!) – nicht vielleicht den größten Nutzen, wenn die weltrettenden Aufklärer sich ihrerseits als Gefangene sehen könnten!? Dann wäre nicht zu fragen, warum die anderen so blöd sind und was ihre unmündige Blödheit für den Erwecker bedeutet, sondern ob der Erwecker nicht selbst einer der Gefangenen sein könnte, der Schatten nachjagt und sich aus den Fesseln der eigenen Befangenheit nicht zu lösen vermag. Das jedenfalls würde – wechselweise für Aufklärung und Gegenaufklärung unterstellt – den Weg in eine wirkliche Verständigung öffnen, die immer voraussetzt, „dass der Andere Recht haben könnte“.[15] Es wird sich zeigen (im Exkurs), dass diese durchaus paradoxe Ausdeutung nicht weit von dem entfernt ist, was Platon mit dem Gleichnis zeigen will.

Platon? – sei’s drum

Gleichnisse haben eine begrenzte argumentative Kraft. Sie zeigen etwas, von dem man willens sein muss, es auf etwas anderes hin zu verstehen. Ein Gleichnis kann die Augen nur öffnen, wenn der Vergleich als solcher akzeptiert wird (siehe Exkurs).

Und: Gleichnisse brauchen eine mehr oder weniger ausdrückliche Auslegung. Für Platon dient das Höhlengleichnis dem Verständnis der Idee des Guten. Das mag dahingestellt bleiben. Nichts zwingt uns, das Höhlengleichnis genau so zu sehen und es nicht auf eigene Rechnung zu nutzen: eben als Gleichnis für die Paradoxie der Aufklärung, schuldhaft (!) Unmündige aufklären zu wollen und also ihre mühsam erworbenen Erkenntnisse dem „Publikum“ nahezubringen, das davon gar nichts wissen will. Mein Vorbehalt ist nicht, dass damit Platon Gewalt angetan wird, meine Skepsis richtet sich darauf, dass ein solcher Vergleich keine argumentative Kraft hat und leicht zu Selbstimmunisierung und Selbstmitleid führt.

Sei’s drum. Ich glaube durchaus, dass Platon und dem Höhlengleichnis auch in dieser politischen Lesart etwas abzugewinnen ist. Das zeigt sich am Ende des Höhlengleichnisses (1) und im Gleichnis des Staatsschiffes  (2).

Wer soll regieren? (1)

Platons Gleichnis legt es nahe, dass die Erleuchteten eine Einsicht gewonnen haben, die gut und erstrebenswert ist, und die zu etwas taugt.[16] Diese Erkenntnis mag ihnen bei der Anleitung ihrer Mitgefangenen durchaus von Nutzen sein, und das wird von Sokrates – bei richtiger Wiedereingewöhnung – ausdrücklich unterstellt.[17] Vor allem aber gibt die gewonnene Einsicht ein anderes Selbstverständnis und lässt das eigene Tun anders einordnen. Während jetzt (!) die Staaten „von solchen verwaltet werden, welche Schattengefecht miteinander treiben und sich entzweien um die Obergewalt, als ob sie ein gar großes Gut wäre“,[18] wissen die Einsichtsvollen um das Schöne, Wahre und Gute, dem ihr eigentliches Bestreben gilt. Ihnen geht es nicht um Schattengeschäfte, sondern um etwas, das die Machtpolitik übersteigt und bestenfalls anleitet. Weder dürfen „die Ungebildeten und der Wahrheit Unkundigen dem Staat gehörig vorstehen werden, noch auch die, welche man sich immerwährend mit den Wissenschaften beschäftigen lässt [!] … Die einen, weil sie nicht einen Zweck im Leben haben, auf welchen zielend sie alles täten, was sie tun für sich und öffentlich; die anderen, weil sie gutwillig gar nicht Geschäfte werden betreiben wollen, in der Meinung, daß sie noch immer auf den Inseln der Seligen leben und also abwesend sind.[19] So kommt Sokrates zu dem Schluss, der auch für die politische Ausdeutung des Höhlengleichnisses vielleicht hilfreich sein kann: „Das Wahre daran ist aber dies: der Staat, in welchem die zur Regierung Berufenen am wenigsten Lust haben zu regieren, wird notwendig am besten und ruhigsten verwaltet werden, der aber entgegengesetzte Regenten bekommen hat, auch entgegengesetzt.

Das Gleichnis vom Staatsschiff (2)

Unterstellen wir mal, wir hätten den (oder diejenigen) ausmachen können, die den Staat idealer Weise regieren sollen, nennen wir sie – spaßeshalber – mal Philosophen.[20] Nun haben wir sie ja gesucht, weil wir vermuten, dass der Staat nicht durch die Richtigen regiert wird – wir wollten etwas finden, das wir noch nicht haben. Nun stellt sich die Frage, warum die Richtigen nicht regieren?![21] Gibt es sie vielleicht gar nicht? Haben wir uns etwas ausgesponnen, was es in der Welt gar nicht geben kann – Heilige eben oder Übermenschen? Oder wenn es sie gibt, warum werden sie dann nicht als diejenigen erkannt, die dazu am besten befähigt. Viele schmerzt zwar der der Rücken, aber sie suchen Hilfe bei inspirierten Wunderheilern statt bei einer erfahrenen Physiotherapeutin.

Schlimmer noch: es ist kein ignorantes Übersehen der richtigen Option, es ist eine ausdrückliche Opposition gegen die Befähigten – hier in der Politeia die Philosophen. Sie gelten als unnütz und für politische Dinge nicht zu gebrauchen – ich fürchte, ich teile, obgleich im weitesten Sinne philosophisch „interessiert“, diese Meinung zu nicht geringen Teilen: Philosophen, Künstler und andere „Intellektuelle“ sind allzu oft – wenn sie nicht grade auf der Besetzungs-Couch philanthropischer Mäzenen Platz genommen haben – auf der Traum-„Insel der Seligen“ unterwegs und also „abwesend“ und ganz weit weg.

