Mary Beard ist eigentlich immer eine Lektüre wert. Ihr letztes Buch handelt von zwölf Cäsaren, den ersten zwölf des römischen Reiches. Hand aufs Herz: wissen Sie, welche gemeint sind? Gut, man kann – wie Mary Beard – zweifeln, ob wir Gaius Julius Caesar (Nr. 1) schon als Cäsaren zählen dürfen oder sollten – obgleich er ja Namensgeber war. Ab Augustus (Nr. 2) – schon wieder ein kleiner Tipp – wären dann noch zehn zu nennen. Also? Nein Marc Aurel und Hadrian gehören nicht dazu. Hadrian tritt erst 117 sein „Amt“ an und Marc Aurel, der als kaiserlicher Philosoph gilt und als solcher übrigens bei Mary Beard nicht sonderlich gut wegkommt, wird dann von 161 ab kaiserlich wirksam. Vielleicht kommen wir auf solch strahlende Figuren des Edlen, Hilfreichen und Guten wie Caligula (37-41) und Nero (54-68) als Nr. 4 und 6? Von letzterem wissen wir aus Quo Vadis?, dass er eigentlich Peter Ustinov heißt, und ein großer Künstler sein wollte. Während Caligula, der für seine Gewaltexzesse zum „wahnsinnigen Scheusal“ erklärt wurde, vielleicht noch aus Albert Camus gleichnamigen Stück von 1938 bekannt sein könnte: es war als typisch „existentialistisch“ ja mal Mode und bei schwarz und Rollkragenpullover tragenden Gymnasiallehrern zur rebellischen Schullektüre erhoben. Das dem Caligula zugeschriebene oderint, dum metuant – sollen sie mich doch hassen, solange sie mich fürchten – mag als politische Maxime der meisten der zwölf Cäsarengestalten gelten: der neunte im Bunde, Vitellius, darf zumindest als einer gelten, der es mit den beiden in Sachen „Scheußlichkeiten“ allemal aufnehmen kann. Er wurde folgerichtig nach nur achtmonatiger Zeit als Kaiserdarsteller im Dezember 69 gelyncht. Apropos: darauf lenkt Mary Beard mehrfach unser Augenmerk, nur sein Nachfolger Vespasian (Nr. 10) starb nach zehnjähriger Regentschaft 79 eines natürlichen Todes. Alle anderen wurden ermordet oder zum Selbstmord gezwungen. Mit Titus (Nr. 11) folgte auch zum ersten Mal ein leiblicher Sohn dem Vater auf den Thron, allerdings um dann zwei Jahre später (81) durch seinen Bruder Domitian (der Nr. 12) ermordet zu werden. Bei Nero war der Selbstmord nicht ganz freiwillig; er war zum Staatsfeind erklärt worden als der vergleichsweise unauffällige Galba (Nr. 7) zum Kaiser ausgerufen wurde. Nur bei Otho (Nr. 8) – noch nie von ihm gehört? also so was! – er ist einer des „Vierkaiserjahrs“ von 68/69, kann man noch am ehesten von „Freitod“ sprechen; er tat es nämlich nach einer verlorenen Schlacht und im vielleicht ehrenwerten (?) Versuch, dem Bürgerkrieg ein Ende zu machen: nun ja, er galt als „weichlich“ … und wir ahnen, was das unter Römern hieß.
Zwei fehlen uns noch aufs volle Dutzend. Auch nicht grade „nette“ Menschen und alles andere als politische Genies. Tiberius (Nr. 3) z.B. hätten wir fast übergangen, in dem bereits seine nicht gerade zart besaiteten Zeitgenossen einen gewissenlosen Tyrannen sahen und der dann doch in die Geschichte des christlichen Abendlandes eingegangen ist: Augustus ließ Josef und Maria zur Volkszählung nach Bethlehem rufen, unter seinem Nachfolger wurde ihr Sohn dann gekreuzigt. Und da wäre zu „guter“(?) Letzt noch Claudius (Nr. 5), der das „Scheusal“ Caligula ablöste: in seiner Amtszeit von 41 bis 54 wurde das erste antichristliche Edikt (49) mit einer klaren Botschaft erlassen: „Wenn sie [die Christen] meinen Anordnungen nicht folgen, werde ich sie mit allen Mitteln verfolgen als Leute, die eine Seuche einschleppen, die sich über die ganze Welt verbreitet.“ – Schon damals also die Angst vor einer Pandemie und der Verbreitung von Falschinformationen in den sozialen (Untergrund-) Netzwerken.
