»Es kommt die Zeit, in der das Wünschen wieder hilft«

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Domenico di Michelino: Dante und die drei Reiche (1465) – Fresco im Dom Santa Maria del Fiore, Florenz (Wikimedia) – Links die Hölle, rechts das historische Florenz. Im Hintergrund  der Läuterungsberg (das Purgatorium) mit Adam und Eva auf dessen Gipfel, darüber die Himmelssphären.

„… durch die Menschen drüben kommt man hier sehr voran.“ So beteuern in Dantes Göttlicher Komödie die Wanderer im Jenseitsreich des Purgatoriums. Nachdem Dante mit seinem Begleiter Vergil durch die neun Höllenkreise gelaufen ist, trifft er im Aufstieg des Läuterungsbergs „… all diese Schatten …, die nur baten, andere sollten beten, damit ihre Heiligung schneller vorangehe …“ Für sich selbst können die Seelen in den sieben Stufen des Anstiegs nichts mehr tun außer für das begangene Unrecht zu leiden. „Ich bitte Dich, dass Du für mich betest …“ hört Dante immer wieder. Die Würfel sind gefallen, das Urteil steht fest. Die sich nun im läuternden Aufstieg zum Paradies befinden, wissen, dass es gut mit ihnen endet, nur nicht wann. Die Reinigung kann sich ziehen. Sie ist Vorbereitung fürs paradiesische Dasein, in das niemand eintreten kann, dem das Unrecht noch anhängt. So wie im Tempel die Waschung vor dem Zugang zum Heiligen steht, so werden sie nun fürs Paradies vorbereitet. Die Reinigung kommt als Strafe daher, ist aber ein Ritual, das eine Erfahrung ermöglicht. Παθήματα μαθήματα (pathämata mathämata) – Leiden bringt Wissen, Einsicht. So wie die Askese des christlichen Einsiedlers keine (selbst) auferlegte Strafe ist, die auf Sühne und Verzeihen zielt, so geht es in Dantes Purgatorium nicht um Vergeltung oder Sühne, sondern um Befreiung und Einsicht.

Heilanstalt zur Selbstreinigung

Dantes Purgatorium ist keine Strafkolonie“, „keine Hölle auf Zeit“ – sie eher eine Heilanstalt, ein Ort „unterstützter Selbstreinigung“ (Kurt Flasch). Das ist richtig und etwas irrtümlich formuliert: „Selbst“-Reinigung meint Reinigung des „Selbst“ (also der Seele) gerade nicht durch sich selbst. Die Seele wird „schön gemacht“, fürs paradiesische Dasein „hergerichtet“ und muss (und kann) selbst keine „Leistungen“ mehr vollbringen. Sie „erfährt“ etwas an sich (pathämata) durch einen Ritus, der an die Liturgie erinnert und bei dem viel gesungen und „gelesen“ wird.

Die Besonderheit von Dantes Purgatorium springt ins Auge, wenn wir sie mit der Platonischen „Rechtfertigung“ von Übeltätern in der Unterwelt kontrastieren (im Phaidon). Dort „reinigen sich“ die Täter und „büßen ihre Vergehungen ab“. Wo das nicht gelingt, werden sie zunächst in den Tartaros geworfen, dann aber wieder herausgespült, um an den Opfern vorbeizutreiben, die sie um Verzeihung anflehen: „Wenn sie sie nun überreden (erweichen), …, so sind ihre Übel am Ende, …“ (114b). Bei Dante ist dem Sünder bereits verziehen, wenn er ins Purgatorium eintritt. Er muss nichts „vergelten“, niemanden „anflehen“ oder „bequatschen“, und er kann es nicht, weil er überhaupt nichts mehr kann. Das Leben hat kein Nach-Leben in Tod und Unterwelt, so als müsste man dort in einem Second-Life nachsitzen, um „gut zu machen“, was im Leben schief ging. Das Handeln hat mit dem Leben ein Ende oder es hat nie ein Ende. Alles andere führt in einen regressus ad infinitum und macht Handeln grundsätzlich unmöglich.