Um den von Adeimantos, einem weiteren Gesprächspartner (ebenfalls ein Bruder Platons), aufgeworfenen Punkt zu beantworten „bedarf“ Sokrates wiederum eines „Bildes“.[22] Ein Schiffseigner, nicht grade der Hellste und ohne Verständnis der Seefahrt, sucht für seine Flotte den geeigneten Steuermann (κυβερνήτης). Die Mannschaft ringt um die Führung und kämpft in unterschiedlichen Gruppen um die Einsetzung durch den Eigner. Sollte es welche geben, die der Steuermannskunst tatsächlich mächtig sind, dann wird die Mannschaft ihnen diese Kunst absprechen und behaupten, dass es eine solche gar nicht gäbe, es vielmehr auf Erfahrung und z.B. auf das gute Verhältnis zur Mannschaft ankomme. Wie soll und kann der Eigner entscheiden? Die Frage wird nicht geklärt. Aber Sokrates gibt ihr eine entscheidende Wendung, die wiederum mit einem Vergleich arbeitet. Der Meister der Steuermannskunst wird sich beim Eigner und gegen die Mannschaft vielleicht nicht durchsetzen können. „Ich glaube auch nicht, sprach ich, daß du das Bild wirst vorerklärt sehen wollen, wie es wirklich dem Verhalten der Staaten gegen die wahren Philosophen gleicht, sondern daß du schon verstehst, was ich meine.[23] Der Aufklärer setzt die Ignoranz der Unmündigen voraus und darf sich nicht wundern, dass nicht die Richtigen regieren. Stattdessen wäre es wohl „viel wunderbarer, wenn sie geachtet würden“.[24]

Aber darum geht es Sokrates gar nicht: Philosophen gelten als „unnütz“, nicht weil sie es sind oder sein müssten, sondern weil von ihnen kein Gebrauch gemacht wird. Wer mit einem Stromgenerator nichts anzufangen weiß, wird ihn aus dem Haus schaffen, weil er nur Platz wegnimmt, um dann im leeren Keller im Dunklen zu sitzen. Nun könnten die Philosophen ja doch für sich werben. Für sich werbende Philosophen aber sind Schein-Philosophen, Sophisten.[25]Die Natur der Sache liegt nicht so, daß der Steuermann die Schiffleute bitten solle, sich von ihm regieren zu lassen, noch daß die Weisen vor die Türen der Reichen gehen, …, vielmehr ist das Wahre von der Sache, daß, mag nun ein Reicher krank sein oder ein Armer, er vor des Arztes Türe gehen muß, und so jeder, der beherrscht zu werden bedarf, zu dem, der zu herrschen versteht, nicht aber, daß dieser die zu Beherrschenden bitte, sich beherrschen zu lassen, wenn er nämlich in Wahrheit etwas taugt.[26]

Der wahlkämpfende Parteipolitiker ist nicht gerade das Ideal, das der platonische Sokrates hier im Sinn hat. Im Gegenteil. Ob damit bereits eine Feindschaft für die „offene Gesellschaft“ verbunden ist,[27] mag hingestellt bleiben. Es bekundet zumindest ein Misstrauen gegenüber Leuten, die sich vor allem um Macht und Anerkennung bemühen.

Das sind Stücke, die bestens fürs neue Saarland taugen. Mir scheint damit mehr gewonnen, als wenn wir uns ein bisschen selbstgefällig und selbstmitleidig über die Gefangenschaft der gefesselten, Schattenbilder schauenden Medienkonsumenten beklagen und uns selbst in die Position verzweifelter Helden bringen. Dem Gefühl der eigenen Ohnmacht wird das neue Saarland nicht entspringen. Der platonischen „Kunst der Umlenkung“ – auch Dialektik genannt – aber vielleicht schon.

Exkurs:
Der Aufstieg der Seele und die Kunst der Umlenkung

Äpfel und Birnen

Gleichnisse verstehen sich nicht von selbst. Sie weisen über sich hinaus. [28] Sie bekommen ihren Sinn durch den Zusammenhang, in dem sie verwendet werden. Sie werden von jemanden erzählt, um damit etwas anderes zu zeigen.[29] Wir müssen bei einem Gleichnis wissen, womit und worin und im Hinblick auf was die erzählte Geschichte verglichen werden soll. Deshalb brauchen sie in der Regel eine mehr oder weniger ausdrückliche Auslegung. Die Geschichte zweier im Streit liegender Brüder z.B., die gemeinsam bei stürmischem Wetter einen See überqueren, mag so spannend sein wie die von einem Wanderer, der, von Banditen verletzt und ausgeraubt, nun am Wegrand liegend auf Hilfe hofft. Wir bangen mit ihnen um einen guten Ausgang. Erst wenn das Boot für den Staat stehen soll, wird es zu einem Gleichnis, das uns mehr oder weniger überzeugen kann. Natürlich kann ich den Staat mit einem sic auf rauher See befindlichen Boot vergleichen, in dem wir alle sitzen, deshalb seinen Untergang verhindern und sein Fortkommen unter Absehung von Interessensunterschieden mit gemeinsamer Anstrengung sichern müssen. Freilich kann sich die mit dem Gleichnis angesprochene Gruppe der Unterstellung, in einem Boot zu sitzen, entziehen, weil sie das staatliche Handeln eher so erfährt, dass sie kielgeholt wird oder sich als unnötigen Ballast empfindet, der bei nächster Gelegenheit über Bord geworfen werden soll.

Gleichnisse sind nicht wahr (oder falsch), sie sind treffend (oder daneben – wer wurde nicht alles schon mit Hitler verglichen?), erfüllen ihre Funktion oder laufen ins Leere. Dabei ist nicht entscheidend, wie überzeugend, wahrscheinlich oder gar wahr der Sachverhalt ist, der fürs Gleichnis erzählt wird. Das Gleichnis mag uns „wunderlich“ vorkommen. Wir würden das Gleichnis freilich unterlaufen, wenn wir das Erzählte selbst als unplausibel abtun würden. Wer Orwells Animal Farm als „unrealistisch“ kritisiert, weil Tiere ja schließlich nicht sprechen können,[30] der benimmt sich der Einsicht des in der Fabelgeschichte angelegten Vergleichs. Nicht die Richtigkeit oder Plausibilität des Angeführten ist bedeutsam. Aus dem Vergleich sollen wir etwas gewinnen.[31]

Gleichnisse vergleichen etwas, das per se nicht gleich ist und der Erkenntnisgewinn sich gerade aus der Vergleichung des offensichtlich Ungleichen ergibt. Die Warnung, Äpfel nicht mit Birnen zu vergleichen, soll uns vor dem Fehler bewahren, Ungleiches mit gleichem Maß zu messen. Man soll den Dingen in ihrer Besonderheit gerecht zu werden. Der Marathon Man, der in der Altersklasse 60+ herausragt, würde vielleicht in der Gruppe der 20 bis 30jährigen im Mittelfeld untergehen. Ein Gleichnis aber, das – wiederum im Gleichnis gesprochen – nicht Äpfel mit Birnen vergleicht, erfüllt seine Funktion nicht, im Vergleich des Ungleichen etwas zu entdecken, was sonst unentdeckt geblieben wäre. Es geht um Analogien und nicht um Tatsachen. Ein Apfel verhält sich zur Ananas wie eine Birne zu Bananen. Es ist keineswegs gleichgültig, ob wir Äpfel oder Birnen servieren, weil Äpfel in ihrer süßen Säure eher der Ananas und Birnen ihrer weichen Süße mehr den Bananen „gleichen“.

