Faust: „Hinaufgeschaut!“

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Ja, worum geht es in Goethes Faust? Ich hatte mich damals gleichsam politisch genähert und mit der Unterstützung eines Großen, nämlich Ernst Bloch (1885-1977). Alles stand auf Aufbruch und da stand, nein kämpfte Faust natürlich auf der gleichen Seite. Und Bloch meinte, das sei letztlich philosophisch begründet.[1]

Literatur oder Philosophie?

Gibt es so etwas wie eine „philosophische“ Lehre im Faust? Gernot Böhme glaubt das und hat dazu ein schönes Buch geschrieben: Goethes Faust als philosophischer Text.[2] Eine zeitlang hat die Theorie der Postmoderne alles in (schöne) Literatur aufgelöst und philosophische Texte wie die Hegelsche Phänomenologie als Roman gelesen. Gernot Böhme sieht den Faust umgekehrt in der Tradition philosophischer Lehrgedichte wie Ovids Metamorphoses oder Lukrezs De rerum natura. Die literarische Form dient zur „schönen“ Ansicht schwieriger philosophischer Überlegungen: so verkauft Lukrez publikumswirksam den Epikureismus, in Dantes Göttlicher Komödie kommt die Scholastik zur Darstellung und in Schillers Dramen und Gedichten findet sich Kantisches. Einen literarischen Text als philosophischen zu verstehen, wird philosophisch aber nur dann bedeutsam, wenn er nicht nur die philosophische Theorie in schickem literarischem Kleid ist, sondern nur die literarische Form den philosophischen Gehalt hervorzubringen vermag. Platons Dialoge, wahrlich literarische Meisterstücke, dienen nicht der Vermittlung einer „ungeschriebenen Lehre“, die den eigentlichen Kern der „esoterischen“ Philosophie Platons ausmacht.[3] Die Dialoge führen selbst vor, um was es in der Platonischen Philosophie und ihrem Nachvollzug geht. Der Dialog steht nicht für, sondern ist selbst Philosophie. Beim Faust hieße das, Philosophie wäre dramatisch, der philosophische Inhalt bedürfte selbst einer Tragödie.[4]

„Grau ist alle Theorie“

Wenn wir so auf den Faust gucken, welche Lehre könnte uns dann der Faust nahelegen, die selbst ein dramatischer Vorgang ist. Paradox formuliert ließe sich sagen: seine Lehre ist, dass die Lehre nichts und das Leben alles ist. „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie / und grün des Lebens goldner Baum.[5] Fausts Streben nach unbedingtem Wissen von dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, führt ihn aus der Studierstube ins Leben. Um zu erkennen, muss man „sich lebend auf die Welt einlassen“.[6] Böhme unterscheidet vier Formen des Wissens bei Goethe und im Faust: Das Gelehrtenwissen, die moderne Naturwissenschaft, die Magie und die Selbsterfahrung. Natürlich läuft alles auf das „Erkenne Dich selbst“, das delphische γνῶθι σεαυτόν, hinaus. Faust durchläuft diese Wissensstufen und wir mit ihm. Die scholastische Studierstube wird dem „Schriftgelehrten“ zum Kerker des Nicht-Wissens und lässt ihn verzweifeln. Das akademische Wissen ist irgendwie hohl, „tatfern“ und unwirklich. „Beschränkt von diesem Bücherhauf“ umgibt ihn „statt der lebendigen Natur, / Da Gott die Menschen schuf hinein,“ nur „Tiergeripp und Totenbein“. Das gespeicherte Wissen muss mit wirklichen Erfahrungen verbunden werden und ist er nur in lebendiger Selbsterfahrung wirkliches Wissen.

Makrokosmos

Aber ein Buch führt ihn schließlich zu einer anderen Form des Wissens, nämlich der Magie.

