Audiatur et altera pars – die Aufforderung, auch auf die andere Seite zu hören, ist ein römischer Rechtsgrundsatz und ein bewährter Rat zur Besonnenheit. Es mag sich wohl jeder an Fälle erinnern, bei denen es hilfreich war, wenn wir uns an ihn hielten. Ihm wirklich zu folgen, ist kein formales Spielchen. Es ist die Zumutung, die eigene Position zur Disposition zu stellen. Dem zeigen wir uns nicht immer ganz gewachsen. Wir schätzen Personen, die diese Tugend des Zuhörens haben und sich dem Anderen wirklich öffnen können. Wer dem, was man nicht hören will, widerwillig und mit verschlossenen Ohren entgegentritt, der konzentriert sich beim Zu- aufs Weghören. So folgt man dem Rechtsprinzip nicht wirklich. Aber selbst dort, wo wir ihm zunächst ohne Begeisterung und mit einer gewissen Skepsis folgen, zeigt er gelegentlich seinen Nutzen und sei es nur, die eigene Position zu schärfen und sich über das, was man wirklich will, klar zu werden.
Aufeinander zu hören, das kennzeichnet „offene Gesellschaften“. Offene Gesellschaften“ sind solche, in denen die Mitglieder einander zugestehen, unterschiedliche Sichtweisen und Interessen zu haben. Die Vielstimmigkeit ist keine Schwäche, sondern eine Stärke offener Gesellschaften. Sie führt zu einer besseren Berücksichtigung der wirklichen Kräfte, die das gesellschaftliche Leben prägen. Öffentlichkeit ist dabei der Ort, wo divergierende Wertvorstellungen und konfligierende Ziele aufeinandertreffen und im Idealfall zum Ausgleich gebracht werden.
Neoliberale Alternativlosigkeit
Bernd Stegemann sieht in seinem neuen Buch Die Öffentlichkeit und ihre Feinde (2021) diesen öffentlichen und offenen Austausch von Gesichtspunkten und Zielen in Gefahr. Das Zu- und Aufeinanderhören werde in neoliberalen Gesellschaften mehr und mehr durch eine behauptete „Alternativlosigkeit“ ersetzt wird. Der freie Austausch von Interessen und Meinungen wird durch den deregulierten Freihandel unter der Herrschaft des globalisierten Finanzkapitals ersetzt. Die Globalisierung neoliberalen Wirtschaftens kennt keine Alternativen mehr und behauptet das neoliberale Ende der Geschichte. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung ist demnach die natürliche, vernünftige Ordnung, gegen die auf Dauer nicht verstoßen werden kann und sich deshalb „alternativlos“ durchsetzt.
Der Neoliberalismus ist – so Bernd Stegemann – „eine Politik, die sich selbst als rational und darum als ‘alternativlos‘ beschreibt“.[1] Sie glaubt der Auseinandersetzung sich widerstreitender Interessen und Meinungen technokratisch enthoben. Politik soll durch Wissenschaft ersetzt werden.[2] Das ist nicht nur eine gefährliche Verkürzung der Politik. Es verkennt vor allem den Anspruch der Wissenschaft. Gerade Wissenschaft unterstellt, dass ihre Ergebnisse Zwischenergebnisse sind, die einem freien und unbedingten Austausch von Gründen und Gegengründen ausgesetzt sind. Wissenschaft wird vom methodischen Zweifel bestimmt, nicht von der Darstellung alternativloser Wahrheiten.[3]
Demgegenüber will Bernd Stegemann zeigen, dass die selbstzerstörerischen Kräfte des Anthropozäns nur beherrscht werden können, wenn die Ideologie der Alternativlosigkeit durch einen offenen Austausch von Meinungen und Interessen überwunden wird. Alternativlos ist nur eine Öffentlichkeit, die Alternativlosigkeit nicht kennt.
Öffentlichkeit im Anthropozän
Stegemann nähert sich der Öffentlichkeit – anders als etwa Jürgen Habermas, den er wohlwollend bespricht – aus systemtheoretischer Perspektive. Bernd Stegemann rekonstruiert sie als „Medium“ der Kommunikation, das die Interaktion von Systemen zur gegenseitigen Beförderung sicherstellen und stärken soll. Die Systemtheorie überträgt die Besonderheit „lebendiger Organismen“ auf gesellschaftliche Akteure. Lebendige Organismen sind biologische Systeme, die ein Innen-Außen-Verhältnis charakterisiert, das sie selbst aufbauen und reproduzieren. Die Komplexität der Umwelt wird auf eine Form des Austauschs reduziert, die der lebendige Organismus selbst vorgibt. Nur was das System über dieses Medium erreicht, kann von ihm wahrgenommen werden. Wie lebendige Organismen unterschiedliche Organe mit spezifischen Medien und Leistungen ausbilden, so differenziert sich die Gesellschaft in interagierende Subsysteme. Wirtschaft wird als System verstanden, dass über Wert/Geld kommuniziert, während das Medium der Politik Macht/Mehrheiten und das der Wissenschaft Wahrheit/Reputation ist. Die Ausdifferenzierung von Systemen, die nach eigenen Gesetzen (der Reduktion von Komplexität) operieren, kennzeichnet moderne Gesellschaften. Freilich müssen sich die Subsysteme aufeinander beziehen, gedeihlich koexistieren und einander stärken. Diese „lebenswichtige“ Kommunikation zwischen den gesellschaftlichen Subsystemen ist die Aufgabe von Öffentlichkeit. Sie ist „ökologisch“ ausgeprägt und ist das selbstorganisierende Zusammenspiel der Systeme. Bernd Stegemann zitiert ein bekanntes bon mot von des Systemtheoretikers Niklas Luhmann, der von der Öffentlichkeit als dem „heiligen Geist“ der Systeme spricht,[4] der das gelingende Zusammenwirken der Subsysteme sichert. Scheitert diese ökologische Selbstorganisation, dann sterben einzelne Systeme ab und das Gesamtsystem organisiert sich neu. Das ökologische Gleichgewicht der freien Gesellschaften sieht Bernd Stegemann im Anthropozän in Gefahr.
