
Herakles ist der Held der Antike. Seine Heldentaten mögen uns staunen lassen, zu denken geben sie uns wenig. Ja, er erlegte den Nemeischen Löwen und tötete die Lernaeische Hydra, er fing die Keryneische Hündin und den Erymanthischen Keiler ein und er konnte die menschenfressenden Mähren des Diomedes in seine Gewalt bringen und aussetzen. Manchmal setzt er auf seine sagenhaften Kräfte, manchmal geht er wie beim Reinigen der Augias-Ställe listig zu Werke, manchmal hinterlistig wie bei dem Raub der Äpfel der Hesperiden. Immer aber agiert er brutal und rücksichtslos.
Die Geschichten sind so wunderlich, dass wir sie natürlich nicht glauben. Dass er den Höllenhund Kerberos zum Beweis seiner überragenden Kräfte für kurze Zeit aus der Unterwelt gezerrt haben soll, das ist unsinnig und sinnlos. Also was soll uns das sagen? Kann er uns als Role-Model dienen? Wohl kaum. Für spielende Kinder vielleicht, aber doch nicht für erwachsene Männer. Das ist alles zu phantastisch. Es sind ihm auferlegte Mutproben, die wir nicht ernst nehmen können. Um sie zu bestehen, geht er im Übrigen – alles andere als vorbildlich –rücksichtslos über Berge von Leichen.
Nicht seine Heldentaten, allenfalls sein Schicksal kann uns zu denken geben. Er ist ein ruhelos Getriebener, einer der sich ständig beweisen muss. Solch ein Leben wollen wir nicht führen. Dass er es so führen muss, liegt an seiner Herkunft und führt zu einer Geschichte, die uns wahrlich zu denken gibt.
Wer ist der Echte – der echte oder der falsche Amphitryon?

Zeus hatte – wie so oft – seine Augen auf eine sterbliche Schönheit geworfen, Alcmene. Sie ist Enkelin des Perseus und damit selbst eine Urenkelin des Zeus.[1] Alcmene hatte frisch verliebt gerade Amphitryon geheiratet. Kein Grund für Zeus, sich ihr nicht zu „nähern“. Aber diesmal – zu scheint es – möchte keinen erzwungenen Sex, er möchte Hingabe, gewährte und erwiderte Lust. Und so verfällt er auf die List, sich Alcmene nicht als Regen (Danaë) oder Wolke (Io), Schwan (Leda), Schlange (Persephone) oder Stier (Europa) zu nähern, um dann über sie herzufallen; er nimmt die Gestalt des Amphitryon an. Das verspricht besonderen Genuss: frischverliebte können nicht genug voneinander bekommen und begehren einander heftig. Als Amphitryon muss er Alcmene nicht „rumkriegen“ oder gar vergewaltigen, er wird sehnsüchtig erwartet und seinerseits begehrt. Als Amphitryon kurze Zeit nach der Trauung „geschäftlich“, also kriegerisch, außer Haus ist, nutzt Zeus die Gelegenheit. Weil er ahnt, was ihn erwartet, bittet er die Göttin der Nacht, ihren Wagen langsamer fortzubewegen und die Nacht drei Tage dauern zu lassen. Das ist wohl der Wunsch vieler Liebender, dass ihr wonnigliches Zusammensein dauern möge. Aber natürlich fliegt die Täuschung auf. Als Amphitryon kurz darauf zurückkehrt, trifft er auf eine etwas erschöpfte Gattin, die seinem Begehren kopfschüttelnd und mit Verweis auf die vorausgehende (lange) Liebesnacht abwehrt.
Molières Drunter und Drüber


Molière (1622-1673) hat diesen Stoff in seiner Komödie Amphitryon bearbeitet.[2] Das Verwirrspiel hat shakespearsche Züge und spielt auf zwei Ebenen: der Betrug auf „herrschaftlicher“ Ebene, Zeus als Königssohns Amphitryon, spiegelt sich in Wirrungen bei Sosias, einem Untergebenen, und dessen Frau. Jupiter wird bei seinem Abenteuer durch Merkur unterstützt, der in die Gestalt Sosias schlüpft, des Dieners des Amphitryons. Molières Komödie ist auch ein Lehrstück über das Verhältnis und das Selbstverständnis von Herr und Knecht, von oben und unten.[3]
Gleich im Vorspiel kommt Molière augenzwinkernd auf den Punkt: Hermes wurde von Zeus zur Göttin der Nacht geschickt, der er nun Juppiters Absicht erläutert, Alcmene in der Gestalt des Amphitryon zu verführen. Anders als bei „alten“, etwas abgenutzten Ehen – wie etwa der von Sosias und seiner Frau Kleanthis – ist bei Alcmene etwas besonders verlockend:
„Bei dieser Ehe scheint ein Umstand ihm willkommen:
Das Paar ist erst vermählt seit kurzer Frist;
Und weil die junge Glut noch frisch und innig ist
So soll dies Jupiter besonders frommen.