Flieh! Auf! Hinaus ins weite Land!
Und dies geheimnisvolle Buch,
Von Nostradamus’ eigner Hand,
Ist dir es nicht Geleit genug?
Erkennest dann der Sterne Lauf,
Und wenn Natur dich unterweist,
Dann geht die Seelenkraft dir auf;
Wie spricht ein Geist zum andern Geist.
[7]

Das mag für unsere Ohren etwas merkwürdig klingen. Welche Rolle die magischen Geister spielen wird im Kontrast zur neuzeitlichen, empirisch-mathematischen Wissenschaft deutlich. Sie gilt Faust, seinem Schöpfer Goethen gemäß, nicht viel. Goethe sieht im Streit mit Newton um die Farbenlehre in der Naturwissenschaft keine wahrheitsversichernde Kraft. Sie erwirkt ihre Erkenntnisse durch Experimente, Zwangsmitteln, die mit der Folter verglichen werden.

Ihr Instrumente freilich spottet mein,
Mit Rad und Kämmen, Walz’ und Bügel:
Ich stand am Tor, ihr solltet Schlüssel sein;
Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht den Riegel.
Geheimnisvoll am lichten Tag
läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag;
Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.
[8]

Experimente zeigen die Natur nicht wie sie ist, sondern wie sie hergestellt werden kann. Die wahre Natur entzieht sich dem methodischen Zwang der Wissenschaft. Ihre experimentellen Erkenntnisse entsprechen der Wahrheit nicht mehr als unter Folter erpresste „Geständnisse“. Sie verdanken sich der Gewalt, nicht dem, was sich von sich her zeigt und offenbart. Naturwissenschaft vergegenständlicht die lebendige Natur zu einem toten Objekt der Untersuchung.

Kolonisierung

Im Faust II nimmt das die Form der Beherrschung der Natur an. Faust empört sich über die Nutzlosigkeit von Ebbe und Flut:

Was zur Verzweiflung mich beängstigen könnte,
Zwecklose Kraft unbändiger Elemente!
Da wagt mein Geist, sich selbst zu überfliegen;
Hier möcht’ ich kämpfen, dies möcht’ ich besiegen.
[9]

Er beschließt ein landgewinnendes Kolonisierungsprojekt und verpflichtet Mephisto es zu befördern. Alles folgt einer technischen Sozialutopie, die in Abwandlung des Spruchs von Mephisto, „jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft“, kein gutes Ende nimmt. Die Landgewinnung bringt nicht nur die Natur in Gestalt des Neptun gegen ihn auf; er wird von der Sorge geblendet und das Unternehmen endet für die Betroffenen tödlich. Mit Bedacht greift Goethe auf die Geschichte von Philemon und Baucis zurück, die von den Göttern wegen ihrer Gastfreundschaft vor dem Untergang verschont werden. Bei Faust müssen sie sterben und der Maschinen-Moderne weichen.

Der künstliche Mensch

Die technische Hybris kommt zu ihrem Gipfel in der Erschaffung eines künstlichen Geist-Wesens, des Homunculus. Der Szene geht ein Dialog zwischen Mephisto und einem Baccalaureus voraus, der gegenüber dem Alten ein neues, schaffendes Wissen preist:

Dies ist der Jugend edelster Beruf!
Die Welt, sie war nicht, eh ich sie erschuf;

Wer, außer mir, entband euch aller Schranken
Philisterhaft einklemmender Gedanken?
Ich aber …
…wandle rasch, im eigensten Entzücken,
Das Helle vor mir, Finsternis im Rücken.

Erzeugung des Homunculus

Im Laboratorium trifft Mephisto dann auf Wagner, der gerade dabei ist im Zuge dieses neuen Wissens, den Homunculus zu erschaffen:

WAGNER:
Willkommen zu dem Stern der Stunde!
Doch haltet Wort und Atem fest im Munde,
Ein herrlich Werk ist gleich zustand gebracht.
MEPHISTOPHELES:
Was gibt es denn?
WAGNER:
Es wird ein Mensch gemacht.
MEPHISTOPHELES:
Ein Mensch? Und welch verliebtes Paar
Habt Ihr ins Rauchloch eingeschlossen?
WAGNER:
Behüte Gott! Wie sonst das Zeugen Mode war,
Erklären wir für eitel Possen.
Der zarte Punkt, aus dem das Leben sprang,
Die holde Kraft, die aus dem Innern drang
Und nahm und gab, bestimmt, sich selbst zu zeichnen,
Erst Nächstes, dann sich Fremdes anzueignen,
Die ist von ihrer Würde nun entsetzt;
Wenn sich das Tier noch weiter dran ergetzt,
So muß der Mensch mit seinen großen Gaben
Doch künftig höhern, höhern Ursprung haben.
[10]

