Wir lieben unsere Kinder und wollen, dass es ihnen gut geht. Dafür sind wir viel zu geben bereit. Die Sache ist freilich gar nicht so einfach. Was müssen wir ihnen mitgeben, damit sie es guthaben und ihr Leben glücklich führen können? Dem geht Platon im Dialog Euthydemos nach.
Wer ist das? …
Der Dialog Euthydemos ist ein eher unbekannter Dialog Platons und wird nicht zu seinen Meister-Dialogen gerechnet. Aber er ist wie alle Platon Dialoge kunstvoll komponiert und verknüpft in einem Rahmengespräch zwei andere Gespräche, die in direkter Rede berichtet werden. Es beginnt vergleichsweise unvermittelt mit einer Frage: „Wer war das, mit dem Du gestern im Lykeion gesprochen hast?“ Gestellt wird sie von einem engen Vertrauten des Sokrates, Kriton, einem reichen Bürger aus demselben Demos wie Sokrates. Wir kennen Kriton aus anderen Dialogen. Platon hat Kriton einen eigenen, überaus wirkungsmächtigen Dialog gewidmet, in dem dieser Sokrates zu überzeugen versucht, aus dem Gefängnis zu fliehen. In der Apologie wird er als der erste derer genannt, die für Sokrates ein Lösegeld bereitstellen wollten und im Phaidon ergeht an ihn das letzte Wort.[1] Der Dialog führt uns also in den inneren Kreis der Sokrates-Vertrauten und wir dürfen erwarten, dass Kriton etwas für ihn Bedeutsames zu erfahren sucht.
„Wer war das?“ (τίς ἦν) fragt Kriton gleich zweimal und zeigt damit sein starkes Interesse an dem, was sich da am Vortag im Lykeion, abgespielt hat. Im Lykeion traf man sich – vor allem die Jugend – zu sportlichen Übungen und es bildete den Rahmen für allerlei Zusammenkünfte und Diskussionen. Hier konnten sich z.B. Sophisten aus anderen Städten präsentieren und ihre Dienste anbieten. Kritons Interesse war durch die zusammengeströmte Menge geweckt worden, vor allem aber nahm mit Kleinias und seinen Freunden der Nachwuchs der high society an dem Gespräch teil. Also war es allemal interessant, was dort verhandelt wurde. Kriton konnte aber wegen des starken Gedränges nichts Genaues verstehen.
Wir werden im Laufe des Dialogs erfahren, dass sein Interesse vor allem wegen der Ausbildung seines Sohnes, Kritobulos, geweckt wurde. Auch Kritobulos begegnet uns in anderen Dialogen Platons. Im Phaidon begleitet gemeinsam mit seinem Vater Sokrates in seinen letzten Stunden und er nimmt (passiv) auch am Dialog Lysis teil, der ebenfalls dort spielt, wo sich die Kämpfer umkleiden. Kritobulos scheint es dorthin zu ziehen – er liebt offenbar den „Umgang“ mit anderen jungen Männern und wird besonders von Kleinias „angezogen“. Kleinias entstammt einem der vornehmsten Adelsgeschlechter, blaublütiger kann man nicht sein. Was für ihn gut ist, das kann auch für Kritobulos nicht schlecht sein.
… mit welcher Weisheit?