Gleichnisse sind umso kunstvoller je mehr Analogien gezogen werden können. Das hat Augustinus am Beispiel des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter vorgeführt. Es soll Antwort auf die Frage (des Schriftgelehrten) geben, wer der Nächste sei, den man „von ganzen Herzen, von ganzer Seele und von allen Kräften und ganzem Gemüte“ lieben solle, um damit das ewige Leben zu „ererben“.[32] Augustinus sieht im Verwundeten die gesamte Menschheit, im Samariter Jesus Christus, die Herberge ist ihm die Kirche und dessen Wirt erstaunlicher Weise nicht Petrus sondern Paulus usw. usf.[33] Gerade darin zeigt sich, dass Gleichnisse auf Auslegung und nicht auf Gründe angewiesen sind. Es gilt zu verstehen, zu welchem Zweck sie angeführt werden.[34]

Die Idee des Guten

Papyrus-Fragment der Politeia

Das Höhlengleichnis findet sich im siebten Buch der Politeia, das im Deutschen den etwas missverständlichen Titel Der Staat trägt.[35] Die Politeia schildert – aus dem Munde des Sokrates – ein Gespräch im Hause des reichen Polemarchos, das sich nach kurzem Smalltalk der Frage zuwendet, was denn unter Gerechtigkeit zu verstehen sei. Da Personen aber auch Staaten gerecht genannt werden, wollte man die schwierige Untersuchung am „größeren“ Gegenstand, also dem Staat, vornehmen. Nachdem man sich darüber verständigte, was den gerechten Staat ausmacht, sollte daraus auch ein Verständnis gewonnen werden, was es heißt, eine Person gerecht zu nennen und gerecht zu handeln. Obgleich der Umweg über den Staat ausdrücklich von Sokrates vorgeschlagen war, zweifelt er nun, ob das so tatsächlich gelingen kann: „Und wisse nur, o Glaukon, daß nach meiner Meinung wir dergleichen durch ein solches Verfahren wie wir jetzt unseren Reden beobachten, niemals genau erhalten werden, sondern der Weg, der dazu führt, ist weiter und größer…[36] Seine Gesprächspartner halten freilich die Genauigkeit der gewählten Methode für hinreichend. Sie wollen wissbegierig und aus Sorge, die Untersuchung könnte sonst abgebrochen werden, am gewählten Vorgehen festhalten. Das führt sie dann auch zur Verständigung über „Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit, was jedes von diesen sei“.[37] Das gewählte Verfahren scheint sich bewährt zu haben.

Sokrates erinnert sie bald an die „mangelhafte Genauigkeit“, die er in dem eingeschlagenen Weg sieht: „Wir sagten ja, um dieses auf das allervollkommenste einzusehen (κάλλιστα κατιδεῖν), gebe es einen anderen weiteren Gang, den man machen müsse, wenn es so deutlich werden soll; Beweise aber, die mit dem Vorhergesagten zusammenhingen, könnten wir auch so anknüpfen, und ihr sagtet, das reiche hin. So wurde demnach dies damals erklärt mit nach meiner Meinung mangelhafter Genauigkeit (οὕτω δὴ ἐρρήθη τὰ τότε τῆς μὲν ἀκριβείας ἐλλιπῆ), wenn aber für euch befriedigend, so mögt ihr sagen.[38] Glaukon antwortet, dass ihm und den anderen Gesprächsteilnehmern die Genauigkeit angemessen scheint. Er sieht keinen Mangel und ist zufrieden.[39] Sokrates ist es freilich nicht. Obwohl er ihn ausdrücklich nach seiner Zufriedenheit mit der gewonnenen Einsicht fragt, will Sokrates das jetzt nicht gelten lassen. „Aber Freund, …, wenn in dergleichen das Maß auch nur im mindesten hinter dem, was ist, zurückbleibt, ist es gar nicht angemessen; denn nichts Unvollständiges ist das Maß von irgendwas. Allein manche glauben bisweilen, es sei schon hinreichend so und bedürfe nicht noch weiter untersucht zu werden.[40] Glaukon versteht den darin liegenden Vorwurf und will ihn zumindest relativieren: jene würden sich aus Trägheit damit zufriedengeben – bei Kant hieß es aus „Faulheit und Feigheit“ –, er hingegen, so dürfen wir unterstellen, wolle damit lediglich den von Sokrates eingeschlagenen Weg gutheißen.[41]

Schließlich kommt man überein, sich der „größten Einsicht“ (μέγιστον μάθημα) auf einem anderen Weg als bisher zuzuwenden: die Tugenden, die behandelt wurden, sind allesamt „gut“. Ein Staat, in dem Gerechtigkeit vorherrscht, ist gut. Und Gerechtigkeit Besonnenheit und Tapferkeit (Zivilcourage) lassen Personen richtig handeln, nämlich so, dass wir es gut nennen, so zu handeln. Die Tugenden beziehen sich auf ein Verständnis von „gut“, das freilich alles andere als klar ist: „Was also jede Seele anstrebt und um dessentwillen alles tut, ahnend es gäbe so etwas, aber doch nur schwankend und nicht recht treffen könnend, was es wohl ist, noch zu einer festen Überzeugung gelangend …[42] Die „größte Einsicht“ ist, sich auf das zu verstehen, um willen alles andere geschieht, nämlich die „Idee des Guten“ (τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα μέγιστον μάθημα).[43]

Für die „größte Einsicht“ ist nun auch die „größte Genauigkeit“ (μεγίστας ἀκριβείας) gefordert. Mit Blick darauf ist es allerdings verblüffend, dass Sokrates dieser „größten Einsicht der Idee des Guten“ in drei Gleichnissen, dem Sonnen-, dem Linien- und eben dem Höhlengleichnis nachgeht.