Der Homunculus ist eine Geistgeburt. Er ist „ein Hirn, das trefflich denken soll“ und lebt im Laborglas. Er/es ist irgendwie schon fertig und quatscht auch gleich altklug los:

Nun Väterchen! Wie steht’s? es war kein Scherz.
Komm, drücke mich recht zärtlich an dein Herz,
Doch nicht zu fest, damit das Glas nicht springe.
Das ist die Eigenschaft der Dinge:
Natürlichem genügt das Weltall kaum,
Was künstlich ist, verlangt geschlossenen Raum.
[11]

Die Welt des Homunculus

Um recht zu leben braucht es einen Leib. Nach ihm sehnt sich die Kunstgeburt.

Ich schwebe so von Stell’ zu Stelle
Und möchte gern im besten Sinn entstehn, …
[12]

Schließlich wird er von Thales, dem Vertreter des Wassers, zu Proteus geführt, dem Wandlungsfähigen, dem „Wundermann“, der weiß „wie man entstehen und sich verwandeln kann“. Es ist ein merkwürdiges Geschehen, in dem der künstliche „Knabe“ „wünscht weislich zu entstehen“. Auch Proteus ist verblüfft:

PROTEUS:
Ein leuchtend Zwerglein! Niemals noch gesehn!
THALES:
Es fragt um Rat und möchte gern entstehen.
Er ist, wie ich von ihm vernommen,
Gar wundersam nur halb zur Welt gekommen.
Ihm fehlt es nicht an geistigen Eigenschaften;
Doch gar zu sehr am greiflich Tüchtighaften:
Bis jetzt gibt ihm das Glas allein Gewicht,
Doch wär er gern zunächst verkörperlicht.
PROTEUS:
Du bist ein wahrer Jungfernsohn,
Eh du sein solltest, bist du schon!
[13]

Der Homunculus braucht um wirklich und d.h. tatkräftig wirklich zu sein einen Leib, den er durch tausend Wandlungen erwerben muss. Wirklich wird „Geist“ durch Verkörperung, Leibhaftigkeit, und durch die Wandlung, die ihn auszeichnet. Er wird, was er sein soll, durch Wandlung und „Selbstbildung“, die die Formenwelt des Lebens – wir würden heute wohl von Evolution sprechen – durchläuft:

Gib nach dem löblichen Verlangen,
Von vorn die Schöpfung anzufangen!
Zu raschem Wirken sei bereit!
Da regst du dich nach ewigen Normen
Durch tausend, abertausend Formen,
Und bis zum Menschen hast du Zeit
.“[14]

Lebendig wird die Welt des Geistes nur in Auseinandersetzung mit der Natur, in der er sich wandelt und entwickelt. Das Experiment mag glücken, es versichert aber weder Wahrheit noch Glück. Die Stärke des Experiments ist seine künstliche Begrenzung. Der Homunculus „lebt“ nur im und fürs Labor. Will er wirklich leben und d.h. sich als lebend erleben, muss er die künstliche Begrenzung überwinden und die Selbsterfahrung in der Erfahrung der Welt machen. So wird der Geist des Homunculus schließlich dem Element der Wandlung, dem Wasser übergeben. Das Glas zerschlägt an Galatees Muschel und der „Geist“ wird im Meer seine werdende Wandlung erleben. Wirkliches Wissen ist Selbsterfahrung an der Welt, die durch einen Herstellungsprozess nicht ersetzt werden kann.