Der schlaue Trug ist zwar in diesem Fall ersprießlich;
Bei mancher anderen verfehlte gleichwohl schließlich
Ein Mann sein Ziel in solcher Hülle leicht,
Denn oft erscheint es einer Frau verdrießlich
Wenn man zu sehr dem Gatten gleicht.“[4]
Kleanthis hätte sich wohl gewünscht, dass ihr Sosias „anders“ zurückkommt als er gegangen ist. Hermes gibt den echten Sosias zum Besten und zeigt keinerlei erotisches Interesse für Kleanthis, was Kleanthis natürlich „verdrießlich“ macht. Zeus dagegen verspricht sich besondere Lust und die soll möglichst lange dauern:
„Laß diese Nacht, eh sie entweicht,
Zur längsten aller Nächte werden,
Daß er der Sättigung gehäuftes Maß erreicht,
Verzögere die Geburt des neuen Tags auf Erden…“ [5]

Als die lange Nacht sich zu Ende neigt, sind erst mal alle glücklich und zufrieden. Aber Zeus muss sich verabschieden, denn Amphitryon eilt sehnsüchtig nach Hause. Der verknallte Zeus weiß allerdings, dass die Zuneigung Alcmenes erschwindelt wurde und sie eigentlich nicht ihm, sondern Amphitryon gilt. So will er die Rolle des Ehemanns strikt von der des Liebhabers getrennt wissen:
„Doch eines Zweifels Qual kann ich nicht ganz beheben:
Dein zärtliches Gefühl, das jedes Wort beweist,
Lässt meine Wonne noch im ungewissen schweben,
Wenn es die Pflicht nur ist, die dich so handeln heißt.
Nur dir und mir allein wünsch ich es zuzuschreiben,
Wenn Deine Liebesgunst, Alkmene, mich erkor;
Daß ich dein Gatte bin, kommt mir nicht wichtig vor
Und muß auf jeden Fall ganz aus dem Spiele bleiben.“[6]
Wir wissen, was er sagen will. Alcmene dagegen ist ob des eigenwilligen Rollenspiels verwirrt: ihr gilt nur der angetraute Gatte als wahrer Liebhaber. Zeus beruhigt:
„Der Worte tiefere Bedeutung, das Warum
Läßt du noch nicht im Augenblick dir träumen. –
Doch muss ich nun zurück zum Hafen ohne Säumen;
Verweilt ich länger noch, man tadelte mich drum:
Leb wohl! mich ruft der harte Zwang der Pflicht
Für eine Weile, laß es dich nicht kränken;
Und kehrt der Gatte heim, vergiß mir bitte nicht,
Auch des Geliebten hin und wieder zu gedenken.“[7]
Als Amphitryon nun selbst zu Hause ankommt, trifft er auf eine verwunderte Alkmene. War der Liebhaber grade aus dem Haus gestürmt, will nun der Gatte seinerseits herzliches Willkommen feiern. Amphitryon sieht sich enttäuscht und beklagt, den kühlen Empfang der verwirrten Alcmene. Er war freilich durch Sosias schon gewarnt, dem durch seinen göttlichen Doppelgänger bereits übel mit gespielt worden war, und so lässt sich der fassungslose Amphitryon von Alcmene erstmal en detail berichten, was in der letzten Nacht in seinem Haus und Bett so alles geschah. Er weiß, wen immer sie empfing, das war nicht er. Der Vorwurf der Untreue wiederum erscheint ihr völlig irre. Will er sie demütigen oder gar loswerden? Sie beschließt die kurze Ehe zu beenden und ihn auf immer zu verlassen.
Aber könnte es sich nicht um eine harmlose Täuschung, einen allzu intensiv durchlebten Traum gehandelt haben?
„Hat meine Rückkehr dir heut nacht ein Traum wohl gar,
Wie wir’s, Alkmene, oft im Schlaf erleben,
Als Wahrheit vorgetäuscht, was doch nur Wunschbild war?