Anthropozän bezeichnet die Epoche der Weltgeschichte, in der das Tun und Lassen des Menschen zur bestimmenden Kraft der biologischen und klimatischen Bedingungen des Planeten Erde werden. „Die Menschen haben ob gewollt oder nicht, einen Zustand hervorgebracht, in dem ihr Einfluss auf die Lebensbedingungen der Erde so gewaltig ist, dass sie selbst zur wichtigsten Instanz für die Ökologie der Erde geworden sind.“ Vor allem die ökologische Klimakatastrophe gilt es abzuwenden.
Überhitzte Gesellschaft
Die Öffentlichkeit gerät dabei immer stärker in den „Panik-Modus“. Bernd Stegemann spricht von „überhitzten Gesellschaften“. Die drohende, durch den Menschen verursachte Katastrophe soll durch die gleiche Logik beherrscht werden, die sie hervorbrachte – nur entschiedener und moralischer. „Die spätmoderne Erregungsgesellschaft“ wird „vollständig von der menschlichen Perspektive dominiert“, die gerade zum Problem geführt hat. „Kern der Frage“ ist nach Bernd Stegemann, ob „die überhitzte Öffentlichkeit in der Lage [ist], das Anthropozän angemessen zu begreifen?“[5] Und das heißt, so zu begreifen, dass die drohende Katastrophe verhindert werden kann. Das ökologische Problem muss „ökologisch“ gelöst werden und das heißt nicht unter der Dominanz eines Subsystems, nämlich der „menschlichen Perspektive“. Öffentlichkeit muss als „heiliger Geist“ der Gesellschaft diese Ökologie der Subsysteme abbilden.
In diesem Sinne macht Öffentlichkeit die Sache nicht einfacher, aber erfolgreicher. Sie bringt die Komplexität der Welt angemessen zur Geltung. „Die ideale Funktion der Öffentlichkeit besteht darin, Themen sichtbar zu machen, damit sich die widersprüchlichen Interessen darüber eine Meinung bilden können, um dann in einem gegenseitigen Austausch ein Bild der komplexen Lage zu erzeugen. Öffentliche Kommunikation ist also eine anspruchsvolle Kommunikation. Sie macht die Dinge komplizierter, als es den Beteiligten anfangs erscheint. Sie relativiert den Anspruch der einzelnen Meinung auf absolute Gültigkeit, weil sie sie mit entgegengesetzten Ansichten konfrontiert. Und sie verbessert die Bedingungen, aufgrund derer Entscheidungen getroffen werden, weil sie die unterschiedlichen Sichtweisen ans Licht bringt.“ [6]
Voraussetzung dafür ist, dass es gelingt, „aus Widersprüchen politische Konflikte zu machen, die in demokratischen Verfahren entschieden werden können.“[7] Dagegen wird in überhitzten Gesellschaften derjenige, der nicht der eigenen Partei angehört, zum Gegner oder gar Feind erklärt. „Die Auswirkungen für die Öffentlichkeit sind drastisch. Denn einer der großen zivilisatorischen Gewinne der freien Öffentlichkeit besteht darin, dass hier alle Meinungen öffentlich sichtbar werden und dass Beobachter die Absichten der jeweiligen Interessen und Ideologien erkennen und öffentlich kritisieren können.“[8] An der Öffentlichkeit sollen nur die teilnehmen dürfen, die ihrer würdig sind, die sich also den „alternativlosen“ Wahrheiten nicht widersetzen. „Die Öffentlichkeit wird wieder zu einem Medium, in dem eine Autorität ihre Wahrheit verkündet und Kritik mit Bestrafung rechnen muss.“[9]
Paradoxien der Aufklärung
Darin zeigt sich eine gefährliche Seite der Aufklärung, die ihr nicht zufällig, sondern wesenhaft zukommt und bereits in der vielzitierten Bestimmung von Kant anklingt: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“[10] Unmündig sein will niemand, schon gar nicht aus freiem Willen. Wer unmündig ist, der freilich bleibt gegenüber der eigenen Unmündigkeit blind. Unmündigkeit ist immer die Unmündigkeit der anderen, die aufgeklärt und aus ihrer Unmündigkeit befreit werden müssen.
Die Aufklärung verheddert sich dabei in einem Paradox. Guten Gründen kann nur der Mündige folgen. Und doch sind es gerade die Unmündigen, die er aufklären will. Der Austausch von Gründen kann nicht gelingen. Die Aufklärung macht eine ungute, kommunikative Unterstellung, die den Diskurs unmöglich macht: Wer dem nicht folgt, was der selbsterklärte Aufklärer zum Besten gibt, zeigt, dass er im Zustand der mutlosen Unmündigkeit ist und guten Gründen nicht zu folgen weiß. Aufklärung richtet sich die gegen politische Tyrannei der Unvernunft und versteht sich als „ein Kampf mit dem Aberglauben“.[11] Die Adressaten der Aufklärung sind Opfer politischer Despoten, religiöser Verführer oder schlicht des inneren Schweinhundes, der dazu verführt, sich ängstlich, verbohrt und unentschlossen der „Leitung eines anderen“ zu übergeben statt sich des eigenen Verstandes zu bedienen.
Der Aufklärer weiß sich auf der guten Seite. Er vertritt furchtlos den Verstand, während sein unaufgeklärtes Gegenüber sich mutlos dem Aberglauben hingibt. Bei Widerspruch zweifelt der Aufklärer nicht an seinen Gründen, sondern an der Kompetenz seines Gegenübers, Gründen zugänglich zu sein. Das unmündige Wesen kann nicht überzeugt, es muss behandelt oder erzogen werden. Entziehen sich die Unmündigen den Wahrheiten der Aufklärung, verdienen sie Strafe. Wer nicht hören will, muss fühlen.