Die Magie des Wissens

Im Faust dient die Magie als Kontrast zur technischen Naturwissenschaften. Sie objektiviert nicht, in ihr spricht Geist zu Geist. Magie ist die „Wissensform“ der Offenbarung, dessen was sich einfach zeigt, ohne dass wir von den Gründen wüssten. Mit Blick auf das Zeichen des Makrokosmus in Nostradamus Buch erwacht Faust aus der Verzweiflung, in die er durch totes Wissen geraten war:

Ha! Welche Wonne fließt in diesem Blick
Auf einmal mir durch alle meine Sinnen!
Ich fühle junges, heil’ges Lebensglück
Neudglühend mir durch Nerv’ und Adern rinnen.
War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb,
Die mit geheimnisvollem Trieb
Die Kräfte der Natur rings um mich her enthüllen?
Bin ich ein Gott? Mir wird so licht!
Ich schau in diesen reinen Zügen
Die wirkende Natur vor meiner Seele liegen.
Jetzt erst erkenn ich, was der Weise spricht:
Die Geisterwelt ist nicht verschlossen;
Dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot!
Auf, bade, Schüler unverdrossen
Die ird’sche Brust im Morgenrot!‘
[15]

Der Magie entspricht z.B. die Alchemie: man „experimentiert“ indem man Stoffe zusammenbringt oder erhitzt und wahrnimmt, was geschieht. Sie hat keine experimentellen Hypothesen – allenfalls die überlieferten Erfahrungen vorausgehender Alchemisten. Magie und Alchemie durchzieht den ganzen Faust. Und die Selbsterfahrung, die Faust an der Hand des teuflichen Magiers Mephisto macht, ist selbst eine „alchemistische“ Erfahrung des eigenen Lebens.

Am magischen Bild glaubt er zu erkennen, „wie alles sich zum Ganzen webt, / Eins in dem andern wirkt und lebt“. Es ist freilich nur ein Bild, ein „Schauspiel nur“. Er muss hinaus ins wirkliche Leben der Natur. Doch am Bild gewinnt er die Orientierung fürs eigentliche Erkennen, die Selbsterfahrung des Lebens:

Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen,
Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen,
Mit Stürmen mich herumzuschlagen
Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen.

Ha! Wie’s in meinem Herzen reißt!
Zu neuen Gefühlen
All meine Sinnen sich erwühlen!
Ich fühle ganz mein Herz dir hingegeben!
Du mußt! Du Mußt! Und kostet’ es mein Leben!
[16]

„Hinaufgeschaut!“

Die Suche nach Erkenntnis braucht Erfahrung, wirkliche Begegnung. Fausts Weg führt aus der Studierstube in die umgebende Welt, in die Natur der Vielfalt von Lebensformen und Kräften. Die gesuchte Erfahrung ist nicht Bestätigung oder Widerlegung einer Lehrmeinung oder gar von (methodisch-technischen) Hypothesen, sondern die Öffnung für die Offenbarung der Natur im Reichtum ihrer Formen.

Es gibt eine Schlüsselstelle gleich zu Anfang des zweiten Teils des Faust, an diese Überzeugung eindrucksvoll formuliert. Es ist das erste, was der herumirrende Faust nach der Gretchentragödie zum Ausdruck bringt und ihn gleichsam ins neue Leben zurückführt.

Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig,
Äterische Dämmerung milde zu begrüßen;
Du, Erde, warst auch diese Nacht beständig
Und atmest neu erquickt zu meinen Füßen,
Du regst und rührst ein kräftiges Beschließen,
Zum höchsten Dasein immerfort zu streben.

Und anders als der an seiner Unwissenheit verzweifelnde Gelehrte sieht er nun „in Dämmerschein … die Welt erschlossen“ und „der Wald ertönt [ihm] von tausendstimmigen Leben“.

Hinaufgeschaut! – Der Berge Gipfelriesen
Verkünden schon die feierlichste Stunde,
Sie dürfen früh des ewigen Lichts genießen,
Das später sich zu uns hernieder wendet.
Jetzt zu der Alpe grüngesenkten Wiesen
Wird neuer Glanz und Deutlichkeit gespendet,
Und stufenweis herab ist es gelungen; –
Sie tritt hervor! – und leider schon geblendet,
Kehr ich mich weg, vom Augenschmerz durchdrungen.