In die Höhle des Lebens

Nächstdem, … , vergleiche dir unsere Natur in Bezug auf Bildung und Unbildung folgendem Zustand…[44]

  • Nächstdem“ – es ging dem manches voraus, das nun ergänzt werden soll. Das Sonnengleichnis bedarf des Liniengleichnisses und das muss vom Aufstieg aus der Höhle und der Rückkehr in diese ergänzt oder erläutert werden. Gleichnisse erläutern Gleichnisse – und darin liegt die „größte Genauigkeit“ und die „vollkommenste Einsicht“ (κάλλιστα αὐτὰ κατιδεῖν)?!
  • Wenn Schleiermacher vom „Zustand“ spricht, der zum Vergleich herangezogen werden soll, dann ist das etwas beschönigend und im Grunde verfälschend: im Griechischen ist von Pathos (πάθος) die Rede, von etwas das einem widerfährt, einem Widerfahrnis oder einer „Erfahrnis“.[45] Anders als die beiden statischen Gleichnisse, dem Vergleich der Idee des Guten mit der Sonne, die das Sichtbare durch Sehen für das Auge sichtbar macht und dem Liniengleichnis, das Wissensformen des Sichtbaren und Denkbaren unterscheidet, ist das Höhlengleichnis ein Dynamisches: in ihm geschieht etwas, nämlich der Aufstieg zur Welt im Licht und der Rückstieg in die Höhle der Schatten.

Verglichen werden soll diese „Erfahrnis“ mit dem, was die Natur unserer Bildung (παιδεία) und dem Wesen des Ungebildetseins (ἀπαιδευσία) ausmacht. Die Bildung zielt auf die „größte Einsicht“ und damit die „Idee des Guten“. Sokrates deutet das Gleichnis als Weg, die Idee des Guten zu verstehen. Das Sichtbare kommt dem Aufenthalt der Gefangenen gleich, das die Schatten erzeugende Feuer dem Sonnenlicht, das vorbeigetragene „Zeug“ den Dingen. Die „wirklichen“ Dinge jenseits der Höhle, deren Ab- und Nachbildung die schattenwerfenden Dinge der Höhle sind, stehen für die Ideen, die das zu verstehen geben, was die Dinge in ihrem Wesen ausmacht.[46] Sie werden in der Sonne sichtbar, die wiederum – wie im Sonnengleichnis – für die Idee des Guten steht. Das Höhlengleichnis kann wie das Sonnengleichnis die Idee des Guten nicht begründen – was immer das heißen sollte. Sie machen nur verständlich, was wir unter der Idee des Guten zu verstehen haben, die „jenseits“ der Ideen noch anzunehmen ist. Freilich war im Sonnengleichnis bereits an Hand des Vergleichs mit den sichtbaren Dingen gezeigt worden, dass es für ihre Erkennbarkeit durch das Auge noch des Lichts bedarf.

Der Gewinn des Höhlengleichnisses liegt also nicht im Aufstieg zur wirklichen Welt und ihrer Sonne, der Idee des Guten, sondern im Rückstieg in die Höhle. Und gerade dieses Zurückkehren (καταβαίνειν) hat seine Schwierigkeiten. Einmal natürlich das gefährliche Unverständnis, das es bei den Zurückgebliebenen auslöst – das war ja einer der Gründe für die Beliebtheit, die das Gleichnis bei (verkannten) Aufklärern (beider Seiten) genießt. Aber es gibt noch einen viel entscheidenderen Punkt: warum sollte man überhaupt aus dem Licht der Erkenntnis in die Höhle der Schatten zurückkehren wollen, man dürfe sich doch nicht wundern „wenn diejenigen, die bis hierher gekommen sind [also in die Welt des Lichts; HL], nicht Lust haben, menschliche Dinge zu betreiben, sondern ihre Seelen immer nach dem Aufenthalt oben trachten; denn so ist es ja natürlich, wenn sich dies nach dem vorher aufgestellten Bilde verhält.[47] Sie mögen sich verpflichtet fühlen, den Zurückgebliebenen zu helfen, das wäre aber eine dem Gleichnis „externe“ Motivation, eine die dem Gleichnis nicht zu entnehmen ist und die auftreten oder ausbleiben kann. Glaukon wendet auch verständlicherweise ein, dass wir ihnen „Unrecht zufügen“ würden und „schuld“ daran wären, „daß sie schlechter leben, da sie es besser könnten“![48]

Sokrates antwortet darauf vorwurfsvoll – und das heißt für uns Leser immer, wir müssen genau hinhören –, Glaukon habe mit diesem Einwand „wieder vergessen“, dass es um das Ganze des Staats und dessen Wohlsein gehe (εὖ πράττειν), nicht aber um das gleichsam isolierte Wohl einzelner Teile. Man dürfe es den Erleuchteten also „nicht erlauben, was ihnen jetzt erlaubt wird“,[49] nämlich sich von der Höhle und ihren Schatten fernzuhalten.

Allegorie des Höhlengleichnisses

Das mag für den Staat noch recht und schlecht gelten – Sokrates verweist auf die Verpflichtung, dem „Staat“ etwas für die von ihm geförderte Ausbildung zurückzugeben. Freilich war der Staat „nur“ der „größere“ Gegenstand an dem untersucht werden sollte, was Gerechtigkeit ausmacht. Was dem Staat seine Stände, sind der Seele ihre unterschiedenen Vermögen(steile) (das begehrende Verlangen, ἐπιθυμητικόν, das widerständige Aufbegehren, θυμοστικόν, und natürlich die sich verständigende Vernunft, λογιστικόν). Die Konstruktion der Teile des Staats resultieren aus Teilen der Seele, denen einzelne Tugenden zugewiesen werden können. Der Aufstieg aus der Höhle und die Rückkehr in sie sind vor allem Vorgänge in der Seele selbst, nämlich die „Erfahrnis“, die Personen mit sich selbst und dem „Aufschwung der Seele“ (ἄνοδος τῆς ψυχῆς) machen – wie Schleiermacher etwas lyrisch übersetzt.[50] Im Anschluss an das Liniengleichnis, das „Wissensformen“ unterscheidet, durchläuft sie der Philosophierende auf dem Weg zur Idee des Guten. Die Schattenbilder entsprechen – wie wir „sahen“ – im Gleichnis dem sinnlichen Sehvermögen und verallgemeinert, den Sinneseindrücken. Die Gefangenen sind radikale Sensualisten. Sie „wissen“ nur was sie vor sich sehen und erkennen die Schatten nicht als Schatten, die auf etwas anderes verweisen. „Wir müssen daher, …, so hierüber denken, wenn das Bisherige richtig ist, daß die Bildung (παιδεία)[51] nicht das sei, wofür einige sich vermessen sie auszugeben. Sie behaupten nämlich, wenn keine Erkenntnis in der Seele sei, könnten sie sie ihr einsetzen, wie wenn sie blinden Augen ein Gesicht [das Sehvermögen, HL] einsetzten.[52] Das Sehen ist ein der Seele innewohnendes Vermögen. Nicht das Auge wendet sich aus dem Finstern ins Helle, sondern die Seele oder die Person, die mit dem Auge sieht. Es ist also ein Aufstieg, der sich in der Seele ereignet, eine „Erfahrnis“ der sich bildenden Person. Der Aufstieg ist das Ergebnis einer „Kunst der Umlenkung“ (τέχνη τῆς περιαγωγῆς), die eben nicht die Kunst ist, „das Sehen erst einzubilden, sondern als ob es dies schon habe und nur nicht recht gestellt sei und nicht sehe, wohin es solle, ihm dieses zu erleichtern“.[53] Natürlich lässt die Seele ihr Empfindungs- und Wahrnehmungsvermögen auch nicht einfach hinter sich – so als würden sie wie ein abgebranntes Brennelement abgeworfen. Sie hat sichverwandelt: sie sieht weiterhin die Schatten auf der Höhlenwand, versteht sie jetzt aber als Schatten von wahrnehmbaren Dingen, von denen sie sagen kann, was sie sind.