Und hast du dich im Traum mir liebend hingegeben,
Glaubt nun dein Herz dies könne offenbar
Dich weitrer Pflichten gegen mich entheben.“[8]
Wie sicher können wir uns sein, etwas tatsächlich erlebt und nicht nur geträumt zu haben?! Amphitryon will die Verwirrung durch hard facts auflösen und Alkmene damit die Erfüllung ihrer ehelichen „Pflichten“ nahelegen: Er hatte Sosias mit einer Diamantspange vorausgeschickt, um seine Ankunft anzukündigen. Sosias aber wurde durch die Begegnung mit seinem Doppelgänger daran gehindert. Das Schmuckstück ist Teil der Kriegsbeute. Wer in ihrem Besitz ist, der ist, so scheint es, der wahre Amphitryon. Alkmene aber ist schon im Besitz des Prunkstücks. Es wurde ihr von ihrem nächtlichen Liebhaber bereits unter Küssen überreicht. Und das noch versiegelte Schmuckkästchen des Amphitryon ist nun plötzlich leer!? Alles spricht nun für Alkmene. War der nächtliche Sinnenrausch vielleicht so übermächtig, dass Amphitryon nun einer Amnesie leidet? Er ist fest überzeugt, die Nacht noch im Heereslager verbracht zu haben und wird dafür Zeugen beischaffen. Dann wird sich Alles klären, d.h. der Betrug Alkmenes und damit sein Unglück offensichtlich. Und tatsächlich bestätigen die Offiziere des Amphitryon, dass er die Nacht im Lager verbracht hat und nicht bei Alkmene gewesen sein kann.
Freilich tritt nun wieder Zeus auf die Bühne. Die Offiziere trauen ihren Augen nicht: nun stehen zwei Amphitryons vor ihnen. Wem bestätigen sie nun, dass er im Lager war? Wie soll nun echt von falsch noch unterschieden werden können. Das geht einzig durch göttliche Offenbarung. Juppiter gibt sich schließlich mit Blitz und Donner zu erkennen.
„Ja, Juppiter hat dich getäuscht, Amphitryon,
Schau hier den Gott mit deinen eignen Zügen…“
Das sei aber doch schön, denn
„Mit Juppiter zu teilen ist
nicht im geringsten eine Schande.
Als rühmlich gilt es fraglos allgemein,
Der Nebenbuhler eines Gotts zu sein.“
Ja, so sieht die Welt von oben gesehen wohl aus. Amphitryon könne sich doch geehrt fühlen
„Denn keinen Weg sonst gibt’s, ihr Herz sich zu gewinnen,
Als wie ihr Gatte auszuschaun.
Selbst Juppiter, von Ruhm in Ewigkeit umwallt,
Hat ihre Treue nicht von sich aus hier bezwungen;
Denn deshalb nur ist ihm sein Spiel gelungen,
Weil, was ihr Herz ihm gab, dem eignen Gatten galt.“[9]
Ja, es war ein lustiges, harmloses Spielchen, das Amphitryon zur Berühmtheit werden lässt. Ob Amphitryon aber den „schwarzen Kummer“ und seine „Fieberglut“ wirklich dadurch ablegen kann, dass ihm als Ergebnis der „lustigen“ Nacht die Geburt eines großen Helden, Herakles nämlich, in Aussicht stellt, darf wohl bezweifelt werden.
Das Ganze machen jedenfalls die Männer unter sich aus. Alkmene, die eigentlich Betrogene und sexuell Missbrauchte, ist nur der Gegenstand eines Streits unter Männern. Molières Amphitryon ist ein Verwirrspiel um Traum und Wirklichkeit, Liebe und Verführung, Herrschaft und Betrug. Der Diener Sosias ist es gewohnt, dass ihm seine Rolle von außen und oben bestimmt wird. Nach seiner wahren Natur fragt niemand. Und so fügt er sich – soweit er muss – mit der Schlauheit eines Untergegebenen, den Drohungen und Schlägen, unter denen er zu leben hat, nutzt aber jede Gelegenheit, sich zu widersetzen und fünf grade sein zu lassen. Der Herr Amphitryon sieht sich einer neuen Situation gegenüber: es gibt Dinge, die sich seiner Sicht der Dinge nicht fügen und seine angestammten, männlichen Rechten antasten. Mit ihm treiben die Götter ihr lustiges oder sollen wir sagen böses Spiel. Molières Amphitryon ist ein Stück über einer starren Gesellschaft, die der Unterscheidung von Oben und Unten alle Lebensbereiche bestimmt.[10] In seinem Amphitryon geht es nicht um die metaphysischen Fragen von Traum und Wirklichkeit, Täuschung und wahrer Liebe. Das spielt nur beiher. Es ist eine politisch-soziale Komödie.