Aufgeklärte Cancel Culture
Eine Ausprägung dieser Unkultur der Aufklärung ist die sogenannte Cancel Culture, zu der neoliberale Alternativlosigkeit und forcierte Identitätspolitik zusammenlaufen.[12] Etwas zugespitzt formuliert: wer mir nicht zustimmt, mit dem rede ich nicht. Wer meine Gründe nicht anerkennt, der ist unmündig, böswillig oder verführt.
„Mit Cancel Culture ist also nicht das einzelne Phänomen gemeint, wenn etwa einem Künstler ein Auftritt verweigert wird, sondern damit wird ein toxischer Umbau der Öffentlichkeit beschrieben. Die universellen Rechte und die Meinungsfreiheit werden als Werte eingeschränkt … Es wird also nicht mehr zwischen den Interessen verhandelt, sondern über die Bedingungen, wessen Interessen in welcher Form öffentlich werden dürfen.“[13] Mit bestimmten Leuten ist einfach nicht mehr zu reden. Ihnen Öffentlichkeit zu geben, wird als unmoralisch, unsolidarisch und gefährlich erachtet.[14]
Bernd Stegemann gibt eine Reihe erschreckender Beispiele von Cancel Culture.[15] Aber einige Schwalben machen noch keinen Sommer. Man kann deshalb natürlich unterschiedlicher Meinung sein, ob die gegenwärtige Öffentlichkeit Züge einer Cancel Culture trägt. Wichtiger als die Frage, ob wir (bereits) in einer Cancel Culture leben, ist die Entschiedenheit, nicht in ihr leben zu wollen und diese Frage ohne moralisierende Ausgrenzung zu diskutieren. Das freilich ist keineswegs unumstritten und die Sache durchaus herausfordernd.
Noam Chomsky wird die Überzeugung zugeschrieben, „if we don’t believe in freedom of expression for people we despise, we don’t believe in it at all“.[16] Das gilt demnach auf für Nazis und „Holocaustleugner“,[17] vor allem aber soll gelten, dass Meinungen nicht „by some board of commissars or a reconstituted Inquisition“ als zu- oder unzulässig begrenzt werden dürfen. Soll also tatsächlich Neonazis und Ku-Klux-Klan Aktivisten, [18] sogenannten Coronaleugner und Impfverweigerer eine Öffentlichkeit gegeben werden? Warum sollte man Feinden der Demokratie und Leugnern der Wahrheit, Meinungsfreiheit gewähren?
Die Frage scheint mir selbst ein Zeichen für „Überhitzung“ zu sein: „seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“ ist – ob es uns gefällt oder nicht – nichts, was wir gewähren könnten. Es ist ein Grundrecht, das wir anzuerkennen haben.[19] Verweigern wir es, tasten wir die Würde der Betroffenen an, zugespitzt gesagt entmenschlichen wir sie. „Überhitzte Gesellschaften“ glauben sich dazu berechtigt, weil es „um alles geht“ und die drohenden Katastrophen abgewendet werden müssen. Zudem ist die Wahrheit in den Augen der herrschenden Mehrheit so offensichtlich, dass abweichende Meinungen einem Unrecht gleichkommen oder jedenfalls einem Missbrauch des (Grund-)Rechts auf Meinungsfreiheit. Man sieht sich bedroht und glaubt dieser Bedrohung argumentativ nicht (mehr) gewachsen zu sein. Tatsächlich ist das freilich selten der Fall. Sich durch abweichende Meinungen bedroht zu fühlen, ist meist selbst das Ergebnis einer medialen, um nicht zu sagen propagandistischen, Verengung der Diskussion. Die Ausgrenzung des Widerspruchs ist kontraproduktiv und höhlt das aus, was sie zu sichern vorgibt. Die Öffentlichkeit kann ihre Funktion nicht (mehr) erfüllen, die gesellschaftlichen Kräfte zum Austrag kommen zu lassen. Auch Cancel Culture verzerrt die Wirklichkeit und bleibt auch als gut gemeinte das Gegenteil von gut.
Aufklärung, die ihrem eigenen Anspruch gerecht werden will, darf den Austausch von Gründen nicht unter den Verdacht der Unmündigkeit der anderen stellen. Für das audiatur et altera pars ist die Unterstellung zu machen, dass die eigenen moralischen Vorstellungen für die anderen nicht gelten müssen und trotzdem ein Gespräch erfolgen kann und eine demokratische Auseinandersetzung sinnvoll ist.
Kritik der Qualitätsmedien
Hier kommen die Qualitätsmedien ins Spiel, die den mit ihnen verbundenen Anspruch aber kaum mehr zu entsprechen scheinen. Die Leitmedien weisen den Vorwurf einer Cancel Culture zwar weit von sich. Sie rühmen sich aber zugleich für einen „Haltungsjournalismus“, der „Unqualifiziertem“ keinen Raum gibt. Audiatur et altera pars schon, aber nur was als altera pars zugelassen wird. Das gilt ausdrücklich nicht für unwissenschaftliche Schwurbbelei, Verschwörungstheorien, rassistische und antisemitische Hetze. Die Kriterien, die zum Ausschluss führen, stellen sich keiner Diskussion mehr. Mit wem auch? Ziel ist ja gerade, sich der (öffentlichen) Diskussion mit diesen Gefährdern der öffentlichen Ordnung zu verweigern. Wer keine zugelassene „Partei“ ist, kann auch kein nachvollziehbares Urteil erwarten, über dessen Rechtmäßigkeit dann öffentlich diskutiert werden könnte.
Der Haltungsjournalismus verfolgt selbst politische und nicht selten moralische Ziele und beurteilt das, worüber berichtet wird, im Hinblick auf die Förderung dieser Ziele. Medienkritiker beklagen eine Verengung der politischen Diskussion, die nicht erst seit Corona zu erkennen ist. Man denke etwa an die bereitwillige Berichterstattung beim Krieg gegen den Terrorismus, der nicht selten auf offensichtlichen Lügen beruhte, die von den Qualitätsmedien willfährig und unkritisch verbreitet wurden.[20]
Noam Chomsky hatte (zusammen mit Edward S. Herman) in den Sechziger und Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts die mediale Verzerrung durch die „Leitmedien“ untersucht und unter dem sprechenden Titel Manufacturing Consent, The Political Economy of Mass Media (1988) veröffentlicht. Massenmedien üben danach eine Propagandafunktion aus, die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung machen[21] und sie als „Lügen-“ oder „Lückenpresse“ erscheinen lassen.