Selbstbestimmung hat ein Ende. Das Selbst ist dann der Fürsorge durch andere übergeben. Der Reinigungsprozess desinfiziert und nimmt alle belastenden In- und Affekte weg, bis „das Hinaufgehen so leicht fällt wie dem Schiff die Fahrt flussabwärts“. Diese Reinigung kann allerdings beschleunigt werden – nicht durch die Betroffenen, sondern durch die Zurückgebliebenen. Damit man sich „reinigen kann von schweren Vergehen“ müsse von den Hinterbliebenen gebetet werden.

Die Kraft der Wünsche

Der Nachdruck, den alle auf die Hilfe der Lebenden für die Verstorbenen legen, reflektiert allerdings Zweifel an der Wirkung der Gebete. Die eindringliche Bitte beinahe aller, Dante möge nach seiner Rückkehr ins Leben die Angehörigen doch ersuchen, für die Verstorbenen zu beten, scheint den im Fegefeuer stehenden nötig. Sie glauben wohl, vermutlich aus eigener Erinnerung, dass die Bedeutung der Gebete für Verstorbene von den Lebenden unterschätzt wird. Auch Vergil, der von Dante als sein großes unerreichbares Vorbild verehrt wird, hatte in seinen Schriften bestritten, „dass Gebete die Beschlüsse des Himmels ändern“ könnten. Wenn er Recht habe, so konfrontiert ihn Dante, „dann wäre ihre Hoffnung grundlos.

Ob Gebete helfen, ist tatsächlich eine alte Frage auch und gerade für Gläubige (der abrahamitischen Religionen). Für Ungläubige machen Gebete natürlich keinen Sinn: ohne (göttlichen) Adressaten kein Gebet. Unterstellt man einen solchen Adressaten, bleiben im Rahmen abrahamitischer Religionen gleichwohl erhebliche Bedenken bestehen: derjenige, der die Gebete erhören könnte, müsste in der Lage sein, den Lauf der Dinge zu ändern und dazu bereit sein. Die erste Bedingung darf (bei Gläubigen) durch die unterstellte Allmacht Gottes als erfüllt gelten. Was könnte aber das Gebet zum Allwissen Gottes hinzutun, das seine Bereitschaft vergrößern würde, das Gebet zu erhören und ihm zu folgen. Gott tut das Richtige, ob wir beten oder nicht. Eine Wirkung des Gebets zu unterstellen, scheint vorauszusetzen, dass er anders „gehandelt“ hätte, hätte man nicht zu ihm gebetet! Muss man das Allwissen Gottes bestreiten, wenn man betet? Macht jedes Gebet also die blasphemische Unterstellung, Gott müsse auf den richtigen Weg gebracht und auf die Sprünge geholfen werden?

Das ist ein weites Glaubensfeld. Versuchen wir es zu umgehen und verlassen wir fürs erste auch die Unter- und Zwischenwelt Dantes Göttlicher Komödie und fragen uns, wie es ums Wünschen steht.

Logik der Wünsche …

Wir können uns und anderen etwas wünschen. Was wir wollen, wünschen wir (meist) auch. Wünschen reicht freilich übers Wollen weit hinaus. Wenn wir etwas (wirklich) wollen, dann überlegen wir zugleich, wie wir es bekommen. Wenn wir etwas wollen, wollen wir auch etwas tun. Wir suchen nach Mitteln, es zu erreichen. Wer zum Club-Spiel will, der will seine Termine so legen, dass er ins Stadion gehen kann. Wer das eine will, muss auch das andere wollen. Das ist beim Wünschen anders. Wünschen zwingt nicht zum Handeln. Kant nennt es etwas sperrig ein „Begehren ohne Kraftanwendung zu Hervorbringung des Objekts“. Wir können uns wünschen, berühmt zu sein, es aber für zu anstrengend halten, es zu werden. Tatsächlich wünschen wir im engeren Sinne dann etwas, wenn die Erfüllung nicht in unserer Macht steht. Wir wünschen uns schönes Urlaubswetter und tolle Weihnachtsgeschenke, wissen aber, dass es nicht von uns abhängt, ob diese Wünsche in Erfüllung gehen. Was könnte ich auch für meinen Wunsch tun, den Club endlich die zehnte Deutsche Meisterschaft feiern zu sehen?