Also, „Wer war das“, der sich um Kleinias bemüht hat. Sokrates korrigiert: er habe nicht mit einem, sondern mit zweien, nämlich den Brüdern Euthydemos und Dionysodoros gesprochen. Die Namen sagen Kriton nichts. Und seine nicht gerade von Wertschätzung getragene Vermutung, es seien wohl wieder mal „neue Sophisten“ (καινοί σοφισταί), führt ihn schließlich zur Frage, „welche Weisheit“ (τίς ἡ σοφία) es denn diesmal sei, für die sie (als Sophisten) stünden.[2] Man könne nur stauen, es seien „schlicht Alleswisser“ (πάσσοφοι ἀτεχνῶς). Kriton und wir Leser wissen damit, dass Sokrates ihrem Wissen nicht allzu viel zutraut. Wer alles zu wissen vorgibt, weiß tatsächlich nichts, denn er weiß nicht, was Wissen als Wissen auszeichnet.[3] Es seien wahre Kunstfechter, die nicht nur wie die Pankratisten (παγκρατιασταί) den Ring- und Faustkampf beherrschten, sind sie auch Meister im Fechten und im „Kampf vor Gericht“ (ἡ μάχη ἐν τοῖς δικαστηρίοις). „Denn auch in dem Kampf, der ihnen noch unversucht war, haben sie sich jetzt so eingeübt, daß auch nicht einer sich gegen sie auch nur wird erheben können, solche Meister sind sie geworden, im Gespräch zu streiten und zu widerlegen, was jedesmal gesagt wird, gleichviel ob es falsch ist oder wahr.“[4] Sie beherrschen meisterlich „alles, was zum Kriege gehört“[5] und beim Krieg geht’s um den Sieg, nicht um Wahrheit: right or wrong, it’s my country.
Euthydemos und Dionysodoros rücken das freilich – sich lustig machend – zurecht: Die Kunst des Kampfes ist nicht mehr der eigentliche Gegenstand und wird nur „beiläufig“ angeboten. Nun sei ihr Geschäft „die Tugend“[6] und wie sie „jedem aufs bestes und schnellste“ zukommen kann. [7]
Um Philosophie bemühen und Fleiß auf die Tugend wenden
Sokrates gibt sich begeistert und bittet sie zu „zeigen, was ihre Weisheit eigentlich vermöge“.[8] Das tun sie – als Verkaufsshow – gerne, sie seien schließlich gekommen, „um sie zu zeigen und zu lehren, wenn jemand lernen will“.[9] Und es scheint sich hier mit Kleinias und seinem Gefolge eine ideale Gelegenheit zu ergeben, große Geschäfte zu machen.[10]
Sokrates versichert sich, ob sie auch den zu einem „guten Mann“ (ἄνδρα ἀγαθὸν) machen können (ποιεῖν), der an ihrem Versprechen noch Zweifel hat oder unsicher sei, ob Tugend überhaupt lehrbar ist.[11] „Das glauben wir allerdings“, versichern sie.
Damit bekommt das Gespräch seine protreptische Ausrichtung: die beiden Sophisten müssen nicht nur glaubhaft machen, dass sie die Tugend zu lehren vermögen; sie müssen zunächst und hier vor allem zeigen (!), „dass man sich um die Philosophie bemühen und Fleiß auf die Tugend wenden müsse“ (ὡς χρὴ φιλοσοφεῖν καὶ ἀρετῆς ἐπιμελεῖσθαι).[12] Sie müssen zur Philosophie (!?) motivieren.
Ein erster Einschnitt ist erreicht: Man hat sich auf das Ziel des Gesprächs verständigt und es kommt nun für die „vielversprechenden“ Brüder alles darauf an, zu zeigen, wie sie es umsetzen können. Sokrates unterbricht deshalb seine Erzählung, um auf die Verlässlichkeit seiner Erzählung zu reflektieren: „Was also nun folgt, o Kriton, wie soll ich dir das nur gut genug erzählen? Denn wahrlich, es ist keine kleine Sache, so unerdenklich tiefe Weisheit ordentlich und gehörig wieder vortragen zu können, so daß ich, wie die Dichter, wohl nötig habe, beim Anfang der Erzählung die Musen anzurufen und die Mnemosyne.“[13] Er muss sich auf das Bedeutsame konzentrieren. Die Konstruktion des Gesprächs im Gespräch erlaubt es, dem Leser den Handlungskontext zu vermitteln und eine Einordnung des Berichteten zu geben.