Die an sich selbst erfahrene „Kunst der Umlenkung“, nämlich die Seele zu bilden, erlaubt es dann auch die anderen Gefangenen der Höhle auf diesen Weg zu bringen. Freilich – und das ist der entscheidende Punkt – wird die Anwendung der Kunst zu einer Art „Verpflichtung“ – wer sie hat, kann gar nicht anders als sie auszuüben.[54] Das ist jedenfalls Sokrates „Hoffnung“ (ἐλπίς)[55] und sie gründet in der „Idee des Guten“: „Gott mag wissen, ob sie [die Hoffnung, HL] richtig ist; was ich wenigstens sehe, das sehe ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich dafür anerkannt wird, daß sie für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, … und daß also dies sehen muss, wer vernünftig handeln will…[56] Wer das Gute erkennt, will es. Einsicht ins Gute ist Verwirklichung der Kunst. Sie ist von dem, der sie hat und seinem Leben nicht zu trennen. Sie prägt sein Dasein. Er hat sich aus der fesselnden Befangenheit befreit, die Schatten nicht als Schatten zu erkennen. Er ist nun befähigt, das was er sieht und sinnlich wahrnimmt, zu verstehen. Das genau macht die Einsicht aus – sie versteht nicht etwas anderes, sondern sich in der gemeinsamen Welt auf das, was ihr in ihr begegnet und zu tun ist. Der „Aufschwung der Seele“ in der „Kunst der Umwendung“ zum Licht ist aus auf das Zurückkommen (καταβαίνειν). Einsicht ist selbst nichts anderes als die Bildung der Seele und ihre Ausrichtung aufs Gute. „Ihr müsst also nun wieder herabsteigen, jeder in seiner Ordnung … Denn gewöhnt ihr Euch hinein, so werdet ihr tausendmal besser als die dortigen sehen und jedes Schattenbild erkennen, was es ist und wovon …“ Sie werden „wach“ leben und nicht „träumend“. Einsicht heißt sich darauf zu verstehen, die „menschlichen Dinge“ gut zu betreiben und das eigene Leben gelingend zu führen (εὖ πράττειν). Das eigene Leben kann man gar nicht anders als am Guten ausrichten wollen.

[1] Immanuel Kant, Werke, Bd. 9, S. 53.

[2] Ebenda. Die „wahren“ Aufklärer sehen sich in der Minderheit. Sie wissen nur zu gut, dass die Mehrheit – nicht selten ist von 80% die Rede – anderer Meinung sind, obwohl doch alle lesen können und alles, was man wirklich wissen muss, offen bereitliegt.

[3] Er unterscheidet davon einen „Privatgebrauch“, der die Meinungsfreiheit deutlich einzuschränken erlaubt: der Soldat darf als Soldat nicht „räsonnieren“, sondern muss gehorchen. Gleiches gilt vom Verwaltungsangestellten oder Priester. Als Personen und Bürger freilich muss ihnen die Freiheit der öffentlichen (!) Meinungsäußerung gewährt werden.

[4] A.a.O., S. 55.

[5] Kant führt hier lobhudelnd das Beispiel seines Landesfürsten Friedrichs des Großen an, der es, so Kant, für seine Pflicht hielt, „in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen, der also selbst den hochmütigen Namen der Toleranz von sich ablehnt“. Friedrich sei „selbst aufgeklärt, und verdient von der dankbaren (!) Welt und Nachwelt als derjenige gepriesen zu werden, der zuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit, wenigstens von Seiten der Regierung, entschlug, und jedem frei ließ, sich in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen.“ (a.a.O., S. 59f.) Aufklärung von unten braucht also Aufklärung von oben – na dann: gute Nacht und ruhigen, „bequemen“ Schlaf bis der Erwecker von oben an unser Ruhelager tritt und uns sanft die Augen öffnet.

[6] Sokrates spricht von einem „Musterbild eines guten Staates“ (472d: παράδειγμα ἀγαθῆς πόλεως). Seither gibt es immer wieder den Versuch, das Ideal einer politischen Ordnung zu beschreiben – sei es der „beste Zustand des Staates“ als Insel Utopia (Thomas Morus) oder ein „neues“ Saarland (Sven Böttcher) – um daran politisches Handeln auszurichten.

[7] Bereits 457d-458b wird die Frage verhandelt, ob es überhaupt möglich sein wird, die merkwürdigen Überlegungen zum Aufbau des „idealen“ Staats umzusetzen. Sie wird erstmal verschoben. Man müsse erst genauer bestimmen, wie der Staat sein solle, um dann zu klären, ob und wie das realisierbar ist. In 472b-473b kommt Sokrates selbst nochmal auf die ungeklärte Möglichkeit dessen zurück, ob und wie das entworfene „Musterbild des guten Staats“ „politisch“ zur Geltung gebracht werden kann. Zu wissen, was Gerechtigkeit ist, heißt nicht, dass es sie „gibt“ und wir sie in dieser Welt erwarten dürfen. Im übrigen: „Ist es möglich, daß etwas so ausgeführt werden kann, wie es beschrieben wird? Oder liegt es in der Natur der Tat, daß sie weniger das wahre Wesen trifft als die Rede (φύσιν ἔχει πρᾶξιν λέξεως ἧττον ἀληθείας ἐφάπτεσθαι), wenn es einem auch nicht so scheint?“ Wenn dieses „Ideal“ nun nicht als solches umgesetzt werden könne, so wäre es doch gut, den Staat „so nahe wie möglich“ an diesem „Vorbild“ auszurichten. Das freilich sei Aufgabe der Herrschenden, denen man sich jetzt zuwenden müsse. – Auch das ein schöner Appell für alle „Neu-Saarländer“!