Hier müssen wir wohl auf jedes Wort und jeden Wink achten. „Hinaufgeschaut!“ mit Ausrufezeichen als klare Weisung formuliert. Das „ewige Licht“ ist zu „genießen“ (frui nicht uti), das seinen „Glanz“ freilich nur „stufenweis“ gewährt. Das reine Licht es blendet und zwingt zur Abkehr – oder besser zu einem zweiten Weg.[17]

So ist es also, wenn ein sehnend Hoffen
Dem höchsten Wunsch sich traulich zugerungen,
Erfüllungspforten findet flügeloffen;
Nun aber bricht aus jenen ewigen Gründen
Ein Flammenübermaß, wir stehn betroffen;
Des Lebens Fackel wollten wir entzünden,
Ein Feuermeer umschlingt uns, welch ein Feuer!
Ist’s Lieb? Ist’s Haß? die glühend uns umwinden,
Mit Schmerz und Freuden wechselnd ungeheuer,
So daß wir wieder nach der Erde blicken,
Zu bergen uns in jugendlichstem Schleier.

Die offenen „Erfüllungspforten“ erlauben uns keinen direkten Eintritt, so sehnlich wir es hoffen. Die höchsten Höhen führen uns zurück zur Erde.

So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!
Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend,
Ihn schau ich an mit wachsendem Entzücken.
Dann abertausend Strömen sich ergießend,
Hoch in die Lüfte Schaum an Schäume sausend,
Allein wie herrlich, diesem Sturm ersprießend,
Wölbt sich des bunten Bogens Wechseldauer,
Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend,
Umher verbreitend duftig kühle Schauer.
Der spiegelt ab das menschliche Bestreben.
Ihm sinne nach, und du begreifst genauer:
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben
.“

Es ist kein Makel, kein beklagenswerter Zustand. Es ist der dem Menschen eigene Zugang zum Höchsten. Es ist das Höchste selbst, sich in der Vielfalt des Lebens zu sich selbst erheben. Was ist und was wir sind haben wir am „farbigen Abglanz“, an „des bunten Bogens Wechseldauer“, nicht an einem glanzlos-starren, metaphysisches Hinter-Wesen, das uns– unter Absehung aller unserer (Selbst-)Erfahrung – nur blind (für uns selbst) machen kann. In Maximen und Reflexionen formuliert Goethe das mit Blick auf die Farbenlehre so:

Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Pänomenen: sie selbst sind die Lehre.“[18]

Gernot Böhme nennt das „Goethes Phänomenalismus“: „Es gibt nicht irgend etwas hinter den Phänomenen, das die Phänomene erklären könnte, es kommt vielmehr darauf an, das Erscheinen des Erscheinenden selbst zu beschreiben…[19]

Es geht um das Sich-Verstehen in einer Welt, die erfahrend gelesen werden will. Lesen braucht Erfahrung und zielt auf die „lesende“ Sammlung (Lese), der Vielfalt des Begegnenden; Erfahrung ist ein Lesen der Natur als etwas Geistiges; ein lesendes Erfahren, das die „Phänomene“, also die Begegnung mit dem Reichtum von Natur- und Lebensformen ernst nimmt und sich in ihnen erkennt. Das Hinausgehen aus der Studierstube ist ihre Erweiterung ins Leben. Die Welt ist wie schöne Literatur. Sie will in ihrer Vielfalt gelesen werden und genossen werden.

Phänomenologie des Geistes

Ob wir das mit Gernot Böhme die philosophische Lehre Faust nennen wollen, sei dahingestellt. Goethe vergegenwärtigt „dramatisch“ die Bewegung des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses. Bloch versteht Goethes Faust mit Blick auf die Hegelsche Phänomenologie in ähnlicher Weise. Die Wahrheit zeigt sich im Durchgang durch die Formen des Wissens und nur in diesem verstehenden Durchlaufen wird Wissen wirklich Wissen. Mit der Marxschen Kritik der Hegelschen Dialektik wird dieses Verstehen „praktisch“, zur wirklichen Auseinandersetzung mit der Welt. Es gibt kein wirkliches Wissen ohne die Wirklichkeit des Wissens, seiner „Begründung“ in der wirklichen, sozialen Erfahrung im Leben derer, die zu wissen behaupten. Wissen ist kein Wissen, wenn es sich nicht beweist. Wissen beweist sich freilich nicht in der technischen Bewährung; es ergreift sich im Erlebnis der Selbsterfahrung des Geistes, dem Verstehen.