Besonders liebenswerte Gestalten sind die Helden Mary Beards jedenfalls nicht gerade. Stattdessen dürfen oder müssen wir wohl von grausamen Machtpolitikern sprechen, die ohne die geringsten Skrupel über Leichen(berge) gehen und uns nicht gerade als Vorbilder gelten dürfen. Wie kommt man also wie Mary Beard darauf, ein Buch über die ersten zwölf römischen Kaiser zu schreiben und ist es erstmal geschrieben es auch noch (wie ich) zu kaufen und zu lesen? Mein Grund: Mary Beard. Wenn sie darüber schreibt, dann will ich auch wissen, warum. Einer ihrer Gründe: Gaius Suetonius Tranquillus (70-122), oder kurz Sueton. Er hatte mit seinem De vita Caesarum acht Bücher über die zwölf Kaiser verfasst, deutsch: Kaiserbiographien,[1] von denen ich wohl wusste, dass es sie gibt, aber bis zu Mary Beards Buch keine Ahnung hatte, wie einflussreich und wirkmächtig sie waren. Und genau dieser erstaunlichen Wirkung, die Sueton mit seinen zwölf Kaiserbiographien über die Jahrhunderte hatte, geht Mary Beard nach.
Große Verbrecher
Nun ziehen „große“ Verbrecher auch große Aufmerksamkeit auf sich; man nähert sich ihnen wie dem Ort eines schrecklichen Unfalls mit einer Mischung aus Faszination und Abneigung. Ernst Musil z.B. führt uns in die seelischen Tiefen des Frauenmörders Moosbrugger und in die bedauernswerten Umstände seines Lebens. Das Monster wird menschlich, allzu menschlich. Und die geschichtswissenschaftliche Betrachtung der 12 Cäsaren kann auch für die abschreckendsten Vertreter durch ihre historische Einordnung immer wieder Erstaunliches zutage bringen. Nero und Caligula waren in ihrer Wirkung keineswegs auf ihre Scheußlichkeiten zu reduzieren: Nero z.B. galt als „volksnah“ und sozial und sicherte die Lebensmittelversorgung der unteren Schichten; Caligula hatte in seiner kurzen Amtszeit die Oligarchie des römischen Senats zu brechen versucht etc.
Aber nicht die Ehrenrettung ist Mary Beards Sache. Ihr geht es vielmehr um die Wirkung der Ehrlosen auf ihre historischen Nachfolger seit der Renaissance bis in unsere Zeiten. Mary Beards Zwölf Cäsaren tragen den Untertitel Gesichter der Macht von der Antike bis in die Moderne. Sie sind Gesichter einer autokratischen, gleichsam idealtypischen Weltmacht: Rom war über 400 bis 500 Jahre die beherrschende Macht der antiken Welt, das Imperium schlechthin. Und die Personifikation dieser imperialen Staatsmacht, sein Gesicht, war der römische Kaiser.
Die Wirkungsgeschichte von Suetons Kaiserviten war ungeheuer. Vor allem seit der Renaissance ist der Einfluss der 12 Cäsaren auf das Bild von staatlicher Macht und politischer Größe kaum zu überschätzen. Die 12 Cäsaren fanden sich im dutzend versammelt oder in einzelnen Gruppen an den Palästen der Könige, in adligen Schlössern und Gärten bis in die Häusern reicher Bürger – und auch in den Arbeitszimmern so mancher Antiken-Liebhaber.
Die wohl berühmteste und tausende Male kopierte Fassung ist die von Tizian (1488-1576): er hat sie im Auftrag von Herzog Frederico II von Mantua für dessen Palazzo Ducale gemalt, selbst allerdings „nur“ 11 der Cäsaren fertiggestellt, der letzte Domitian wurde dann von Bernardino Campi (1522-1591) nach einer Vorlage von Guilio Romano (1499-1546) ergänzt. Die Origniale verbrannten 1734 in Madrider Prado, aber die Kopien hatten sich bereits äußert erfolgreich über ganz Europa verteilt. Ich kann mit ihnen nicht allzu viel anfangen. Sie zeigen in einem merkwürdigen anachronistischer Antikisierung die Kaiser in einer „modernen“ Verkleidung. Sie sind stilisiert und eigenwillig „unecht“. Woher wollte Tizian auch wissen, wie Augustus oder Vitelius aussahen? Vergleichen wir die Darstellung mit antiken oder pseudo-antiken Überlieferungen, dann stellen wir wenig Ähnlichkeiten fest. Nicht die „wirkliche“ Gestalt, das Aussehen der historischen Person, zeigen sie, sondern das Gesicht der Macht, nämlich das als was man sie (in der Tradition Suetons) sehen wollte. Doch mit dieser künstlich „phantastischen“ Reproduktion sind wir beim Kern der 12 Kaiser als „Gesichter der Macht“ angelangt. Denn auch die vermeintlich „echten“ Darstellungen sind keineswegs in dem Sinne authentisch, dass sie die Gesichtszüge und körperlichen Eigentümlichkeiten der Dargestellten „abbilden“.