Kleists „metaphysisches“ Lustspiel

Das sieht bei Heinrich von Kleist (1777-1811) anders aus. Sein Amphitryon greift in weiten Teilen die Bearbeitung Molières auf – Kleist gibt ihm den Untertitel „Ein Lustspiel nach Molière“ –, setzt aber andere Schwerpunkte und gibt dem Ganzen einen anderen Sound.[11] Auch hier finden wir die zwei Handlungsebenen von Amphitryon/Juppiter/ und Sosias/Merkur. Im Mittelpunkt des Interesses steht bei Kleist aber nicht die gesellschaftliche Hierarchie als solche, sondern ihre Auswirkung auf das bei ihm zentrale Thema der personalen Identität. Aus der sozial-politischen Komödie wird bei Kleist ein „metaphysisches“ Lustspiel, um Traum und Wirklichkeit, Täuschung und Selbstverständnis. Auch bei Kleist muss sich das dienende Volk der Herrschaft fügen. Aber Kleist gibt dem von Anfang an die Form der Selbstbesinnung. Der in Gestalt des Sosias auftretenden Merkur tritt dem Sosias entgegen und fragt ihn herrisch: „Du wagst mir schamlos ins Gesicht zu sagen / Daß du Sosias bist?“ Darauf Sosias:
„Ja, allerdings,
und das aus dem gerechten Grund, weil es
Die großen Götter wollen; weil es nicht
In meiner Macht steht, gegen sie zu kämpfen,
Ein anderer sein zu wollen als ich bin;
Weil ich muß Ich, Amphitryons Diener sein.“[12]
Das, was einer ist, wenn er Diener ist, ist er nicht durch sich, sondern durch den Herrn. Nicht sein Handeln bestimmt sein Sein, sondern seine Herkunft, Seine Bestimmung wird durch andere bestimmt. Der Doppelgänger, den Sosias ja nicht als Gott erkennt, kann ihn zwar schlagen und zu falschen Zusagen nötigen, das ändert freilich an seinem Wesen nichts nichts, bestätigt es vielmehr: „Dein Stock kann machen, daß ich nicht mehr bin; / Doch nicht, daß ich nicht Ich bin, weil ich bin.“[13] Man mag hier an eine Abwandlung der cartesische Gewissheit denken: statt des cogito ergo sum heißt es hier: „solange ich geschlagen werde, bin ich (Diener)“. Als Sosias später seinem Herrn Amphitryon erklären will, warum er seinen Auftrag nicht erfüllen konnte, weil er durch Merkur, sein anderes Ich, daran gehindert wurde, fragt er den Herrn zunächst, was er hören will: die Wahrheit oder das, was der Herr als wahr gelten lassen will – „Ihr seid der Herr und ich der Diener“. Was wirklich geschehen ist, seine Begegnung mit seinem anderen Ich, das ihm unter Schlägen fortgejagt hat, lässt sich dem Herrn nur schwer vermitteln:
„Sosias:
[Ich ward gestört]. Jetzt kömmts.
Amphitryon:
Gestört? Wodurch? Wer störte dich?
Sosias:
Sosias.
Amphitryon:
Wie soll ich das verstehn?
Sosias:
Wie Ihrs verstehen sollt?
Mein Seel! Da fragt Ihr mich zu viel.
Sosias störte mich, da ich mich übte.
Amphitryon:
Sosias! Welch ein Sosias! Was für
Ein Galgenstrick, Halunke, von Sosias,
Der außer dir den Namen führt in Theben,
Hat dich gestört, da du dich eingeübt?
Sosias:
Sosias! Der bei Euch in Diensten steht
[…]
Amphitryon:
Du? Was?
Sosias:
Ich, ja. Ein Ich, das Wissenschaft
Von allen unsern Heimlichkeiten hat,
Das Kästchen und die Diamanten kennt,
Dem Ich vollkommen gleich, das mit Euch spricht.“
Amphitryon hält das für „Irrgeschwätz“: im besten Falle Träumerei. Er vermutet wohl faule Nachlässigkeit, die sich durch Lügen helfen will. Aber auch Sosias beschwört, das alles nicht recht zu verstehen.
„Mein Seel! Es kostete große Pein mir,
So gut, wie Euch, eh ich es glauben lernte.
Ich hielt mich für besessen, als ich mich
Hier aufgepflanzt fand lärmend auf dem Platze,
Und einen Gauner schalt ich lange mich.
Jedoch zuletzt erkannt ich, mußt ich mich,
Ein Ich, so wie das andere, anerkennen.“[14]
Amphitryon lässt freilich – verständlicher Weise – nicht locker:
„Amphitryon:
Und wer hat dich, Verräter, deine Pflicht
Verfehlen lassen? Hund, Nichtswürdiger!
Sosias:
Muß ich es zehn und zehnmal wiederholen?