Zombie-Journalismus …
Bei Chomsky/Herman funktioniert das ohne Zensur und offenen Zwang. Es sind systemische Kräfte, die die propagandistische Wirkung der Medien hervorbringen. Für die deutsche Presse- und Medienlandschaft haben das Walter van Rossum und Marcus Klöckner detailliert untersucht.[22] Sie rekonstruieren die Verzerrungen über die Verstrickung der Medien mit Politik und Wirtschaft. Der Verwertungsprozess macht die Medien zum Teil eines großen Geschäfts und die Information zur Ware, für die es mehr oder weniger kaufkräftige Abnehmer gibt. Mit der Krise der Printmedien hat sich dieser Auslese-Prozess noch verstärkt: es kommt auf zahlkräftige Werbekundschaft und das Wohlwollen einflussreicher Sponsoren an. Das verstärkt die Neigung zur Überhitzung eines Skandal- und Sensationsjournalismus, der freilich die Brücken zu dem anvisierten Marktsegment nicht abbricht. Die Lage der Journalisten wurde durch die Veränderung der Marktbedingungen zunehmend prekärer – gutbezahlte Festanstellungen werden immer weniger und journalistisch Tätige müssen immer stärker darauf achten Stories zu liefern, die herausragen ohne anzustoßen. Beispielhaft ist hier Claas Relotius. Er schrieb vor allem für Der Spiegel, aber auch für andere Qualitätsmedien wie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die Die Weltwoche oder das SZ-Magazin der Süddeutschen und erhielt insgesamt 19 Auszeichnungen für seine „journalistische“ Arbeit, darunter den Deutschen Reporterpreis und die Auszeichnung Journalist of the Year (2014). Er verstand es, über das zu schreiben, was Aufmerksamkeit schafft ohne unbequem zu werden. Vieles davon war frei erfunden. Erst kürzlich bekannte er sich dazu, dass nahezu alle seiner rund 120 Artikel „fiktionale Elemente“ enthielten. Wieviel angenehmer hört es sich an, von „fiktionalen Elementen“ zu sprechen als davon etwas frei erfunden und schlicht gelogen zu haben?
Während die Unterscheidung von Fakten und Fiktionen noch vergleichsweise einfach zu treffen ist, wird es bei objektiven Fakten und weltanschaulichen Haltungen bedeutend schwieriger. Die alte Idee des Journalismus wollte über bedeutsame Sachen so genau und so objektiv wie möglich informieren und die Information von der weltanschaulichen Bewertung trennen, die dem Kommentar vorbehalten blieb. So schwierig diese Trennung auch sein mag, sie galt als hehres Ziel, das durch den sogenannten Haltungsjournalismus von vorneherein aufgegeben wird. Ein guter Journalist müsse „Haltung zeigen“,[23] natürlich die richtige. Das scheint den Unterschied zwischen Meldung und Kommentar aufzugeben.
Aber so einfach ist die Sache auch wieder nicht. Georg Restle, der Chef des ARD Magazins Monitor, versucht in seinem Plädoyer für einen werteorientierten Journalismus zunächst die Neutralitätsforderung als eine „der größten Lebenslügen des heutigen Journalismus“ zu disqualifizieren: nämlich dass Journalismus „überhaupt neutral sein könne, und seine eigentliche Kunst darin bestehe, nur abzubilden, ‚was ist‘“.[24] Georg Restle spricht von einem „Neutralitätswahn“. Hanns Joachim Friedrichs, Tagesthemen Moderator von 1985-91, hatte „Distanz halten“ noch als Journalistenpflicht bezeichnet, nämlich „sich nicht gemein [zu] machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit [zu] versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein.“[25] Das Streben des traditionellen Journalismus nach „selbstkritischer Objektivität“ scheint Georg Restle nur „selbsthypnotische Verantwortungslosigkeit“:[26] „mit einem solchen Verständnis von Journalismus will ich [Georg Restle] nichts zu tun haben“.
Georg Restle weist durchaus zurecht darauf hin, dass man sich hinter der angestrebten Neutralität gut verstecken kann. Neutralität und Objektivität ist außerdem nichts, das sich einfach so herstellen lässt – es handeln immer Menschen mit Interessen, Weltanschauungen und Vorurteilen. „Wenn Journalisten behaupten, sie seien neutral, dann lügen (!) sie. Weil wir permanent auswählen, was wir oder andere für relevant halten – und aussortieren, was uns oder anderen nicht wichtig erscheint.“ Ob wir wie Georg Restle gleich von „lügen“ sprechen müssen (oder dürfen), sei mal dahingestellt. Richtig ist, dass eine Selektion des Wichtigen und Unwichtigen erfolgen muss und dies immer auch einen Blickwinkel unterstellt. Allerdings wird ein Ziel nicht deshalb unsinnig, weil es schwierig zu erreichen ist. Wir würden beim Neutralitätsgebot philosophisch wohl vom „regulativen Gebrauch der Idee“ sprechen, einem Maßstab der uns anleitet und mittels dessen wir uns bei unseren Anstrengungen bewerten und kritisieren können. Der Umstand, dass wir Neutralität und Objektivität nicht einfach so, per Selbstverpflichtung, erreichen können, zwingt uns dazu, die Vielfalt der Perspektiven zu erweitern – nicht sie auf eine Haltung zu beschränken.