Was nun folgt ist eine Vorführung sophistischer Argumentation, genauer des Elenchos (ἔλεγχος), der über die Beantwortung geschlossener Fragen, den Befragten zum Gegenteil des ursprünglich Behaupteten führt: „Welche von beiden unter den Menschen sind denn, die welche lernen, die Klugen oder die Dummen.“ Wir ahnen, dass dem unerfahrenen Kleinias im Kreisel der Mehrdeutigkeit von Ausdrücken schnell schwindlig wird: natürlich lernen die Klugen, aber sie tun dies als Dumme, sonst müssten sie ja nicht lernen. Sokrates, der Kleinias zu einer freimütigen Antwort ermuntert, wird von Dionysodoros unter vorgehaltener Hand vorgewarnt, dass Kleinias egal, was er zunächst antwortet, „zu Schanden gemacht“ wird – so die etwas martialische Übersetzung von ἐξελέγχω .[14] Alles ist einstudiert. Euthydemos und Dionysodoros führen Kleinias vor: sie zielen auf den Beifall der Umstehenden und ihr Gelächter, das der vorgeführte Kleinias ertragen muss.[15]
Nach zwei Durchgängen schreitet Sokrates ein. Er versucht Kleinias zu beruhigen und gibt vor, Euthydemos und Dionysodoros hätten mit ihm nur Scherz getrieben, um ihm zu zeigen, dass „man den richtigen Gebrauch der Worte“[16] lernen müsse. Ein Wort kann in unterschiedlichen Verwendungen eben Unterschiedliches bedeuten und darauf müsse man Acht haben. Nun aber sollen sie ihre Kunst ernsthaft zeigen. Was er damit meine, wolle er vorführen, damit Euthydemos und Dionysodoros wirklich leisten, was sie versprochen haben, „nämlich sie wollten uns etwas zeigen von ihrer Kunst zum Streben nach der Tugend anzuregen“.[17]
Der sokratische Weg
Was nun folgt ist vielleicht das Kernstück des Euthydemos, nämlich der protreptische Dialog zwischen Sokrates und dem jungen Kleinias, der ihm und uns zeigt, worin das höchste Gut gesucht werden muss. Und da es um Tugend geht, beginnt das Gespräch mit der gemeinsamen Überzeugung, dass alle Menschen nach Glück streben: ἆρά γε πάντες ἄνθρωποι βουλόμεθα εὖ πράττειν[18] – alle wollen glücklich sein und sich wohl befinden.[19] Gut leben kann man – so scheint es – wenn man Güter hat. Und hier führt Sokrates die später klassischen Gütertypen der äußeren (Reichtum und „gesellschaftliches“ Ansehen), leiblichen (Gesundheit und natürliche Ausstattung) und seelischen Güter (erworbene Tugenden und Sinn fürs Schöne) an.
Aber Sokrates macht sich einen Einwand, den er freilich – nachdem Kleinias ihm zugestimmt hat (!) – gleich wieder zurücknimmt: „Beim Zeus, hätten wir doch bald das größte unter allen Gütern ausgelassen. – Welches doch? fragte er [Kleinias] – Das gute Glück (εὐτυχία), o Kleinias, welches alle, auch die ganz Schlechten für das Größte unter allen Gütern halten. – Du hast recht, sagte er. – Da besann ich mich wieder anders und sagte: Beinahe hätten wir uns lächerlich gemacht vor diesen Fremden, ich und du …“[20]
Natürlich kann Kleinias damit nichts anfangen. Uns Lesern aber zeigt es etwas – und Kriton hätte es auch sehen sollen –, das gar nicht behauptet werden kann, sich vielmehr nur in der Erzählung über das Gespräch selbst zeigt: es geht darum den Gesprächspartner mitzunehmen und das Gespräch an ihm auszurichten. Weiß Kleinias um die Mehrdeutigkeit von Glück? Sokrates beweist darin seine Kunst der Gesprächsführung, in dem er diese Mehrdeutigkeit nicht als Trick für die schnelle Erledigung der gestellten Aufgabe benutzt, sondern sie aufklärt, um zu einer wirklichen Verständigung mit Kleinias zu kommen.