[8] 514a-b: ἰδὲ γὰρ ἀνθρώπους οἷον ἐν καταγείῳ οἰκήσει σπηλαιώδει, ἀναπεπταμένην πρὸς τὸ φῶς τὴν εἴσοδον ἐχούσῃ μακρὰν παρὰ πᾶν τὸ σπήλαιον, ἐν ταύτῃ ἐκ παίδων ὄντας ἐν δεσμοῖς καὶ τὰ σκέλη καὶ τοὺς αὐχένας, ὥστε μένειν τε αὐτοὺς εἴς τε τὸ πρόσθεν μόνον ὁρᾶν, κύκλῳ δὲ τὰς κεφαλὰς ὑπὸ τοῦ δεσμοῦ ἀδυνάτους περιάγειν, φῶς δὲ αὐτοῖς πυρὸς ἄνωθεν καὶ πόρρωθεν καόμενον ὄπισθεν αὐτῶν, μεταξὺ δὲ τοῦ πυρὸς καὶ τῶν δεσμωτῶν ἐπάνω ὁδόν, παρ᾽ ἣν ἰδὲ τειχίον παρῳκοδομημένον, ὥσπερ τοῖς θαυματοποιοῖς πρὸ τῶν ἀνθρώπων πρόκειται τὰ παραφράγματα, ὑπὲρ ὧν τὰ θαύματα δεικνύασιν. Im ergänzenden Kontrast zur oben zitierten und immer noch vielgebräuchlichen Schleiermacher Übersetzung sei auch die Heideggersche Übertragung angefügt: „Bringe dir nämlich in den Blick dieses: Menschen halten sich unter der Erde in einer höhlenartigen Behausung auf. Nach oben gegen das Tageslicht eignet dieser der langhin sich erstreckende Eingang, auf den zu das ganze Gehöhle sich versammelt. In dieser Behausung haben die Menschen, gefesselt an den Schenkeln und den Nacken, von Kindheit her ihren Verbleib. Deshalb verharren sie auch an derselben Stelle, so daß ihnen nur dies Eine bleibt, auf das hinzusehen, was ihnen von vorne ins Angesicht begegnet. Ringsherum jedoch die Köpfe zu führen, sind sie, weil gefesselt, außerstande. Ein Lichtschein freilich ist ihnen gewährt, von einem Feuer nämlich, das ihnen, allerdings von rückwärts, oben und fernher, glüht. Zwischen dem Feuer und den Gefesselten (in deren Rücken also) läuft obenhin ein Weg; dem längs, so stelle dir das vor, ist eine niedere Mauer gebaut gleich den Schranken, die sich die Gaukler vor den Leuten aufrichten, um über sie weg die Schaustücke zu zeigen.“ (Heidegger, a.a.O., S. 203) Na ja, Heidegger eben und im Kontrast allemal hilfreich.

[9] ἄτοπον, ἔφη, λέγεις εἰκόνα καὶ δεσμώτας ἀτόπους.

[10] 515a: τοὺς γὰρ τοιούτους πρῶτον μὲν ἑαυτῶν τε καὶ ἀλλήλων οἴει ἄν τι ἑωρακέναι ἄλλο πλὴν τὰς σκιὰς τὰς ὑπὸ τοῦ πυρὸς εἰς τὸ καταντικρὺ αὐτῶν τοῦ σπηλαίου προσπιπτούσας

[11] Cf. oben die Beschreibung Kants.

[12] 516e-517a.

[13] Wir werden sehen, dass die „ideale“ Botschaft an die Bedingungen der Höhle angepasst werden muss – der Botschafter muss sich dort eingewöhnen und wird erst dann in der Lage sein, die Schatten mit den Ideen zu verbinden.

[14] Lk 15, 11-32.

[15] So Hans-Georg Gadamer u.a. in einem Interview (21.02.2000) mit einem „Nachrichtenmagazin“, das diese Haltung nicht aufzubringen vermag.

[16] Das ist nach Heidegger die treffendste Übersetzung des griechischen ἀγαθόν, das gemeinhin mit „gut“ übersetzt wird. „τὸ ἀγαθόν bedeutet, griechisch gedacht, das, was zu etwas taugt und zu etwas tauglich macht.“ (Heidegger, a.a.O., S. 225)

[17] Siehe Exkurs und 520c.

[18] 520c-d.

[19] 519b-c: μήτε τοὺς ἀπαιδεύτους καὶ ἀληθείας ἀπείρους ἱκανῶς ἄν ποτε πόλιν ἐπιτροπεῦσαι, μήτε τοὺς ἐν παιδείᾳ ἐωμένους διατρίβειν διὰ τέλους, τοὺς μὲν ὅτι σκοπὸν ἐν τῷ βίῳ οὐκ ἔχουσιν ἕνα, οὗ στοχαζομένους δεῖ ἅπαντα πράττειν ἃ ἂν πράττωσιν ἰδίᾳ τε καὶ δημοσίᾳ, τοὺς δὲ ὅτι ἑκόντες εἶναι οὐ πράξουσιν, ἡγούμενοι ἐν μακάρων νήσοις ζῶντες ἔτι ἀπῳκίσθαι;

[20] 473c-d: „Wenn nicht in den Staaten entweder die Philosophen Könige werden oder die, welche man jetzt Könige und Herrscher nennt, echte und gründliche Philosophen werden, und wenn nicht diese beiden, die politische Macht und die Philosophie, in eines zusammenfallen und all die vielen Naturen, die heute ausschließlich nach dem einen oder dem anderen streben, zwingend ausgeschlossen werden, dann, mein lieber Glaukon, gibt es kein Ende der Übel für die Staaten und, wie ich meine, auch nicht für die Menschheit.“ – Dazu die überaus lesenwerte Studie von Robert Spaemann, Platons Philosophenkönige, in: ders., Schritte über uns hinaus, Gesammelte Reden und Aufsätze I, Stuttgart 2010, S. 117ff., aus der ich viele Anregungen gewonnen habe.

[21] Das Problem stellt sich auch wenn wir statt den Philosophen, die Kinder an der Macht sehen wollen. Warum sind sie es nicht, obgleich wir sie doch als die Geeigneten zu finden glaubten?