Tatsächlich ist das Ziel Georg Restles ja gar nicht so verschieden. Auf die selbst gestellte Frage, wie der Journalismus sein sollte, sagt er: „Unabhängig und unbestechlich zuallererst: Wir sollten keiner Partei angehören und keiner sonstigen Interessenvereinigung; uns von den Trögen der Macht fernhalten und der Versuchung widerstehen, bedeutend zu sein oder geliebt werden zu wollen. Wir sollten uns an die Fakten halten, statt uns in Mutmaßungen und Gefühlen zu verlieren.“
Sich „an die Fakten halten“ wird aber nicht durch eine politische Wertorientierung sichergestellt, sondern durch den Anspruch des „unabhängigen“ Journalismus selbst. „Haltung zeigen“, das heißt für Georg Restle, Haltung gegen „die Rechten“. Das mag ehrenwert sein, sichert aber noch nicht die „Fakten“. Der Journalismus soll nun politische Verantwortung übernehmen und nicht die Verantwortung für die Richtigkeit und den Informationsgehalt des Berichteten. Übernimmt der Journalismus politische Funktion wird er zur Propaganda. Nach Klaus Klocks ist Haltungsjournalismus nichts anderes als „Propaganda, die sich selbst leugnet“[27]
Bevor ich diesem Propagandavorwurf nachgehe, sei festgestellt, dass sich der Haltungsjournalismus jedenfalls zur Cancel Culture bekennt, die er zugleich bestreitet. Er rühmt sich, Dinge nicht gleich zu behandeln und bestimmten Meinungen nicht gleichen Raum einzuräumen. Was weltanschaulich verdächtig ist, verdient keine Öffentlichkeit.
Nicht alles, was wir an medialer Verzerrung feststellen können, erklärt sich freilich aus diesem hehren Anspruch auf Haltungsjournalismus.[28] Er mag ein hilfreiches Selbstverständnis vieler Akteure des Informationsgeschäfts sein, aber es erklärt nicht das Geschäft.
… und Propaganda-Matrix
Der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen versucht in seinem Buch Die Propaganda Matrix, Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft (2021) – auch, aber nicht nur im Anschluss an Noam Chomsky – ein umfassendes Bild der medialen Verzerrung zu geben. Sein Buch sollte zunächst Medien-Matrix heißen und erschien dann auf Anregung seines Verlegers unter dem Titel Propaganda-Matrix. Warum wohl? Propaganda-Matrix ist um einiges fetziger, plakativer und sensationeller als der vom Münchner Professor für Kommunikationswissenschaft vorgeschlagene Titel. Auch die Kritik untersteht der Verwertungslogik, die sie den Kritisierten vorhält.
Michael Meyen jedenfalls liefert eine tour d’horizon der Medienkritik und Propagandatheorie. Es geht immer um die Frage, wie die mediale Verzerrung unter freiheitlich demokratischen Bedingungen möglich ist. Wenn Sie wissen wollen, was Leitmedien zu Leitmedien macht und wie das mit dem Diskursbegriff von Michel Foucault zusammenstimmt, wie sich die Medienlandschaft und ihre Verwertungsbedingungen verändert haben und welche propagandistischen Auswüchse im Mainstream festgestellt werden können, dann ist Michael Meyens Buch eine empfehlenswerte Lektüre.[29]
Das Neue scheint mir dabei der Rückgriff auf die Soziologie Pierre Bourdieus (1930-2002) zu sein. Michael Meyen kann zeigen, dass Journalisten dem gleichen sozialen Feld entstammen wie die politischen Akteure. Sie teilen ein Verständnis der „feinen Unterschiede“ des sozialen Verhaltens und ihr „symbolisches“ und „kulturelles Kapital“ wird durch diese habituelle Verständigung im sozialen Raum bestimmt.[30] So lässt sich erklären, dass eine Verengung der herrschenden medialen Öffentlichkeit ohne politische Zensur oder wirtschaftliche Korruption hergestellt werden kann.
So richtig die Überlegungen von Chomsky, Klöckner oder Meyen sind, sie scheinen mir die bundesrepublikanische Medienwirklichkeit nicht vollständig aufzuklären. Auch die Vorschläge von Michael Meyen, wie in Zukunft „freie Medien“ gestaltet werden könnten, lässt mich skeptisch zurück. Obwohl Michael Meyen einen guten Überblick über Propagandatheorien gibt, öffnet sich daraus kein Lösungsraum.
Was ist Propaganda?
Propaganda ist im heutigen Sprachgebrauch meist „das, was die anderen machen, Nazis und Kommunisten vorzugsweise, aber auch alle sonstigen Gegner und Feinde.“[31] Es sind die Bösen, die die öffentliche Meinung zu ihren eigennützigen Zwecken dominieren wollen. Das war nicht immer so. Propaganda leitet sich vom lateinischen propagare (fortpflanzen, ausbreiten, erweitern) her, sie ist das Zu-Verbreitende.[32] Die Congregatio de Propanganda Fide sollte in der Gegenreformation sicherstellen, dass der rechte Glaube gestärkt wird und sich verbreitet. Die Französische Revolutionäre wollten „propager les princips“, nämlich die der Französischen Revolution (Liberté, Égalité, Fraternité), und damit eine „propagation du patriotisme“.
Inzwischen wird von Propaganda dort gesprochen, wo totalitäre Regime die öffentliche Meinung einseitig nach ihren Interessen zu manipulieren versuchen. Wir denken an die antisemitische Propaganda der Nationalsozialisten. Die Nazis selbst hatten demgegenüber eine „traditionellere“ Auffassung einer interessengeleiteten Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Für Hitler ist Propaganda nichts Schlechtes, sie ist vielmehr eine „grundsätzlich subjektiv einseitige Stellungnahme“, die kein „Abwägen der verschiedenen Rechte, sondern das ausschließliche Betonen des einen eben durch sie zu vertretenden“ will.[33] Es geht um die Wirkung, die erzielt werden soll: „Die Dinge nun aus der Komplikation zu vereinfachen – das ist die Aufgabe des Propagandisten … Je einfacher und je primitiver, desto wirkungsvoller.“[34] Propaganda wird – abweichend von dem heute vorherrschenden „kritischen“ Gebrauch des Wortes – nicht dem politischen Gegner, sondern der eigenen Sache zugeordnet: „Kurzum: Propaganda nur dann, wenn für uns, Hetze, wenn gegen uns.“[35]
Propaganda beschreibt demnach also den Versuch, die öffentliche Meinung durch Informationslenkung für die eigenen politischen Zwecke zu gewinnen. Die politische Zwecke erlauben die Grenzziehung zur Werbung – sie ist fast gleichbedeutend mit „politischer Werbung“,[36] einer massenwirksamen Werbung für die eigenen politischen Ziele.