Im Deutschen nämlich bezeichnet Glück ein glückliches Ereignis, z.B. Glück im Spiel, und die Stimmungslage einer Person: man kann Glück haben oder glücklich sein.[21] Wenn also vom Glück die Rede ist, dann scheinen die glücklichen Umstände, die wir vorfinden, für unsere Gemütslage von großer Bedeutung zu sein. Wer viel Glück hat im Leben, den werden wir auch glücklich heißen können: das Glück (εὐτυχία) scheint fürs Glück (εὖ πράττειν) besonders wichtig. Weil Kleinias zustimmt, weiß Sokrates, dass er das Verhältnis von Glück und gutem Leben eigens besprechen muss. Und deshalb kontert Sokrates sich selbst mit der Behauptung, dass Weisheit (σοφία) ja selbst Glück (εὐτυχία) sei.[22] Das Glück winkt dem Tüchtigen und wir suchen unser Glück – z.B. bei der gefahrvollen Fahrt übers Meer – bei den Tüchtigen. Erstaunlich schnell stimmt Kleinias dem und dem fragwürdigen Zwischenergebnis zu: „Die Weisheit also macht, dass die Menschen in allen Dingen Glück haben. Denn nie wird Weisheit verfehlen, sondern notwendig richtig handeln und es erlangen. Denn sonst wäre es ja keine Weisheit mehr.“[23] Sie seien – meint Sokrates – schließlich einig geworden, „dass, wenn Weisheit da wäre, bei wem sie wäre, der keines guten Glückes weiter bedürfte“.[24] Die „Argumentation“ ist löchrig und wackelig und eigentümlich selbstreferentiell: Weisheit sei eben nur dann Weisheit, wenn sie „glücklich“ mache.
Das kann nicht zufriedenstellen. Sokrates weiß das und setzt deshalb nochmal ausdrücklich neu an – wieder ein Zeichen seiner Gesprächsführung, die sich von der, der sophistischen Brüder deutlich unterscheidet: „Nachdem wir nun hierin übereingekommen, befragte ich ihn noch einmal um das vorher Eingestandene, wie es wohl damit stände. Wir hatten nämlich eingestanden, sprach ich, wenn wir viele Güter hätten, dann würden wir glückselig sein und uns wohl befinden.“[25] Aber: Der Besitz vieler Güter macht nicht glücklich. Wer mit Gütern nichts anzufangen weiß, der wird nicht glücklich mit ihnen. „Wer also glücklich sein soll, der muß, wie es scheint, dergleichen Güter nicht nur besitzen, sondern auch gebrauchen, oder der Besitz wird ihm zu nichts nutz.“[26] Ohne den rechten, „glücklichen“ Gebrauch werden wir am Besitz von Gütern nicht froh. Güter, sind nicht an und für sich gut, sondern nur für den, der sie zu gebrauchen weiß.[27]
Glück zu haben ist in gewissem Sinne „gut“, weil es uns Güter beschert. Es ist es aber selbst kein „Gut“, über das wir verfügen könnten. Etwas tut uns gut[28] und dass es uns guttun kann, mögen wir glücklichen Umständen verdanken. Glück (εὐτυχία) ist ein Gut oder gar eines der größten (μέγιστον τῶν ἀγαθῶν) insofern es uns „Güter“ zuführt, nämlich etwas, das uns guttun kann. Wer Glück hat, muss aber nicht glücklich sein. Auch der Lotteriegewinn sichert kein Lebensglück – viele scheitern an ihm. Erst durch praktische Vernunft und sittliche Einsicht (φρόνησις καὶ σοφία) werden sie zu Gütern, „an und für sich sind sie nichts wert“.[29] Und so ergibt sich das bedeutsame Zwischenergebnis: „Da wir alle nämlich danach streben glückselig zu sein und sich gezeigt hat, daß wir dies werden durch den Gebrauch der Dinge und zwar den richtigen, diese Richtigkeit aber und das glücklich Gelingen uns die Erkenntnis zusichert, so muß demnach, wie man sieht, auf jede Weise ein jeder Mensch dafür sorgen, daß er so weise werde als möglich.“[30]
Was Euthydemos und sein Bruder zeigen sollten, das hat nun Sokrates im Gespräch vorgeführt: Kleinias zeigt sich überzeugt, dass zu philosophieren „notwendig“ ist (ἀναγκαῖον εἶναι φιλοσοφεῖν). Der Leser darf sich nun fragen, ob er das auch so sieht. Ich fürchte er wird sich distanziert zurückhalten. Wohin greifen Sie, wenn Ihnen beides angeboten wird: Platons Phaidon und eine Bündel Dollar-Scheine? Was würden Sie ihren Kindern mitgeben? Kriton jedenfalls, das wird der weitere Dialog ergeben, zeigt sich bei aller Nähe zur „sokratischen Bewegung“ wenig beeindruckt. Was er für seinen Kritobulos sucht, hat er noch nicht gefunden.