Ganz ähnlich liegt die Sache, wenn wir anderen etwas (aufrichtig) wünschen. Wir bekennen damit, dass wir sie gerne im Besitz von Gütern sähen, die wir ihnen aber nicht sichern können. Viel Glück, viel Erfolg, gute Gesundheit und meist alles Gute zu wünschen, besagt eben, dass das alles nicht in unserer Macht steht. Es für sie nicht wollen zu können, heißt es ihnen wünschen. Und wenn wir einem Freund „Alles Gute im neuen Job“ wünschen, wissen wir, dass wir darauf keinen Einfluss haben. Es hängt von anderen (dem neuen Chef und den neuen Kollegen) und den Umständen ab (der Geschäftsentwicklung des Unternehmens und seiner Geschichte), ob der Einstand wunschgemäß verläuft.

Wer andern etwas wünscht, bringt zum Ausdruck, dass er ihm das Gewünschte angedeihen ließe, wenn er dafür etwas tun könnte. Obgleich unfähig, etwas tun zu können, bekräftigen wir manchmal unsere Bereitschaft, etwas zu tun, durch eine symbolische „Tat“, z.B. ein Geschenk, das zeigt, dass es uns am „Einsatz“ nicht mangelt. Beeinflussen können wir die Wunscherfüllung damit nicht.

… und ihre Paradoxie

Die Erfüllung von Wünschen steht nicht in unserer Macht, unsere Lebensführung schon. Was wir jemanden wünschen ist die Erfüllung dessen, worauf sein Leben und Handeln aus war. Es wäre die perfekte, erfüllte Fortsetzung des Lebenswegs des „Betroffenen“. Das Wünschen beginnt, wo das eigene Handeln endet und schließt sich ans Handeln und die Lebensführung an. Vom vorausgehenden und es umschließenden Handeln bekommt es seinen Sinn. Wir wünschen ihm das Gute, das er verdient.

Jemandem „Alles Gute“ zu wünschen, heißt ihm zu wünschen, was für sein Leben gut ist, was sein Leben gelingen lässt. Das aber sind gar nicht die Güter, sondern der Umgang mit ihnen. „Ich würde ihm so wünschen, dass es diesmal klappt“ bedeutet eben: er hat es allemal verdient. Er hat seine (gute) Sache erstaunlich willensstark verfolgt und Sinn in eine kontingente Welt gebracht. Jemanden Erfolg zu wünschen, bedeutet zu unterstellen, dass er damit gut zurechtkäme. Erfolg kann zu Kopf steigen und ein Leben aus der Bahn werfen. Alkoholkranken wünschen wir nicht den „Gewinn“ lebenslangen Freibiers. Das wäre „des Guten zuviel“.

Wer alle seine Wünsche erfüllt bekommt, hat es im Leben schwer. Er lernt nicht, es zu führen und auf bestimmte Wünsche zu verzichten. Er weiß nicht, was er sich wünschen und was er selbst tun muss. Was wir jemanden wünschen, sagt etwas aus über ihn und unser Verständnis von ihm, worauf er aus ist und was ihn ausmacht. Unsere Wünsche und ihre Erfüllung sind eine gefährliche Sache. Drei Feen-Wünsche frei zu haben, wird immer wieder als Herausforderung erzählt, die schwierig zu meistern ist. Wir trauen uns da oft zu viel zu – nämlich mit ihrer Erfüllung umgehen zu können. Sind wir wirklich diejenigen, denen diese Wunscherfüllung gerecht wird?