Wer ist das denn?
Tatsächlich wissen wir nicht, wie die Kaiser „wirklich“ aussahen. Das ist eines der überraschenden Erkenntnisse, die ich aus der Lektüre Mary Beards gewinnen konnte: von dem, was wir üblicherweise als Abbildungen von Caesar, Augustus oder Nero kennen, können wir in der Regel kaum sagen, ob es sich um antike oder neuzeitliche Kopien und von welchen Originalen handelt. Mary Beard beschreibt eindrucksvoll von den wohl unüberwindbaren Schwierigkeiten bei der Datierung und Identifizierung von antiken Skulpturen. Eine lebensgroße Büste des Britischen Museums wurde zunächst einem „unbekannten Römer“ und dem zweiten Jahrhundert zugeschrieben, wurde dann zu einem der beliebtesten und meistreproduzierten Bildnisse Caesars, wurde dann als Fälschung oder Imitation aus dem 18. Jahrhundert behandelt und diskutiert nun, ob es sich zumindest um eine irgendwie motivierte Darstellung Caesars handeln könnte. Die Gründe sind meist willkürlich gewichtet und folgen gewissen Konjunkturen unter den Sachverständigen, ohne dass hier Hoffnung auf eine abschließende Klärung besteht.
Obgleich es von z.B. von Augustus zehntausende von Statuen gab, die im gesamten Reich verteilt als „Repräsentation“ seiner Herrschaft galten, wissen wir nicht, wie Augustus tatsächlich aussah. Es ging nicht darum „ihn“ abzubilden, sondern seine Rolle wirksam zu machen. Mit den meist raumgreifenden Statuen wurde z.B. in von Rom weit entfernten Provinzen die kaiserliche Herrschaft gegenwärtig. Dabei war es egal, wie der jeweilige Kaiser nun genau aussah, er musste die kaiserliche Herrschaft repräsentieren und hier war sogar auf eine gewisse Ähnlichkeit der Abbildungen zu achten.
Eine besonders wirksame Repräsentation der Herrschaft waren die Abbildungen der jeweiligen Kaiser auf Münzen. Mary Beard beschreibt sehr schön, wie sie selbst die Bedeutung der Münzen erst langsam und dann immer stärker wahrzunehmen begann. Und auch im Leser der Zwölf Caesaren – na jedenfalls bei mir – wuchs im Laufe der Lektüre immer mehr die Faszination an der „gemünzten“ Erkenntnisquelle. Bei mir hat es eine Weile gedauert, bis ich Interesse und Wertschätzung für griechische Vasen(-malerei) entwickelte. Beim nächsten Besuch einer Antikenabteilung werde ich mir – dank Mary Beard – nicht nur die Büsten und Statuen, die Vasen und Trinkbecher, sondern nun auch die ausgestellten Münzen genauer anschauen.
Aber so viel uns die Münzen über das kaiserliche Selbstverständnis sagen können, wir gewinnen auch aus den aufgeprägten kaiserlichen Köpfen keine Hinweise, welche überlieferte Abbildung ihnen nun tatsächlich entspricht.
So bleibt es dabei, dass die vermeintlich antiken Büsten und Statuen, die Mosaike und Fresken, die Münzen und Gemmen, die Kaiser abbilden, uns nur zeigen, wie sie gesehen werden wollten – und (!) wie wir sie sehen wollen.
„Es ist Caesar!“
Als im Oktober 2007 französischen Archäologen bei Arles eine Marmorbüste aus der Rhone heben, ruft der Grabungsleiter während der tropfende Stein noch am Kran baumelt: „Putain, mais c’est César!“.[2] Er sah ihn darin und hatte seine Gründe. Ein Caesar macht zumindest bedeutend mehr her als die „Darstellung eines unbekannten Römers“. Darüber, ob wir in dem Stein Caesar sehen wollen, streiten sich die Fachleute noch heute. Mussolini ließ eine Statue, die ursprünglich Caesar zugeschrieben wurde, deren „Echtheit“ aber in den 1930er Jahren angezweifelt wurde, vom Hof des Palazzo die Conservatori in den Senatorenpalast verbringen. Er wollte damit nicht „Putain, mais c’est César!“ sagen. Ihm ging es darum, „sein“ modernes Italien als Erbe des antiken Rom zu präsentieren. Nicht „er ist Caesar“, sondern ich bin der neue Caesar, war wohl die eigentliche Botschaft. Die Zwölf Caesaren zeigen Gesichter der Macht, die bis in die modernen Zeiten unsere Vorstellung von Herrschaft prägen.