Was ist das: Philosophieren?
Nun bleibt freilich zu klären, was wir denn unter „Philosophieren“ und „nach Weisheit suchen“ zu verstehen haben. Wieder unterbricht Sokrates die Erzählung und reflektiert Kriton gegenüber auf seine Erwartung: er sei „sehr begierig“ gewesen „zu sehen, was nun hierauf folgen würde, und gab recht acht, auf welche Art sie die Rede angreifen und wobei sie anfangen würden, dem Jüngling zuzureden, daß er Weisheit und Tugend üben sollte“.[31] Es ist wohl als eine Regieanweisung für Kriton und uns Leser zu verstehen, nun selbst genau Acht zu haben.
Sokrates und durch ihn motiviert auch die Anwesenden erwarten nun endlich die in Aussicht gestellte Aufklärung durch die großsprecherischen Brüder. Die freilich flüchten sich wieder in begriffsspielerische Ausflüchte: ob Sokrates wirklich sicher sei, dass Kleinias weise werden solle. Denn das würde ja heißen, dass er nicht mehr der sein solle, der er jetzt ist und man seinen Untergang wolle.[32] Das aber könnten wahre Freunde von Freunden doch nicht wollen.
Diese als Witz getarnte Frechheit, die wieder auf die Schadenfreude der Zuhörer spekuliert, empört den um Kleinias bemühten Ktesippos. Aber – wir ahnen es schon – sein Vorwurf, die Fremden würden sich mit Lügen hervortun, läuft ins Leere. Euthydemos verwickelt ihn in einen Elenchos, ob es Lügen denn überhaupt gäbe. Ktesippos hält sich tapfer, ist den rhetorischen Tricks der geübten Sophisten allerdings nicht gewachsen.[33] Die Sache droht aus dem Ruder zu laufen. Sokrates greift beschwichtigend ein: er selbst würde als Unwissender gerne untergehen, wenn er schließlich als Wissender wieder erscheinen könnte (πάλιν ἀποφῆναι). Und so geht es in die nächste Runde sophistischer Zauberkunststücke, nämlich ob man überhaupt widersprechen könne und es Widersprüche überhaupt gebe.[34] Und auch Lügen, die ihnen vom empörten Ktesippos vorgehalten werden, seien gar nicht möglich. Natürlich wissen alle, dass es Lügen „gibt“. Gerade weil es alle wissen, kann sich die Kunst der beiden Sophisten großtun. Es geht ihnen nicht um die Wahrheit einer „Sache“. Ihre Sache ist vielmehr die Kunst mit den Selbstverständlichkeiten zu spielen. Das alles führt zu nichts als der Vorführung einer „Kunst“, die mit ihren Kunststücken zu beeindrucken sucht. Sie gleichen damit den Zauberern von der Kirmes: natürlich können sie nicht „wirklich“ zaubern, aber wir sind doch beeindruckt, wie sie aus einem leeren Zylinderhut ein Kaninchen herauszaubern und die in eine Kiste gesperrte, knapp bekleidete Assistentin verschwinden lassen konnten – was wir natürlich bedauern.