[1] Kunst und Literatur sind bei Bloch „methodische Organe fürs Neue, objektive Aggregatzustände des Heraufkommenden“. Alle Kunstwerke, alle großen (!) wie Bloch einschränkt (?), sind utopisch. Und Goethes Faust ist es „explicite“. „Geist der Utopie ist im letzten Prädikat jeder großen Aussage, im Straßburger Münster und in der Göttlichen Komödie, in der Erwartungsmusik Beethovens und in den Latenzen der h-Moll-Messe. … Exakte Phantasie des Noch-Nicht-Bewußten ergänzt derart gerade die kritische Aufklärung, indem sie das Gold sehen läßt … und den guten Inhalt, der gültigst übrigbleibt, ja aufsteigt, wenn Klassenillusion, Klassenideologie vernichtet worden sind… Utopische Funktion entreißt die Angelegenheiten der menschlichen Kultur solchem Faulbett bloßer Kontemplation; sie öffnet derart, auf wirklichen gewonnenen Gipfeln, die ideologisch unverstellte Aussicht auf den menschlichen Hoffnungsinhalt.“ (E. Block, Prinzip Hoffnung, 1959, S. 180) Faust begleitet den Leser unentwegt durchs Hauptwerk Blochs und kommt dann als „Leitfigur der Grenzüberschreitung“ in Kapitel 49 ausführlich zu Wort (S. 1.175ff und insbes. S. 1.188 – 1.201).

[2] 2005 erschienen in der Grauen Edition.

[3] Insbesondere die Tübinger Schule meinte die „ungeschriebenen Lehre“ Platons aus seinen Dialogen rekonstruieren zu können. Das ist philosophiegeschichtlich insbesondere mit Blick auf den einflussreichen hellenistischen Neuplatonismus bedeutsam. Methodisch allerdings nicht unproblematisch, weil man die Texte nur als Verpackung betrachtet, von der man auf den Inhalt des Geschenks schließen muss. Ist die Schönheit einer Landschaft aber nur „Verpackung“ geologischer Wahrheit und der Horizont nur Bezugsgröße für die Messung der Erdkrümmung? Platons Dialoge sind nicht deshalb Philosophie, weil sich in ihnen etwas versteckt, und sei es eine große, geheime Wahrheit. Sie zeigen selbst, was es heißt zu philosophieren. Aber das ist ein weites Feld…

[4] Goethe gibt seinem „Faust“ den Titel: Faust, Eine Tragödie.

[5] I, Studierzimmer.

[6] Böhme, a.a.O., S. 26.

[7] I, Nacht V. 418ff.

[8] I, Nacht, V. 665-675.

[9] II, 4, Hochgebirg, V. 10215ff. – Hervorhebung: HL.

[10] II, 2, Laboratorium, V. 6832ff. (Hervorhebung: HL). Das nennt sich heute Transhumanismus (H+) und fühlt natürlich die „Verpflichtung zum Fortschritt“. Er vertritt eine transhumane Ethik, wohl nicht zuletzt deshalb, weil er mit der humanen nicht zurecht kommt.

[11] II, 2, Laboratorium, V. 6878ff.

[12] II, 2, Klassische Walpurgisnacht, Am obern Peneios, V. 7830ff.

[13] II, 2, Klassische Walpurgisnacht, Felsbuchten des Ägäischen Meers, V. 8248ff.

[14] II, 2, Klassische Walpurgisnacht, Felsbuchten des Ägäischen Meers, V. 8320ff.

[15] I, Nacht V. 430ff.

[16] I, Nacht V. 470ff.

[17] Platon sprach von der zweiten Ausfahrt, der philosophischen, die für die Sterblichen notwendig ist, das Wahre zu erkennen.

[18] Zit. nach Böhme, a.a.O., S. 101f.

[19] Böhme, a.a.O., S. 102.