Propaganda auf bewusste Fehlinformation zu reduzieren, weicht der politischen Auseinandersetzung aus und betreibt eine Selbstimmunisierung gegen gegenteilige Meinungen und Interessen. Sie wird unrealistisch dramatisiert, um jeden Vergleich mit der Realität auszuschließen. Propaganda kommt immer von der (bösen) anderen Seite.[37] Warum um Himmels Willen sollte man aber beim Propagandisten unterstellen, dass er selbst nicht an die Wahrheit dessen glaubt, was er propagiert. Staatliche Propaganda geht in der Regel wohl davon aus, das Richtige zu tun.[38]
Antisemitische Propaganda wird von Antisemiten betrieben, nicht von Leuten, die andere von etwas überzeugen wollen, an das sie selbst gar nicht glauben. Wenn wir Propaganda auf bewusste Fehlinformation reduzieren, dann treffen wir den kritischen Punkt nicht wirklich. Wir unterstellen, dass die eigene Position so evident und „alternativlos“ sei, dass man sich ihr nur aus Böswilligkeit nicht anschließen kann. Wer bewusst Fehlinformation verbreitet, der weiß, dass wir Recht haben und verfolgt Interessen, von denen er weiß, dass sie Unrecht sind. Das macht den Antisemiten zum Antifa, der aus Karrieregründen oder Eigennutz etwas anderes vertritt als er eigentlich meint. Das ist wohl… na ja, nicht sonderlich plausibel und vermutlich eine Verharmlosung des politischen Problems. Wieder soll der Widerspruch moralisch und nicht politisch gelöst werden. Information ist nicht der Ausgangspunkt eines öffentlichen Aushandlungsprozessen, sie ist moralisch politische Erziehung.
Charakteristisch für Propaganda scheint mir nicht die Fehlinformation oder die Verbreitung von Unwahrheiten (oder gar Lügen) zu sein, sondern im Gegenteil der Anspruch auf Wahrheit, der das eigene Handeln ausrichtet. Der Propagandist agiert als wäre er im Besitz der Wahrheit. Was wahr ist, kann nicht bestritten werden. (Wahrheits-)Propaganda ersetzt den Diskurs durch Information.
Ziel der Öffentlichkeit ist es, durch Rede und Gegenrede das Ratsame und Tunliche zu ermitteln; Bedingung dafür ist die Unterstellung, dass die Gesprächspartner Recht haben könn(t)en und d.h. die eigene Position zur Disposition gestellt wird.
Charakteristisch für Propaganda ist hingegen der Versuch, die Gegenrede zu unterbinden, weil sie als gefährlich, unmoralisch und bösartig betrachtet wird. Es gilt, Behauptung vor Begründung. Wer begründet macht deutlich, dass er Gründe braucht, dass sich die Dinge nicht von selbst verstehen oder „alternativlos“ sind. Die Begründungen werden durch die stete Wiederholung des Behaupteten ersetzt. Propaganda lebt von der Vorstellung, dass es „der Öffentlichkeit“ einfach gemacht werden muss, der Wahrheit zu folgen. Jeder Zweifel ist da schädlich, weil sie die breite Bevölkerung (der einfachen Geister) überfordern würde. Information wird zur Didaktik, die von der unstrittigen Wahrheit des zu vermittelnden ausgeht. Mathelehrer diskutieren nicht über die Wahrheit des Satzes des Pythagoras, sie vermitteln ihn und führen zur Einsicht. Wer sich dagegen sperrt ist ignorant oder böswillig und meist beides.
Dem entspricht eine Öffentlichkeit der Macht. Sie zielt auf Einhaltung der von ihr gesetzten Regeln. „Hier spricht der Herrscher zu einem stummen Volk.“[39] Öffentlichkeit dient der Vermittlung von Regeln und der Abschreckung vor Regelverstößen. Das geschieht nicht selten in der Form der Information: Wisse, das ist richtig und gut – und davor steht Verachtung und Strafe.
Komplexität abbilden
Bernd Stegemanns Analyse scheint mir hier eine Perspektive aus der medialen Verengung zu eröffnen. Wir können der Herausforderung des Anthropozäns nur gerecht werden, wenn es gelingt, die (ökologische) Komplexität in der Öffentlichkeit abzubilden und zu einem demokratischen Aushandlungsprozess zu bringen, der nicht durch „unverrückbare Wahrheiten“ und vermeintliche „wissenschaftliche Notwendigkeit“ vorentschieden ist.[40] Die vermeintliche Alternativlosigkeit ist paradox: Entscheidungen sind nicht möglich oder sinnvoll, weil es nur einen richtigen Weg gibt, zu dem man sich freilich entschlossen hat und andere nun auffordert, dies „entschieden“ anzuerkennen. „Wer einmal glaubt, für den ist der Glaube kein Gegenstand der freien Wahl mehr. Der Gläubige hat quasi vergessen, dass am Anfang seines Glaubens eine Entscheidung stand [und stehen musste, um überhaupt als Glauben gelten zu können; HL]… Wer den Glauben hingegen nur als eine Möglichkeit unter vielen betrachtet, der glaubt nicht, und gehört als Ungläubiger zu einer kategorisch anderen Identität als der Gläubige.“[41]
Cancel Culture, die auf „unverrückbare Wahrheiten“ und insbesondere auf „moralische“ Haltungen als Zugangsberechtigung zum öffentlichen Diskurs setzt, verliert sich in Propaganda. Dagegen ist die unbedingte Freiheit der Meinungsäußerung und der offene Austrag von Interessen zu setzen. Journalismus muss vor allem das sicherstellen. Das schließt „Haltungsjournalismus“ nicht aus solange er dafür einsteht, dass auch andere Haltungen zur Geltung gebracht werden können. Ehemalige DDR Bürger warnen auf Grund ihrer Erfahrungen vor einer DDR 2.0. Das mag zugespitzt sein. Der westdeutsche Bernd Stegemann aber formuliert das durchaus ähnlich: „Was die totalitären Regime des Sozialismus immer versucht und nur selten geschafft haben, die Diffamierung dissidentischen Denkens als gefährliche Idiotie, das ist den neoliberalen Gesellschaften gelungen. Wer sie kritisiert gilt entweder als Versager, der die Freiheit nicht zu seinen Gunsten nutzen konnte, oder er gilt als politisch verdächtig, da ihn die kognitive Dissonanz des öffnenden Liberalismus argwöhnisch macht.“[42] Der Neoliberalismus löst liberale Freiheiten auf und verstellt den Ausweg aus der von ihm geschaffenen Krisen.