Begriffliche Zaubereien
Es geht den sophistischen Zauberkünstlern gar nicht darum, die Zuhörer von dem offensichtlich Absurden zu überzeugen, das sie vorbringen. Ihre Kunst zeigt sich ja gerade in dem spielerischen Umgang mit dem Absurden. Vom offensichtlich Absurden „kunstgerecht“ reden zu können, das rechnen sie sich als Leistung an. Das offensichtlich Sinnlose ernst zu nehmen, darin besteht gerade der Witz ihres Vortrags. Er zielt darauf, über diejenigen zu lachen, die Lächerliches ernst nehmen, sich darin zu verheddern und schließlich auf die Nase fallen. Was Ktesippos kritisiert, das halten sich die sophistischen Redekünstler durchaus selbstbewusst zugute: sie reden Erstaunliches (θαυμάσιά) und sorgen sich dabei nicht, „Unsinn zu reden“ (οὐδὲν μέλει τοῦ παραληρεῖν)! Dass sie von Sokrates – und später auch vom schnell lernenden Ktesippos[35] – mit ihren eigenen Waffen des Elenchos geschlagen werden, das stört sie nicht weiter. Es bestätigt sie in gewisser Weise: es geht eben nicht um die vorgebrachten „Dinge“ (Behauptungen),[36] die sind beliebig und auf ihre Wahrheit kommt es nicht an, sondern um die kunstvolle Verstrickung in „Widersprüche“, die zugleich geleugnet werden. Das Vorgetragene ad absurdum zu führen, mutet selbst absurd an. Wer dem Zauberer Tricks vorwirft, hat wohl wirklich ein Realitätsproblem. Die „Widerlegung“ hat etwas Künstliches und wird sofort damit gekontert, wie sie denn überhaupt möglich sein soll.
Besitz einer Erkenntnis
Die Situation droht wieder zu eskalieren. Sokrates greift erneut ein und bittet Euthydemos und Dionysodoros, Ihnen doch endlich ihre wahre Kunst zu zeigen und ihr Versprechen einzulösen, jeden der bereit sei, „zum Streben nach Weisheit und zum Fleiß in der Tugend aufzumuntern“.[37] Und er gibt vor, „ihnen selbst noch einmal vorzeichnen“ zu wollen,[38] was sie sich von den Sophisten erwünschen. Wir Leser wissen inzwischen, dass wir dies von Euthydemos und Dionysodoros nicht mehr erwarten dürfen. Stattdessen will Sokrates zeigen, auf was es beim Philosophieren ankommt, das Kleinias ja bereits als wichtigste Voraussetzung für ein gelingendes Leben anerkannt hatte: Man müsse Philosophieren und Philosophie sei doch „der Besitz einer Erkenntnis. Nicht so?“ Natürlich nicht! Aber Kleinias stimmt zu. Die Gesprächsführung zeigt, dass er noch nicht verstanden zu haben scheint, um was es eigentlich zu tun ist. Wie steht es mit den Zuhörern, Kriton und uns Lesern, lieber Leser? Wäre „Philosophie der Besitz einer Erkenntnis“ (ἡ φιλοσοφία κτῆσις ἐπιστήμης), dann könnte sie das Leben nur dann zum Gelingen führen, wenn mit dem Besitz zugleich der rechte Gebrauch des im Besitz Befindlichen gegeben wäre. Nicht der Besitz von Gütern, sondern ihr richtiger Gebrauch ist entscheidend. Noch einmal hebt Sokrates an: „Würde es uns etwas nutzen, wenn wir verständen herumzugehen und zu erkennen, wo das meiste Gold vergraben ist?“ Kleinias antwortet nicht ganz falsch mit „vielleicht“. Aber wir Leser können die sokratische Enttäuschung spüren: „Aber vorher, sprach ich, haben wir doch dieses erwiesen, daß es uns nichts hülfe … denn wenn wir nicht auch wüßten, das Gold zu gebrauchen, so würde es uns, wie sich gezeigt hatte, gar nichts nutz sein. Oder erinnerst du dich dessen nicht?“[39]
Kleinias behauptet, sich „sehr wohl“ zu erinnern (πάνυ), scheint sich über die Bedeutung dessen aber nicht recht klar zu sein. Natürlich kommt hier alles auf das Wörtchen „auch“ an. Besitz braucht Gebrauchswissen – aber Gebrauchswissen braucht etwas, das es gebrauchen kann.[40] Ohne Moos nichts los. Das Verführerische des sokratischen Beispiels gründet darin, dass es uns weit schwieriger zu sein scheint, Geld (oder Gold) zu erwerben als es (vernünftig) auszugeben. Es scheint sich von selbst zu verstehen, dass das Vermögen, Geld/Gold erwerben zu können, gut für uns sei.[41] Sokrates freilich beharrt auf dem Unterschied von Besitz von Gütern und ihrem Gebrauch. Nur ihr guter Gebrauch macht Dinge zu Gütern. Sie sind es nicht per se. Das gilt auch für unser Leben selbst: „Ja, auch nicht einmal, wenn es eine Kunst gäbe, unsterblich zu machen, ohne daß man wüßte die Unsterblichkeit zu gebrauchen, würde etwas nutz sein“[42] Man denke je nach Geschmack an unendliche Höllenqualen oder die nicht enden wollende Berieselung im öffentlich-rechtlichen Fernseh-Altenheim.