Moral und Glück gehen nicht immer Hand in Hand. Darin liegt gerade der Anspruch des Moralischen. Das Glück der Erfüllung kann freilich nicht erzwungen werden. Es kann so oder anders kommen – sonst müssten wir nicht Glück wünschen. Es widerfährt uns. Im Wunsch drücken wir aus, dass es sich so und nicht anders ereignen sollte. Sollte es anders kommen wie wir es uns wünschen, geht die Welt nicht unter und das Leben weiter. Glückwünsche sagen gerade, dass das Leben dessen, dem unsere Wünsche gelten, auch ohne ihre Erfüllung gut ist. Etwas erfüllt etwas, weil es bereits darauf aus war.

Die Wunscherfüllung ist für die Selbstbestimmung der Person nicht zwingend. Eine Person zeichnet aus, mit ihren erfüllten und unerfüllten Wünschen umgehen zu können. Aus einem verregneten Urlaubstag, den sich die wenigsten wünschen, kann man etwas machen. Und wer an seinem Leben verzweifelt, weil er auf ungünstige Umstände im neuen Job trifft, der vermag es nicht zu führen.

Die paradoxe Kraft des Wünschens zeigt sich gerade darin, dass die Wunscherfüllung für ein gutes Leben nicht so bedeutsam ist, wie der Wunsch es glauben macht: die Erfüllung ist nicht notwendig, sondern nur „wünschenswert“. Je weniger ein Leben von „Wunscherfüllung“ abhängt, desto besser wird es geführt und desto „erfüllender“ ist die Wunscherfüllung. „Viel Glück“ wünschen wir dem am meisten, der es am meisten verdient und am wenigsten braucht. Wer nur noch auf Gesundheit hoffen muss, der hat das meiste schon ganz richtiggemacht. Richtig gemacht hat er es vor allem dann, wenn er auch damit leben kann, dass sich seine Wünsche nicht erfüllen. Gutes Leben ist keine Glückssache, die Wünsche folgen ihm nach.

Solons Weisheit

Wünsche beschreiben Sinnzusammenhänge des Lebens. Sie erfüllen einen Lebensentwurf. Den Wünschen geht eine Beurteilung voraus, die eine Vorschau auf das Leben als Ganzes nimmt und es „von Anfang an“ aufs Ende hin und vom Ende her versteht. Wie sollte man beurteilen können, was man nicht als Ganzes sieht? Eine einladende Vorderseite wird nicht selten durch die weniger glänzende Rückseite relativiert. Früchte, die uns verführerisch anlachen, können durch einen faulen Kern ungenießbar sein.

Für die Ethik liegt hier ein Problem, das Aristoteles aufgegriffen hat. Solon, der athenische Gesetzgeber aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert und einer der legendären sieben Weisen der Antike, wollte niemanden „glücklich“ nennen, ohne „auf das Ende und den Ausgang“ seines Lebens zu sehen. Herodot überliefert Solons Urteil im ersten Buch der Historien. Der Erfolg des lydischen König Kroisos zog auch Solon an seinen Hof. Der sprichwörtliche Krösus wollte nun vom weitgereisten Philosophen seinen Erfolg bestätigt bekommen und fragte in dieser Absicht Solon, wer ihm „am glücklichsten auf Erden“ scheine. Solon nannte freilich nicht ihn, sondern zwei Personen, deren vorbildliches Leben in einem „großen“, ehrenhaften Tod geendet hatte. Das „göttliche Walten“ sei „neidisch und unbeständig“: „In der langen Zeit seines Lebens muss der Mensch vieles … erleiden …“ und „das Menschleben“ ist „ein Spiel des Zufalls“. Es gäbe Günstlinge des Schicksals, aber dass „alles, was zur Glückseligkeit gehört, bei einem Menschen zusammentrifft, ist unmöglich“. Glücklich sei vielmehr, wer mit dem Notwendigen ausgestattet, „glücklich sein Leben beendet“.

Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und ein Glücksmoment noch kein gelungenes Leben. Das Ganze eines Lebens ist freilich nicht so „verfügbar“ wie ein Gegenstand, der untersucht und distanziert beurteilt werden kann. Unser Leben ist kein Lebenswerk. Das Ganze des Lebens sind wir selbst. Aber wir selbst haben zu dem, was uns ausmacht, keinen irrtumsfreien Zugang. Unsere Sicht auf unser Leben kann eigentümlich verzerrt sein. Was wir sind, sind wir nicht im „Privaten“. Sinn gibt es nicht „privativ“, sondern nur gemeinsamen Lebens- und Sprachraum. Was für mich Sinn macht, macht es mit Blick auf die andern. Sinn gibt es nur für uns. Wer von seiner Krankheit nichts weiß, ist dennoch krank. Wir können uns nicht gesund ignorieren. Wer seine Familie und seine Freunde ins Elend stürzt ohne es zu merken, der mag sich noch so „gut“ fühlen, wir finden seine Lage bedauernswert und können uns an ihm kein Vorbild nehmen.

Im Leben vergegenwärtigen wir unser Leben durch unsere Lebensgeschichte, die wir und andere von uns erzählen. Wir leben aus ihr. Geschichten haben ein Ende, der ihnen Sinn gibt. Eine endlose Geschichte ist keine Geschichte und macht keinen Sinn. Alles kommt darauf an, wie die Sache ausgeht.

Es hat etwas Paradoxes von unserem Leben erst dann sagen zu können, dass es gut war, wenn wir tot sind und nichts mehr zu sagen haben. Und unsere Lebensgeschichte endet – nicht weniger paradox – nicht mit dem Tod. Mit dem Tod wird unser Leben anderen ver-macht. Sie haben die Deutungsmacht über das, was uns ausgemacht hat. Sie schreiben unsere Geschichte zu Ende. Wir können unser Leben nicht gleich einem Werk „fertig“ machen. Immer bleibt etwas offen und unvollendet. Fäden verlieren sich und werden nicht mehr aufgenommen und sauber ins Lebenstuch vernäht. Irgendwie sind unsere Leben unvollendete Werke wie (moralisch) meisterhaft sie auch ausgeführt wurden. Wer eine „feste Burg“ im Sinn hat, darf sie nicht „auf Sand bauen“. Sein „Lebenswerk“ wäre gescheitert, auch wenn er das Einstürzen der vermeintlichen „Festung“ nicht mehr erlebte. Und so kommt vieles darauf an, was mit „uns“ nach uns geschieht.

Das mag uns nicht mehr erreichen. Aristoteles ist hier vorsichtig und bekundet eine Skepsis, ob die Seelen tatsächlich nach ihrem Tod noch etwas vom Ausgang ihrer Lebensgeschichte, ihrem Glück oder Unglück, erfahren können. Platon hatte das – wie wir sahen – mit dem mythischen Bild der Unterweltfahrt beschrieben. Wie immer es sich mit der „Existenz“ der Seelen nach dem Tod verhalten mag, geht es für die Lebenden um die Frage, ob ein Leben gut genannt werden darf oder muss. Und dafür ist sein „Nachleben“ von Bedeutung. Sein „Nachleben“ zeigt sich in unserem Leben mit seinem „Nachlaß“ und in unseren Wünschen oder Verwünschungen.

Was ist den Toten noch zu wünschen?

Bei der „Wirksamkeit“ von Wünschen sind die Toten nicht schlechter gestellt als die Lebenden. Wünsche helfen auch Lebenden nicht „wirklich“. Von Genesungswünschen wird man nicht gesund und die besten Wünsche für den Urlaub verhindern nicht, dass er verregnet ist. Wünsche sind keine Ursachen „Ich wünsch’ mir doch so sehr …“ ist kein Grund es zu bekommen. Wer sich auf seine Wünsche verlässt, ist verlassen.