Ich, hab ich Euch gesagt, dies Teufels-Ich,
Das sich der Türe dort bemächtigt hatte;
Das Ich, das das alleinige Ich will sein;
Das Ich vom Hause dort, das Ich vom Stocke,
Das Ich, das mich halb tot geprügelt hat.“[15]
Glaubt sich der Herr, Amphitryon, noch erhaben über solch mehr oder weniger glaubhaft vorgebrachte Identitätskrisen, so wird ihm schon bald ähnliches widerfahren. Er stürmt ins Haus und trifft dort auf die erstaunte Alkmene, die ihn mit einem verwunderten „So früh zurück?“ empfängt. Amphitryon erfährt von seiner Gattin, welch rauschende Liebesnacht er mit ihr verbracht haben soll. Seine Verwirrung steigert sich, als sie ihm zum Beweis das Diadem zeigt, das er ihr zum Geschenk gemacht habe. Da es tatsächlich das Beutestück ist, das er ihr überreichen wollte und die noch versiegelte Schmuckschatulle inzwischen leer ist, kann er Alkmene nichts entgegnen. Doch Amphitryon bleibt zuversichtlich:
„Daß ein Betrug vorhanden ist, ist klar
Wenn meine Sinn auch das fluchwürdige
Gewebe noch nicht fassen. Zeugen doch
Jetzt ruf ich, die es mir zerreißen sollen.“[16]
Er weiß, dass er die Nacht noch im Heerlager mit seinen Offizieren verbracht hat, die dies bezeugen können. Man kann nicht an zwei Orten zugleich sein. Alkmenes Geschichte wird sich als Betrug erweisen.
Doch die Sache erweist sich als nicht so einfach. Zwischen wahr und falsch lässt sich hier schlecht unterscheiden. Juppiter hatte das bestens vorbereitet. Nicht als Gatte, dem die eheliche Pflicht abgeleistet wird, wollte er sich verstanden wissen, sondern als Liebhaber, dem die nicht nur der rechtliche Respekt, sondern die empfunden Liebe gilt:
„So öffne mir dein Inneres denn, und sprich,
Ob den Gemahl du heut, dem du verlobt bist,
Ob den Geliebten du empfangen hast.“[17]
Alkmene will diesen Unterschied der Rollen nicht gelten lassen. Er ist nur im Falle des Ehebruchs von rechtlicher Bedeutung. Doch Juppiter beharrt verständlicher Weise auf darauf, nur in der Rolle des Liebhabers anerkannt zu werden:
„Entwöhne,
Geliebte, von dem Gatten dich,
Unter unterscheid zwischen mir und ihm.
Sie schmerzt mir, diese schähliche Verwechslung,
Und der Gedanke ist mir unerträglich,
Daß du den Laffen bloß empfangen hast,
Der kalt ein Recht auf dich zu haben wähnt.
Ich möchte dir, mein süßes Licht,
Dies Wesen eigner Art erschienen sein.“
[Hervorhebung im Original]
Rechtschaffenheit und Tugend sind das eine. Liebe und liebende Hingabe etwas anderes. Nur ihre Liebe soll sie ihm bekennen.
„Sieh, ich möchte deine Tugend
Ihm, jenen öffentlichen Gecken lassen
Und mir, mir deine Liebe vorbehalten.“[18]
Juppiter verweist auf zwei Rollen, die – auch in einer Brust – im Streit liegen können. Der Liebhaber mag zugleich der Gatte sein, muss es aber nicht. Liebe ist kein Rechtsbegriff. Sie muss der Ehe nicht vorausgehen oder sie dauerhaft bestimmen. Und die erotische Liebe und ihr sinnlicher Genuss muss nicht in der liebenden Zuwendung zweier Personen gründen. Und nicht selten verwechseln frisch Verliebte im sexuellen Begehren das eine mit dem anderen. Amphitryon hat vor allem den Ehebruch im Blick. Mit ihm scheint ihm auch die Liebe hinfällig. Juppiter möchte liebende Hingabe, die nicht in seiner Übermacht geschuldet ist, sondern die ihm selbst frei gewährt wird und seiner Erscheinung und seinem menschengleichen Handeln entspringt.
Für Alkmene steht mit Amphitryons Vorwurf des Treuebruchs auch das Vertrauen der Liebenden in Gefahr. Sie vermag Amphitryons Verhalten nicht zu verstehen und möchte gar daran glauben, dass sie sich selbst von einem Traumbild hat täuschen lassen. Aber da ist ja das Diadem, das doch zweifelsfrei zeigt, dass es sich nicht um einen Traum gehandelt hat. Kleist macht hier alles noch verwickelter als bei Molière: Das Diadem hat – so zeigt sich bei genauerer Betrachtung – eine falsche Initiale eingraviert: statt Amphitryons A findet sich dort ein „J“. Muss Alkmene sich doch als Teil eines Betrugs erkennen, dem sie selbst unterlag. Sie erinnert sich nun, dass Amphitryon, der Geliebte, „mir auf Amphitryon den Gatten schmähte“,
„Der immer wiederkehrend zwischen ihm
Und dem Ampitryon mir unterschied.