Damit scheiden die hervorbringenden Künste aus: sie stellen etwas her, das von anderen benutzt wird. Eine gute Gitarre ist gut für ein gutes Spiel. Wer das Gitarrenspiel freilich nicht beherrscht, der vermag auf der besten Gitarre nur zu klimpern. „Einer solchen Erkenntnis (ἐπιστήμη) also bedürfen wir, schöner Knabe, sprach ich, in welcher das Hervorbringen (τό ποιεῖν) und das Wissen, vom Hervorgebrachten Gebrauch machen zu können (τὸ ἐπίστασθαι χρῆσθαι), beides zusammenfällt (ἐν ᾗ συμπέπτωκεν ἅμα τό τε ποιεῖν καὶ τὸ ἐπίστασθαι χρῆσθαι τούτῳ ὃ ἂν ποιῇ).“
Kleinias stimmt zu, ohne doch sagen zu können, welche Kunst diese Anforderung erfüllt. Sokrates gibt vor, sie in der Kriegskunst, der strategischen Kunst (ἡ στρατηγική τέχνη), gefunden zu haben. Das ist ganz offensichtlich ein Test, der zeigen soll, wie das Gespräch mit Kleinias fortgeführt werden kann.[43] Natürlich ist die Kriegskunst ein Teil der politischen Kunst: sie gibt ihre Ziele vor und die Ergebnisse des militärischen Vorgehens sind Gegenstand des politischen Handelns. Das macht Kleinias auch entschieden geltend und erweist sich damit als gelehriger Schüler des Sokrates. Die politische (königliche) Kunst oder die von Kleinias in der Rolle des Musterschülers ins Spiel gebrachte Dialektik könnten stattdessen diese Rolle spielen.
„Was sagst Du da…?“
Hier lässt Platon uns ins Rahmengespräch zurückfallen. Kriton wird es nun doch zu bunt. Er unterbricht Sokrates in seiner Erzählung, weil er nicht glauben kann, dass Kleinias diese Korrektur vorgebracht haben könnte.
„Kriton: Was sagst du, Sokrates? So hätte dieser Knabe gesprochen?
Sokrates: Glaubst Du es nicht, Kriton?
Kriton. Nein beim Zeus…“
Wir sind hier an einem bedeutsamen Einschnitt.[44] Kriton bezweifelt die sokratische Darstellung: Hätte Kleinias so gesprochen, bräuchte er keine Lehrer mehr. Sokrates gesteht freimütig ein, er könnte sich getäuscht haben: vielleicht – aber er erinnere sich nicht mehr recht – könnte es Ktesippos gewesen sein, der dem Gespräch diese Wendung gegeben hat. Doch auch das wird von Kriton für nicht sonderlich plausibel gehalten. Sokrates wisse allerdings sicher, dass es vorgebracht wurde und dass es nicht von Euthydemos oder Dionysodoros vorgebracht worden sei.