[1] Bernd Stegemann, Die Öffentlichkeit und ihre Feinde, 2021, S. 108.
[2] „Die Aufforderung doch einfach der Wissenschaft zu folgen, bedeutet im Feld des Politischen die Abschaffung des demokratischen Aushandlungsprozesses, und für die Wissenschaft bedeutet sie die Abschaffung des wissenschaftlichen Wahrheitsbegriffs.“(B. Stegemann, a.a.O., S. 261.
[3] Es gibt nicht „die“ Wissenschaft, sondern Wissenschaften, die unterschiedliche Lebensbereiche untersuchen. Welcher Lebensbereich im Hinblick auf welchen Gegenstand eine besondere Beachtung verdient, das entscheidet keine Wissenschaft, sondern Ethik und Politik. Wissenschaft gibt allenfalls (!) Antwort auf die Frage, welche Mittel bei gegebenen Zwecken gewählt werden können, nicht aber welche Ziele zu wählen sind.
[4] N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2000, S. 286, zit. n. a.a.O., S. 16.
[5] B. Stegemann, a.a.O., S. 9.
[6] B. Stegemann, a.a.O., S. 47f.
[7] B. Stegemann, a.a.O., S. 201.
[8] B. Stegemann, a.a.O., S. 202.
[9] B. Stegemann, a.a.O., S. 203.
[10] I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784).
[11] So G. F. W. Hegel in der Phänomenologie des Geistes (1807), Kap. VI, B IIa.
[12] Die Identitätspolitik, also die politische Ableitung aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, ist ein weiterer von Bernd Stegemann ausgemachter Feind der Öffentlichkeit. Entscheidend ist weniger was als vielmehr von wem (als Angehöriger welcher Identität) etwas gesagt und vertreten wird. Zu den Paradoxien der Identitätspolitik gehört, dass man sich zwar auf Identitäten nicht aktiv berufen oder passiv darauf reduziert werden darf, dass man sie freilich autonom festlegen und andere darauf verpflichten kann, sie zur Grundlage des eigenen Handelns zu machen. Natürlich dürfen Diskriminierte nicht auf ihre zugeschriebene Identität reduziert werden, also z.B. auf ihr biologisches Geschlecht oder ihre Hautfarbe. Diese fremdbestimmte Identität ist die Grundlage für ihre Kritik und Aufhebung in einer selbstbestimmten. Frauen so zu behandeln als seien sie gar keine, ist einerseits richtig und andererseits ideologisch, denn es würde die „realexistierende“ Diskriminierung verdecken. Über Frauen dürfen deshalb nur Frauen und über Farbige nur Farbige sprechen. Zugleich soll „Frau“ aber eine Identität sein, die nicht biologisch, sondern sozial bestimmt ist. Ein „biologischer“ Mann, der sich als Frau „erlebt“, soll eben als Frau gelten dürfen – und z.B. eine Damentoilette benutzen oder eine Frauen-Sauna besuchen dürfen. Eine Reduktion auf eine Identität soll nicht erfolgen – also z.B. auf Mann oder Frau – die selbstgewählte Identität aber unbedingt gelten. Wer daran Kritik äußert, der wird auf seine Identität festgelegt. Kritik an der Wokeness verrät Schlaftrunkenheit und entspringt einer Identität nämlich z.B. die der „alten, weißen Männer“, die Identitätspolitik leugnen.
[13] B. Stegemann, a.a.O., S. 166.
[14] Recht typisch, wie Der Tagesspiegel auf Kritik der Cancel Culture reagiert: im Juli war im Harper’s Magazine ein A Letter on Justice and Open Debate erschienen, den viel intellektuelle Prominenz unterschrieben hatte, u.a. Noam Chomsky. Dem folgte im September 2020 im deutschen Sprachraum ein Appell für freie Debattenräume, den Der Tagespiegel mit „Bitte rechts abbiegen“ bespricht, weil er bei den Unterzeichnern neben „unverdächtigen Konservativen“ (!) auch einige „neurechte Zündler“ entdeckt haben will. Um solchen Verschwörungsunterstellungen zu entgehen, wurden die Unterzeichner beim Aufruf im Harper’s erst mit der Veröffentlichung darüber informiert, wer neben ihnen unterzeichnet hat. Man konnte sich also auf einer Liste mit Noam Chomsky finden, obwohl man ihn für einen „irren Anarchisten“ halten mag. Und tatsächlich sprang auch eine Historikerin des Black Radical ab, weil sie die Sache zwar richtig fand, aber nicht die Leute, die sie auch gut fanden. Also erst fragen, wer was sagt, um es dann richtig oder falsch zu finden!
[15] Kap. 3.
[16] In diesem Sinne: His Right to Say It. und Some Elementary Comments on The Rights of Freedom of Expression. Ganz ähnlich das vielzitierte Wort, das Voltaire (1694-1778) zugeschrieben wird und wohl aus der Voltaire Biographie der Britin Evelyn Beatrice Hall stammen dürfte: „Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, daß Sie sie sagen dürfen.“
[17] Viel diskutiert wurde die sogenannte Faurisson Affäre: https://en.wikipedia.org/wiki/Faurisson_affair.