[22] 487e. Adeimantos zeigt sich verwundert, da Sokrates, der Gründe sucht und geben will, nun auf ein Bild zurückgreifen will. Sokrates antwortet mit einem abwiegelnden „Sei’s drum“.

[23] 489a.

[24] Pol. 489a: πολὺ ἂν θαυμαστότερον ἦν εἰ ἐτιμῶντο

[25] Denn es liegt nicht in der Natur,

[26] 489b-c: οὐ γὰρ ἔχει φύσιν κυβερνήτην ναυτῶν δεῖσθαι ἄρχεσθαι ὑφ᾽ αὑτοῦ οὐδὲ τοὺς σοφοὺς ἐπὶ τὰς τῶν πλουσίων θύρας ἰέναι, …, τὸ δὲ ἀληθὲς πέφυκεν, ἐάντε πλούσιος ἐάντε πένης κάμνῃ, ἀναγκαῖον εἶναι ἐπὶ ἰατρῶν θύρας ἰέναι καὶ πάντα τὸν ἄρχεσθαι δεόμενον ἐπὶ τὰς τοῦ ἄρχειν δυναμένου, οὐ τὸν ἄρχοντα δεῖσθαι τῶν ἀρχομένων ἄρχεσθαι, οὗ ἂν τῇ ἀληθείᾳ τι ὄφελος ᾖ.

[27] So der berühmt berüchtigte Verdacht von Popper. Er widmet Platon der ersten Band seiner zweibändigen Streitschrift: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, Der Zauber Platons (dt. 1958), die im Übrigen „dem Andenken des Philosophen der Freiheit und Menschlichkeit Immanuel Kant“ gewidmet ist.

[28]Ein Gleichnis trägt seinen Sinn nicht in sich selbst“.  So Wolfgang Wieland in seinem wegweisenden Buch Platon und die Formen des Wissens, 1982, S. 222.

[29] Literaturwissenschaftlich unterscheidet man dabei einen „Stichsatz“, der zum Gleichnis hinführt bzw. es einleitet, einem „So-“ und einen „Wie“-Teil:

 „… Heran jetzt brausten die Völker.
Gleichwie Schwärme von Bienen in dichtem Gewimmel sich nahen;
Immer neue strömen hervor aus der Höhlung des Felsens;
Dann in Trauben gedrängt, umfliegen sie Blumen des Lenzes;
Hier jetzt schwärmet ein Volk, und andere schwärmten da drüben:
Also zogen die Massen der Völker von Schiffen und Zelten,
Schar an Schar, zur Versammlung, entlang am tiefen Gestade,
Denn ein Gerücht, von Zeus gesendet, war unter den Männern
Plötzlich entbrannt und trieb sie zur Eile, bis alle versammelt.“ (Ilias II 86-94)

[30] Ich fürchte, dass dies auch nicht der Grund war, warum es auf Weisung der britischen Regierung 1944 nicht erscheinen konnte und in der DDR nicht gelesen werden sollte.

[31] Bei Aussagen der Form „Wenn der Mond ein grüner Käse ist, dann bin ich Kaiser von China.“, ist mit dem Hinweis, dass der Mond aber doch kein grüner Käse ist, nichts gewonnen und die Wahrheit der Subjunktion nicht bestritten. Eine Subjunktion A -> B ist eben nur dann falsch, wenn die A wahr (Der Mond ist ein grüner Käse) und B falsch ist (und ich dennoch nicht der Kaiser von China bin). Es führt also nicht wirklich weiter, die „Lebenswelt“ des Gleichnisses als undenkbar zu kritisieren und z.B. darauf zu verweisen, dass Menschen nicht ihr ganzes Leben gefesselt sein könnten. Wie sollten sie denn unter diesen Umständen und unter Voraussetzung der antiken Technik „groß“ werden können – mit der Phantasie des 21. Jahrhunderts wäre das vermutlich durchaus vorstellbar.

[32] Cf. Lk 10, 25-37.

[33] Quaestiones Evangeliarum II, 19 (zit. n. Hist. Wb. d. Rhetorik Bd. 3, Sp. 1003.)

[34] Ich kann mir nicht verkneifen, die – aus meiner Sicht – ultimativ richtige Auslegung (😉) anzudeuten: der Schriftgelehrte fährt schweres Geschütz auf, er zitiert aus dem mosaischen Gesetz: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst“. „Von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt“ zu lieben – oh weh, was ist da alles gefordert und zu bedenken?! Jesu Gleichnis macht alles ganz einfach: einfach helfen!

[35] Mit Politeia ist die Verfasstheit der Polis oder des Gemeinwesens gemeint.

[36] 435d.

[37] 540a:

[38] 504b: ἐλέγομέν που ὅτι ὡς μὲν δυνατὸν ἦν κάλλιστα αὐτὰ κατιδεῖν ἄλλη μακροτέρα εἴη περίοδος, ἣν περιελθόντι καταφανῆ γίγνοιτο, τῶν μέντοι ἔμπροσθεν προειρημένων ἑπομένας ἀποδείξεις οἷόν τ᾽ εἴη προσάψαι. καὶ ὑμεῖς ἐξαρκεῖν ἔφατε, καὶ οὕτω δὴ ἐρρήθη τὰ τότε τῆς μὲν ἀκριβείας, ὡς ἐμοὶ ἐφαίνετο, ἐλλιπῆ, εἰ δὲ ὑμῖν ἀρεσκόντως, ὑμεῖς ἂν τοῦτο εἴποιτε. – κάλλιστα κατιδεῖν lässt sich auch mit „am schönsten einsehen“ übersetzen.

[39] Sokrates sprach von ἀρεσκόντως.

[40] 504c: ἀλλ᾽, ὦ φίλε, ἦν δ᾽ ἐγώ, μέτρον τῶν τοιούτων ἀπολεῖπον καὶ ὁτιοῦν τοῦ ὄντος οὐ πάνυ μετρίως γίγνεται: ἀτελὲς γὰρ οὐδὲν οὐδενὸς μέτρον. δοκεῖ δ᾽ ἐνίοτέ τισιν ἱκανῶς ἤδη ἔχειν καὶ οὐδὲν δεῖν περαιτέρω ζητεῖν.

[41] In 435d sprach Sokrates von einem „weiteren Weg“, der eine anderen Zugang verschaffe. Dort sind die Rollen spiegelverkehrt verteilt: Glaukon fragt da Sokrates, ob er nicht damit zufrieden (ἀγαπητός) sein könne, dem bisherigen Verfahren weiter zu folgen, das ihm, Glaukos, doch ganz zureichend vorkomme. Und hier hatte Sokrates versichert, dass er das „vollkommen ausreichend“ finde (πάνυ ἐξαρκέσει).