Das gilt auch, wenn wir den Wunsch als Bitte äußern oder als Gebet. Unser Leben ist das, was wir draus machen. Und das heißt eben, was wir mit erfüllten und unerfüllten Wünschen, erhörten und „unerhörten“ Gebeten machen. Das ist die Weisheit der Stoa. Die Person wird ihrer Natur nicht gerecht, wenn sie das Gelingen ihres Lebens auf Wunscherfüllung und göttlichen Beistand gründen will. Sie muss ihr Leben selbstbestimmt führen. Die Stoa hat daraus geschlossen, dass Wünschen unvernünftig ist. Das Wünschen ist aber nicht unvernünftig, weil durch das Wünschen das Gewünschte nicht erreicht wird. Wünsche (und Bittgebete) gründen in einer Lebensführung, die das eigene Leben auf seine Erfüllung entwirft. Die Wünsche (und Bittgebete) der Hinterbliebenen beziehen sich auf die Idee des gelungenen Lebens und damit auf das Ganze des Lebens einer (gestorbenen) Person. Die Segenswünsche der Hinterbliebenen machen selbst einen Teil der Lebensgeschichte des Verstorbenen aus. Wie im Leben, derjenige, dem wir etwas wünschen, von unserem Wunsch nichts wissen muss, so müssen wir auch nicht unterstellen, dass die Toten – wie in Dantes Purgatorium – sehnsüchtig auf unsere Gebete hoffen. Wünsche und Verwünschungen sind Bewertungen einer Lebensführung, die selbst zu diesem Leben gehören und aus denen sich das Leben versteht. Wir glauben gute Gründe dafür zu haben, dass die Erfüllung unserer Wünsche verdient wäre. Ob das richtig ist, bleibt eine offene Frage, die wir als Zurückgebliebene in erinnernder Erzählung und manchmal in argumentativem Austausch zu klären versuchen.

Die Frage ist gar nicht, ob Gott durch (die Menge oder Intensität der) Bitten überzeugt wird (also z.B. die Anzahl derer, die für etwas zeugen (bedeutend) größer ist als die Anzahl derer die das Gegenteil bezeugen). Die Fürbitten sind Ausdruck dessen, was (für uns) das Leben des Betroffenen ausgemacht hat. Die Form der Fürbitte hat ein Wunsch aus einem anderen Grund.

Wie wir uns im Leben über unser Leben täuschen können, so können auch wir auch das Leben anderer falsch wahrnehmen. Nicht nur weil wir das Ganze ihres Lebens nicht überblicken. So sehr wir uns bemühen, anderen Personen gerecht zu werden, bleibt unser Urteil unser Urteil und damit eine Sicht aus einer Perspektive. Um eine Verzerrung der Sicht zu vermeiden, versuchen wir unsere Sicht mit der Sicht der anderen abzugleichen. Aus verschiedenen Perspektiven sehen die (selben) Dinge eben anders aus. Die „Summe“ unserer Wünsche kommt der Wahrheit am nächsten und wird dem Verstorbenen am ehesten gerecht. Wenn wir ein Leben nur von seinem Ende als gelungen verstehen können, dann dann müssen wir das Leben „immer schon“ aus einer anderen Perspektive, aus der Perspektive aller anderen verstehen. Wir suchen einen „view from nowhere“, der uns die Person richtig wahrnehmen lässt und den wir nur im Abgleich unserer Perspektiven bekommen.

Personen zeigen sich in ihren Handlungen und Handlungen sind Lebensäußerungen, die etwas in der Welt verändern und Spuren hinterlassen. Die Person drückt sich in Handlungen aus ist, geht in ihren einzelnen Handlungen aber nicht auf. Die Spuren sind Spuren von etwas anderem, das sich nur im Ganzen des Lebensvollzugs und einer erzählten Geschichten, zeigt. Wer an Maradonna denkt, denkt an die „Hand Gottes“. Aber natürlich war er kein „Handballer“ sondern einer der besten Fußballer seiner Zeit, eine schillernde Figur zwischen viel Koks und Kindern, dreckiger Armut und dramatischem Auftritt, religiöser Naivität und krimineller Energie. Wer möchte genau sagen, wer Maradonna „ist“ und was ihn ausmacht? Eine „Hand Gottes“ macht noch kein ganzes Leben.