War ers, dem ich zu eigen mich gegeben,
Warum stets den Geliebten nannt er sich,
Den Dieb nur, welcher bei mir nascht? Fluch mir
Die ich leichtsinnig diesem Scherz gelächelt,
Kam er mir aus des Gatten Munde nicht.“[19]
Aber sie ist sich doch der Begegnung mit dem Geliebten, ihrem Amphitryon, doch so sicher:
„Eh will ich irren in mir selbst!
Eh will ich dieses innerste Gefühl,
Das ich am Mutterbusen eingesogen;
Und das mir sagt, daß ich Alkmene bin,
Für einen Parther oder Perser halten.
Ist diese Hand mein? Diese Brust hier mein?
Gehört das Bild mir, das der Spiegel strahlt?
Er wäre fremder mir, als ich! Nimm mir
Das Aug, so hör ich ihn; das Ohr, ich fühl ihn;
Mir das Gefühl hinweg, ich atm‘ ihn noch;
Nimm Aug und Ohr, Gefühl mir und Geruch,
Mir alle Sinn und gönne mir das Herz:
So läßt du mir die Glocke, die ich brauche,
Aus einer Welt noch find ich ihn heraus.“[20]
Die Liebe erkennt das wahre Wesen des Geliebten. Sie blickt hinter die äußere Erscheinung und erschließt seinen „Geist“ und dessen göttliche Natur. Almene ist sich dessen sicher und zeigt sie sich dennoch verwundert, wie eigentümlich strahlend und verklärt, er ihr plötzlich erschien:
„Daß ich ihn schöner niemals fand, als heut‘
Ich hätte für sein Bild ihn halten können,
Für sein Gemälde, sieh, von Künstlerhand,
Dem Leben treu, ins Göttliche verzeichnet.
Er stand, ich weiß nicht, vor mir, wie im Traum,
Und ein unsägliches Gefühl ergriff
Mich meines Glücks, wie ich es nie empfunden,
Als er mir strahlend, wie in Glorie, gestern
Der hohe Sieger von Pharissa nahte.
Er wars, Amphitryon, der Göttersohn!“[21]
Die Liebe mag den Geliebten zweifelsfrei erkennen. Ist das „unsägliche Gefühl“, das Alkmene da ergriff und den Geliebten überhöht, tatsächlich Liebe? Solcher Art Liebe, sagt man, mache blind.
Alkmene sucht bei Amphitryon demütig Aufklärung. Hat er ihr das Diadem überreicht, das statt seinem A ein fremdes J eingraviert hat? Falls ja, ist alles gut; falls nein, so möge sie der Tod von ihrer „Schmach“ befreien. Worin soll die „Schmach“ bestehen? Sie hat nicht betrogen, sondern wurde Opfer eines Betrugs. Aber Opfer wurde sie nur, weil es ihr nicht gelungen war, mit den Augen der Liebe, ihren Amphitryon zu erkennen. Darin liegt ihre Schuld. Sie konnte den Geliebten nicht als Geliebte wahrnehmen, war vielmehr einem „unsäglichen Gefühl“ erlegen, das Wunsch und Wirklichkeit nicht zu scheiden wusste. Sie betrog, weil sie nicht wahrhaft liebte.
Juppiter, der ihr als Amphitryon erscheint, antwortet zunächst ausweichend: „alles / Was sich dir nahet, ist Amphitryon“. Das kann sie nicht beruhigen. Im Gegenteil.
„Alkmene:
O mein Gemahl! Kannst du mir gütig sagen,
Warst dus, warst du es nicht? O sprich! du warsts!
Juppiter:
Ich wars. Seis wer es wolle. Sei – sei ruhig,
Was du gesehen, gefühlt, gedacht, empfunden,
War ich…
Wer deine Schwelle auch betreten hat,
Mich immer hast du, Teuerste, empfangen,
Und für jedwede Gunst, die du ihm schenktest,
Bin ich dein Schuldner, und ich danke Dir.
Alkmene:
Nein, mein Amphitryon, hier irrst du dich.“
Diese ausweichende Antwort ist ihr Antwort genug. Sie glaubt, ihr Geliebter wolle sie schützen und bestätigt damit gerade ihren Verdacht: sie wurde hintergangen und hat es nicht bemerkt. Zu ihr sprach nicht die Sprache des Herzens, sondern wie wurde durch ihr Wünschen und Sehnen getäuscht.
Juppiter hingegen sieht sich darin zurückgesetzt. Der in die Gestalt Amphitryons schlüpfende Liebhaber wurde durch seinen Betrug selbst betrogen:
„Er war
Der Hintergangene, mein Abgott! Ihn
hat seine böse Kunst, nicht dich getäuscht,
Nicht dein unfehlbares Gefühl! Wenn er
In seinem Arm dich wähnte, lagst du an
Amphitryons geliebter Brust…“[22]
[Hervorhebung im Original]
Juppiter-Amphitryon bringt schließlich selbst Juppiter als Betrüger ins Spiel. Er hab Alkmene getäuscht. Dem müsse Alkmene sich fügen. Aber hätte sie die Wahl, was hätte sie dann getan, täte sie jetzt?