[42] 505d-e: ὃ δὴ διώκει μὲν ἅπασα ψυχὴ καὶ τούτου ἕνεκα πάντα πράττει, ἀπομαντευομένη τι εἶναι, ἀποροῦσα δὲ καὶ οὐκ ἔχουσα λαβεῖν ἱκανῶς τί ποτ᾽ ἐστὶν οὐδὲ πίστει χρήσασθαι μονίμῳ …

[43] 505a.

[44] 514a: μετὰ ταῦτα δή, εἶπον, ἀπείκασον τοιούτῳ πάθει τὴν ἡμετέραν φύσιν παιδείας τε πέρι καὶ ἀπαιδευσίας.

[45] Heidegger übersetzt in Platons Lehre von der Wahrheit von 1931/32 pathos/πάθος mit „Erfahrnis“: „Hernach also verschaffe dir aus der Art der (im folgenden dargestellten) Erfahrnis einen Anblick (des Wesens) der Bildung sowohl als auch der Bildungslosigkeit, welches (Zusammengehörige ja) unser menschliches Sein in seinem Grunde angeht.“ (in: M. Heidegger, Wegmarken, 1978, S. 215f.) Typisch für Heidegger ringt er mit einer „sachlich“ genauen Übersetzung, die dem im Griechischen „ursprünglich“ Gemeinten (oder Bedeuteten) nachspürt und dann ausdrücklich mit dem Befremdlichen der Übersetzung spielt. Dass hier jemand mit- oder nachdenkt und sich nicht an der lexikalisch wörtlichen Übersetzung ausrichtet und eher dem „geistigen“ Wort, seiner sachlichen „Herkunft“ folgen will, erschließt sich nicht zuletzt am Umfang: aus 14 griechischen Wörtern werden im Heidegger-Deutsch 33. Dass Heidegger von „Erfahrnis“ spricht, ein seit dem 18. Jahrhundert „aussterbendes“ und „heute ungebrauchtes“ Wort verwendet (cf. Dt. Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm Bd. III (1962), Sp. 792), bringt doch das Geschehen, den Vollzug der Erfahrung, die im Gleichnis gezeigt wird, gut ins Licht. Bei den Grimms findet sich unter „Erfahrnus/Erfahrnis“ folgendes zitiert:

wie das liecht der weisheit angezündt wirt durch eigne erfarnus. pred. 73ᵃ“ oder
durch soliche erfarnus, die da ist aller ding ein meisterin, wirt ein mensch gelert und behutsam.
auf das du durch die erfarnus wissest was das gut ist. sch. u. ernst 1555 cap. 454
Und fast schon unglaublich passend als Gleichnis des Gleichnisses findet sich dort:
hierum wollen wir unsern kopf nicht vil drüber prechen, sonder unser fegfeur kräftiglich aus der erfahrnus befestigen. Fischart bienenk. 112ᵃ

Die „Erfahrnis“ des Fegefeuers als Veranschaulichung für das mit pathos/πάθος Gemeinte – das dürfte Heidegger gefallen haben – und nicht zuletzt CDH, weshalb es hier zitiert werden musste.

Es kommt vermutlich nicht von ungefähr, dass er mit diesem Text, der von dem Aufschwung der Seele und ihrem Wieder-Hinab-Steigen, ihrer Umkehr, handelt, seine eigene „Kehre“ einleitet.  Heidegger möchte nicht „nur ‚wörtlich‘ übersetzen“, er will „vielmehr das in den zu übersetzenden Worten genannte sachliche Wesen aus dem Wissen der Griechen“ denken.

[46] Jedes Gleichnis birgt die Gefahr des Missverständnisses – und das ist vermutlich genau der Grund, warum es zu einem vertieften Verständnis führen kann – wir verstehen etwas ausdrücklich richtig, wenn wir es anders verstehen als es nahezuliegen scheint. Richtig heißt anders als das mitspielende Falsche. Natürlich sind Ideen oder Begriffe keine Gegenstände. Die Dinge der „Oberfläche“ sollen vielmehr den erscheinenden Dingen auf den Grund gehen, sie sind das Wesen der Dinge. Es ist eine eigentümlich „verkehrte Welt“, die dann auch zu dem tiefgreifenden Missverständnis der platonischen „Ideenlehre“ geführt hat, Ideen als besondere Gegenstände zu begreifen. Vielleicht lassen sie sich insofern als „Gegenstände“ einer anderen Welt verstehen als sie „Gegenstände“ (πράγματα) unseres Sprechens über uns und die Welt sind und insofern zu der „geistigen“ Welt unser Verständigung gehören.

[47] 517c-d: ὅτι οἱ ἐνταῦθα ἐλθόντες οὐκ ἐθέλουσιν τὰ τῶν ἀνθρώπων πράττειν, ἀλλ᾽ ἄνω ἀεὶ ἐπείγονται αὐτῶν αἱ ψυχαὶ διατρίβειν: εἰκὸς γάρ που οὕτως, εἴπερ αὖ κατὰ τὴν προειρημένην εἰκόνα τοῦτ᾽ ἔχει.

[48] 519d. ἀδικήσομεν αὐτούς, καὶ ποιήσομεν χεῖρον ζῆν, δυνατὸν αὐτοῖς ὂν ἄμεινον

[49] 519d: μὴ ἐπιτρέπειν αὐτοῖς ὃ νῦν ἐπιτρέπεται

[50] 517b.

[51] Schleichermacher übersetzt hier παιδεία mit „Unterweisung“, die ziehe wegen des Zusammenhangs mit der Ausgangsfrage der „unserer Natur im Hinblick auf Bildung und Unbildung“ „Bildung“ vor.

[52] 518b-c.

[53] 518d.

[54] Auch hier muss das Gleichnis richtig verstanden und seine Kraft nicht in eine falsche Richtung lenken. Der Staat ist die „große“ Seele – die mit ihr nicht einfach gleichgesetzt werden darf. Mit Blick auf den Staat geht es um Legitimität von Herrschaft, nämlich des vernünftigen Teils über die anderen Stände, sie muss nomothetisch gesichert werden und in Rechten und Pflichten verbürgt werden. Die Herrschaft der Vernunft ist in der Seele von Natur angelegt – eine Verpflichtung zur „Rückkehr“ ergibt ^sich aus der Natur der Sache=Seele. Cf. Spaemann, a.a.O.

[55] Schleiermacher übersetzt hier ziemlich protestantisch ἐλπίς mit „Glauben“.

[56] 516b-c.

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