Wer für uns bittet, der bittet darum, die Ereignisse (unsere Handlungen) zu einer sinnvollen, gelingenden Geschichte zu machen (→ Exkurs am Ende). Er bittet darum, die Person wohlwollend zu beurteilen und nicht auf (unerfreuliche) Lebensereignisse und -episoden zu verkürzen. Wir glauben, dass die Geschichte besser ausgeht als es zunächst erscheint. Und durch unsere Wünsche (und Fürbitten) wird sie mitgeschrieben. Sie sind der „Abschluss“, zu dem der Lebende nicht in der Lage ist. Das Leben ist eines, das in diesen Bitten endet und in diesen Bitten seine Vollendung findet.

Zeit des Wünschens

Dantes Purgatorium ist Ausdruck von Glaubenserfahrungen und -überzeugungen, nämlich der Praxis der Bittgebete der Hinterbliebenen für die Verstorbenen. Wir gehen von der Kraft des Wünschens und des Bittens aus und dieser Glaube findet seinen Ausdruck im Purgatorium. Wir glauben nicht an unsere Gebete, weil Dante einen wundersamen Ausflug ins Zwischenreich des Fegefeuers machen konnte und wir seine Berichterstattung als Tatsache gelten lassen müssen. Im Gegenteil. Tatsächlich gibt es doch eine Reihe von Dingen, die ein „naturalistisches“ Verständnis nicht gerade nahelegen und die von Dante zum Teil selbst thematisiert werden. Wie z.B. können körperlose Seelen „Erfahrungen“ machen? „Wie kann jemand abmagern, der sich nicht ernähren muss?“? Wie können sie hungern, frieren, die (unerträgliche) Schwere von Lasten empfinden, wenn sie auf gar nichts drücken kann. Also mehr eine „Traumwelt“ als ein „wirkliches“ Zwischenreich!? Dante spielt mit dieser Idee, wenn er von den Stolzen sagt, sie schleppten Lasten „wie wir manchmal in Alpträumen“. Und es gibt den vergeblichen Versuch eines Lebenden (Dante) einen Toten (Casella) zu umarmen, aber die Umarmung geht ins Leere. Die „wirkliche“ Umarmung des Lebenden mit dem Toten ist das Bittgebet.

Dantes Purgatorium gewinnt seine Realität an der Logik der Wünsche und der Glaubenspraxis der Fürbitte. Seine Darstellung lässt uns verstehen, was wir unser Bitten ausmacht. Wir beglaubigen seine Darstellung durch unser Wünschen: „Es kommt die Zeit, in der das Wünschen wieder hilft

 

Exkurs: Die Widernatürlichkeit der Hölle

In der ethischen Reflexion auf die Güte unserer Handlungen gehen wir vom Normalfall aus unserer Lebensführung aus. Mit ethisch moralischem Handeln geht die Hoffnung einher, dass gut zu handeln auch gut zu leben erlaubt, dass wir mit Vernunft ein gutes Leben führen können. Unsere Natur ist so, dass wir unsere Lebensführung meistern und Tugenden ausbilden können, die uns erlauben mit Widerfahrnissen umzugehen und unsere Handlungen im Griff zu haben. Das betrifft auch den Umgang mit unseren Fehlern und unserer Schuld. Freilich ist der stoische „Optimismus“(?) etwas zu groß. Die Stoa nämlich glaubt, dass die Autonomie der Vernunft und die Kraft der Selbstbestimmung dem Weisen bei richtiger Lebensführung nicht geraubt werden kann. Es gibt freilich Ereignisse, an denen eine Person zerbrechen kann. Bei Dante finden sie sich dann in der Hölle der Nicht-Identität, der Selbstauflösung und des Zerfalls der Person zum naturalen Ding. In der ethischen Bewertung von Personen und Handlungen gehen wir (stoisch) davon aus, dass solche Ereignisse der seltene Grenzfall sind. In Dantes Purgatorium helfen Wünsche weiter. Sie erlauben aus der Perspektive des idealen Anderen („view from nowhere“), die Person mit ihren Handlungen zu einem gelungenen Leben zu versöhnen.

Die Links dieser Seite wurden zuletzt am 23.11.2019 überprüft.


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