„Läßt man die Wahl mir – […]
Die Wahl, so bliebe meine Ehrfurcht ihm
Und meine Liebe dir, Amphitryon.“
Nur dumm, dass sie sich schon wieder täuscht.
Inzwischen hat der irdische Amphitryon, der um seine Ehre bemüht ist und Alkmene Betrug nachweisen will, seine Zeugen gerufen, die bestätigen, dass er die Nacht nicht bei Alkmene, sondern im Lager verbracht hat. Würde der andere Amphitryon jetzt nicht nochmal erscheinen, wäre Alkmene des Ehebruchs überführt. Aber Kleist lässt Juppiter das Spiel ausreizen. Juppiter erscheint in Gestalt des Amphitryons und nun gilt auch das Zeugnis der Offiziere nichts mehr: für wen der beiden für sie Ununterscheidbaren gilt nun ihr Zeugnis?
Ununterscheidbar „für sie“, aber auch für die Liebe, die liebende Alkmene? Alkmene wird aufgefordert zwischen dem echten und dem trügerischen Amphitryon zu entscheiden. Und hier kommt nun doch noch Juppiters großer Triumph. Alkmene erkennt den falschen Amphitryon für ihren, den sie sich liebend zugetan glaubt. Sie liebt das Göttliche im Menschlichen – und hat es dem Richtigen zuerkannt. Was sie an ihrem Amphitryon liebt, ist das, was über ihn hinausweist.
Nun endlich gibt sich Juppiter zufrieden und zu erkennen. Und wieder – wie schon bei Molière – soll sich Amphitryon davon geehrt zeigen, dass der große Juppiter in seine Gestaltgeschlüpft ist und als Amphitryon einen großen Helden gezeugt hat.
Wir und Kleists Kant-Krise
Der Kleistsche Amphitryon ist ein metaphysisches Lustspiel, ein Ringen um Täuschung und Wahrheit, um Liebe und Begehren. Heinrich von Kleist war– so heißt es – um 1801durch seine Kant Lektüre in eine „Kant-Krise“ gekommen. In einem berühmten Brief schreibt Kleist: „Wir können nicht entscheiden, ob das was wir Wahrheit nennen, wahrhaftig Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint.“[23] Der 1803 entstandene Amphitryon gibt davon Zeugnis. Die alte, mit dem Amphitryon Mythos verbundene Frage, ob es sich bei Alkmenes freudvoller Nacht überhaupt um einen Betrug gehandelt habe, bekommt bei ihm eine neue „metaphysische“ Dimension. Wie können wir den menschlichen Amphitryon von einem wie auch immer bestimmten Doppelgänger unterscheiden, sei’s einer göttlichen Verwandlung oder einer künstlichen Anverwandlung. Was jahrhundertelang ein spielerisches Gedankenexperiment war, wird mehr und mehr zur existentiellen Herausforderung. Virtuelle Realität ist ein Teil der Realität geworden. News und News lassen sich kaum noch unterscheiden. Ohne Google – als eine Metapher für künstliche Intelligenz – lassen sich Google News und Google Fake News nicht mehr unterscheiden. Und wir dürfen dabei nicht auf eine übernatürliche Epiphanie hoffen. Google weiß nichts und damit auch nicht den Unterschied zwischen News und deren Fake. Sie sind aus demselben Material – oder genauer gesagt aus keiner „hardware“, die man irgendwie durch „software“ unterscheiden könnte. Künstliche Intelligenz täuscht uns Intelligenz vor, scheint dabei alle unsere „intelligenten“ Vermögen zu übertreffen und damit auch die Möglichkeit, sie „intelligent“ zu unterscheiden.
Der große Held unserer Tage ist ein künstlicher – künstliche Intelligenz. Wir mögen ihre immer neuen Großtaten bewundern. Wichtig ist, ihre Herkunft zu verstehen. Ihre Heldenstücke überragen die des Herakles bei weitem. Sie sind nicht Teil eines Mythos, sie bestimmen mehr und mehr unsere Wirklichkeit, unsere Lebenswelt. Wir haben sie hervorgebracht. Maschinen rechnen nicht, schreiben nicht, denken und fühlen nicht. Wir tun es mit ihnen. Aber wie erkennen wir, dass sie nicht rechnen, schreiben, handeln und fühlen, wenn sie beständig etwas „tun“, was wir rechnen, schreiben, handeln und fühlen nennen? Was unterscheidet „philosophische Zombies“ von sprechenden, erkennenden, handelnden und fühlenden (menschlichen) Wesen? Wir müssen uns wohl darauf besinnen, was uns als Menschen, als Personen ausmacht. Das können nur wir. Und Besinnung ist denkende Begegnung mit anderen, mitfühlendes Auf-einander-hören. Maschinen können nur so tun als ob sie rechnen oder schreiben, denken oder fühlen. Und dieses „als ob“ verstehen nur wir!