[18] Sobald man vom Nationalsozialismus spricht, darf kaum mehr etwas hinzugefügt werden, um das Gemeinte zu erläutern. Man setzt sich sofort des Vorwurfs der Verharmlosung aus. Während Vergleiche in der Vergangenheit meist als überzogen kritisiert wurden, werden sie nun als Holocaust-Verharmlosung abgewiesen. Konnte man sich vor Jahren fragen, ob die Migrationspolitik der Pegida tatsächlich auf das Vernichtungsprogramm des Nationalsozialismus abgebildet werden darf, so setzt sich jetzt bereits jeder Vergleich mit Weimarer Verhältnissen dem Vorwurf der Verharmlosung des Holocaust aus.
[19] Nämlich GG Art. 5, Abs. 1.
[20] Siehe zu den Lügen auf PzZ Teil I und II.
[21] Der locus classicus hierzu findet sich bereits 140 Jahre vor Chomsky/Herman: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klass, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel der geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.“ (K. Marx, Fr. Engels, Die deutsche Ideologie, Kritik der neuesten deutschen Philosophie, MEW 3, S. 46).
[22] Zu Walter van Rossum findet sich auf PzZ das; Marcus Klöckner hat seine Medienkritik in mehreren Arbeiten ausgeführt z.B. in Sabotierte Wirklichkeit, oder: wenn Journalismus zur Glaubenslehre wird (2019)
[23] So auch der Titel des Buches von Anja Reschke von 2018. Anja Reschke ist Moderatorin des ARD Magazins Panorama und des NDR Medienmagazins ZAPP.
[24] Georg Restle, Plädoyer für einen werteorientierten Journalismus.
[25] So im Interview mit Der Spiegel vom 27. März 1995, 13/1995.
[26] Georg Restle, a.a.O.
[27] So Klaus Kocks in Cato vom 3. Mai 2021.
[28] Nicht selten reklamieren einen „wertorientierten Journalismus“ plötzlich Leute, die bisher die Wertorientierung als illiberal und reaktionär diffamiert haben. Die „Wertorientierung“ wurde noch vor kurzem mit dem Hinweis auf die Pluralität von Kulturen und die gesellschaftliche Bestimmung von Werten entwertet.
Andererseits gewinnt der Haltungsjournalismus gerade durch die Medienkrise an Bedeutung. Die z.T. prekäre Lage der festen freien „Aushilfs-Journalisten“ ohne feste Anstellung und dauerndem Anpassungsdruck führt, wie Michael Meyen zeigt, nun von vorneherein dazu, dass Personen, die ehemals im Journalismus tätig gewesen waren, in andere, weniger prekäre Jobs ausweichen und sich in den Medien diejenigen sammeln, denen es weniger um Statussymbole und Einkommen, sondern um die Umsetzung ihrer Ideale geht.
[29] Für diejenigen, die es multimedial und stark verknappt mögen, sei hier auf seine Vortrag verwiesen.
[30] Epochal Pierre Bourdieus Die feinen Unterschiede, Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft von 1979 (dt. 1982), die uns in den Achtzigern alle zu Bourdieuanern gemacht hatte. Auch sein Homo academicus (1988) ist eine vor allem empirisch eindrucksvolle Studie über die Besetzung und „Vererbung“ von akademischen Posten an Personen des immer gleichen sozialen Felds: die habituelle Kenntnis der „feinen Unterschiede“ ist entscheidend und setzt sich gegen Besetzungs- und Berufungsregeln durch.
[31] M. Meyen, a.a.O., S. 63.
[32] Diesen neutralen, eher zustimmenden Gebrauch gibt heute gelegentlich auch noch, etwa dann, wenn wir davon sprechen, dass wir für eine Sache ein wenig Propaganda machen sollten –
[33] A. Hitler, Mein Kampf, 1943, S. 200.
[34] J. Goebbels, Rede vom 16.9.1935: Wesen, Methode und Ziele der Propaganda, in: Goebbels Reden, hrsg. von H. Heiber, 1971, Bd. 1, S. 240.
[35] So eine Tagesparole die Tagesparole vom 28. Juli 1937, zit. nach Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Art. Propaganda, Bd. 7, 285f.
[36] So nennt sie Hitler auch im entsprechenden Kapitel a.a.O., S. 193ff Auch Michael Meyen sieht die Schwierigkeit, dass der Propaganda-Begriff „nur schwer von Public Relations, Werbung oder Bildung abzugrenzen“ ist (a.a.O., S. 64).
[37] Wenn die Deutsche Welle mit jährlich 400 Millionen staatlich finanziert wird, um deutsche Botschaften in den Osten zu senden, dann gilt uns das natürlich nicht als Propaganda, sondern als freiheitliches Informationsangebot. Sender, die durch den russischen Staat finanziert werden, müssen dagegen als gefährliche Zersetzungspropaganda verstanden werden, denen keine Sendelizenzen gewährt und schon mal Bankkonten gekündigt werden.
[38] Wie sollten wir uns Propaganda im großen Stil denken, wenn wir unterstellen, dass alle, die sie verbreiten und stützen, ihr selbst nicht glauben. Die abertausenden Helfershelfer bei Presse, Funk und Fernsehen, die abertausenden Lehrer und Juristen, die in den entsprechenden mehr oder weniger totalitären Staaten Propaganda verbreiten oder sich willig unterwerfen – sollten sie alle von ihrer Böswilligkeit zum Lügen getrieben sein? Alles, was östlich des Eisernen Vorhangs gedacht wurde, war Propaganda, also bewusste Leugnung der westlichen Wahrheiten? Oder nehmen wir den Iran, Kuba oder China? Natürlich gibt es immer Mitläufer und deren Anzahl mag gar nicht so gering sein. Mitläufer stärken durch schweigende Zustimmung die Propaganda, sie machen sie aber nicht.
[39] B. Stegemann, a.a.O., S. 32.
[40] B. Stegemann, a.a.O., S. 260.
[41] B. Stegemann, a.a.O., S. 125.
[42] B. Stegemann, a.a.O., S. 104.