[1] Perseus entspringt dem Gottregen, mit Hilfe dessen sich Zeus mit Danae „verband“.
[2] Molière, Amphitryon, in: ders., Komödien, 1970. Er greift dabei auf den römischen Komödiendichter Plautus (254-184) zurück.
[3] So reflektiert Sosias gleich zu Beginn seine Rolle als Diener und fragt sich selbstkritisch, warum er statt feige zu folgen nicht aufbegehrt und sogar noch die Anerkennung des Herrn sucht: „Ein Herr darf dir, dem Knecht befehlen, / Freund Sosias, du steckst im Joch […] Und doch läuft man wie blöde Gecken / Der eitlen Ehre nach, ihr Diener noch zu sein.“ (Molière, a.a.O., I 1, S. 589.)
[4] Molière, Amphitryon, Vorspiel, in: ders., Komödien, 1970, S. 586f.
[5] Molière, a.a.O., S. 588. Hier versteckt sich eine schöne Anspielung auf die Frucht der Begegnung von Zeus und Alcmene: Hera ist über das erneute Fremdgehen ihrer Gatten wenig erfreut und sinnt auf Rache. Hera wird sich deshalb an die Geburtsgöttin Eileithyia (Εἰλείθυια, die bei den Römern Lucina hieß) wenden, die Geburt Herakles zu verzögern. Das bringt der Mutter nicht nur andauernde Schmerzen/Geburtswehen, sondern verhindert auch die königlichen Ehren für das Kind, die an den früher geborenen Eurystheus ging, dem Herakles dann zu dienen hatte.
[6] Molière, a.a.O., I 3, S. 601.
[7] Molière, a.a.O., I 3, S. 602.
[8] Molière, a.a.O., II 2, S. 610.
[9] Molière, a.a.O., III 10, S. 638f.
[10] So lässt Molière Merkur schon im Vorspiel sagen: „Wenn man so glücklich ist und zählt zu höchsten Kreisen, / Ist auch von vornherein all unser Handeln gut; / Des Menschen Ansehn kann sein Name nur erweisen, / Und nebensächlich ist, was er dann tut.“ (a.a.O., S. 588.) Was hier mit Blick auf Zeus und die Menschen gilt, gilt auch für die Herrschaft (von König und Adel) und denen, die unter ihr dienen müssen und ihrer Willkür mehr oder weniger ausgesetzt sind – und dazu zählen auch (und nicht zuletzt) die Frauen.
[11] Heinrich von Kleist, Amphitryon, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. I, 1965, S. 245ff.
[12] Heinrich von Kleist, a.a.O., I 2, V. 203ff., S. 253.
[13] Heinrich von Kleist, a.a.O., I 2, V. 229ff., S. 254.
[14] Heinrich von Kleist, a.a.O., II 1, V. 705ff. S. 268.
[15] Heinrich von Kleist, a.a.O., II 1, V. 740ff. S. 269f.
[16] Heinrich von Kleist, a.a.O., II 2, V. 994ff., S. 277.
[17] Heinrich von Kleist, a.a.O., I 4, V. 455ff. S. 261.
[18] Heinrich von Kleist, a.a.O., I 4, V. 481ff. S. 261f.
[19] Heinrich von Kleist, a.a.O., II 4, V. 1203ff. S. 283.
[20] Heinrich von Kleist, a.a.O., II 4, V. 1154ff. S. 282.
[21] Heinrich von Kleist, a.a.O., II 4, 1187ff., S. 283.
[22] Heinrich von Kleist, a.a.O., II 5, V. 1287ff. S. 286.
[23] Brief an Wilhelmine von Zenge, vom 22. März 1801, in: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, 1965, S. 634. Das gründet zwar eines nicht sehr gründlichen Studiums der Kantischen Schriften, greift aber eine Stimmung der Zeit auf. Noch größere Bedeutung dürfte haben, als was sich die Person verstehen will: in ihr streiten sinnlichen Neigungen mit vernünftigen Ansprüchen. Mal zeigt sich das eine, mal das andere dominant und die kantische Forderung nach einer vernünftigen Lebensführung nach dem unbedingt gültigen Sittengesetz liegt im Widerstreit mit romantischen Sehnsüchten einer sympathetischen Naturerfahrung.