„Kriton: Ja, beim Zeus, Sokrates, ein Besserer muss es wohl gewesen sein, und zwar ein weit Besserer. …“[45]
Kriton ist sich sicher, dass es wohl Sokrates selbst gewesen sei, der dem Gespräch die Wendung zur „königlichen Kunst“ bzw. der „Dialektik“ gegeben habe.
Königliche Kunst
Nun führt Sokrates das Gespräch mit Kriton fort. Auch die „königliche Kunst“, die sich als die gesuchte Kunst anzubieten schien führt nicht recht weiter: natürlich ist sich Kriton zunächst sicher, dass es sich bei ihr um etwas Vorzügliches und sehr Nützliches handelt; er würde es vermutlich gutheißen, wenn sein Sohn sich in der „königlichen Kunst“ auszeichnen könnte. Freilich weiß er nicht zu sagen, was ihr „Werk“ ist (ἔργον) und was sie zu bewirken vermag. „Alles lenkend und über alles herrschend“ (πάντα κυβερνῶσα καὶ πάντων ἄρχουσα) hat sie dennoch kein klares Ziel, das sie sich selbst zu geben vermöchte: sie will die Bürger gut machen, damit sie andere Bürger gut machen ad infinitum – ohne doch sagen zu können, was das Gute ausmache, um das sie sich bemüht.[46] Sie scheint „die Ursache alles Richtighandelns im Staate“ (ἡ αἰτία τοῦ ὀρθῶς πράττειν ἐν τῇ πόλει) ohne doch sagen zu können, was das Handeln richtig macht. Man geht politisch davon aus, zu wissen, was gut ist. Politik lebt von dieser Voraus-Setzung, ohne sie doch begründen zu können. Dazu – so dürfen wir ergänzen – braucht es das gesuchte Wissen, worum sich die Philosophie bemüht. Auffällig ist auch, dass Platon weder Sokrates noch Kriton den Hinweis auf die „sokratische“ Kunst der Dialektik wieder aufgreifen lässt. Es bleibt anderen platonischen Dialogen vorbehalten, das genauer zu besprechen. Der Euthydemos scheint demgegenüber das „aporetische“ Ziel zu verfolgen, den Lösungsraum zu öffnen, indem falsche Versprechungen ausgeschlossen werden.
Kriton will nun wissen, ob im Gespräch mit Euthydemos und Dionysodoros ein Ausweg aus dieser Aporie gefunden werden konnte. Wir ahnen freilich, dass wir uns von Euthydemos und Dionysodoros keine wirklichen Antworten erwarten dürfen. Es steht zu vermuten, dass sie den von Sokrates im Gespräch mit Kleinias entdeckten „praktischen“ Wesenszug der Sophia als Erkenntnis, die nicht von ihrer Anwendung zu trennen ist, gar nicht nachvollziehen konnten. Stattdessen flüchten sie sich in halsbrecherische Absurditäten: Weisheit als erstrebtes Wissen müsse gar nicht mehr erworben werden, weil alle immer schon alles wissen und können. Die kopfschüttelnden Gesprächspartner glauben das schnell als Unsinn entlarven zu können. Sie fordern einen „Beweis“ ihrer Allwissenheit. So können wir vermeintliche „Alleswisser“ nach etwas fragen, von dem wir glauben, dass sie es nicht wissen (können), wir die richtige Antwort aber ermitteln können: die Hauptstadt von Vanuatu (= Port Vila), die atomare Masse des chemischen Elements mit der Ordnungszahl 72 (= Hafnium, Hf mit 178,49 u) oder die Anzahl fadengehefteter Bücher im Arbeitszimmer des Autors dieser Zeilen (ups, müsste ich erst nachzählen). Ktesippos fragt Dionysodoros nach der Anzahl der Zähne im Mund seines Bruders. „Ist es dir nicht genug, sprach jener, zu hören, dass wir alles wissen? – Keineswegs, sagte er [Ktesippos], sondern dieses eine wenigstens beantwortet und zeigt, daß ihr die Wahrheit redet (ἐπιδείξατον ὅτι ἀληθῆ λέγετον).“[47] Während die Brüder es „logisch“, nämlich durch die vorausgehenden Reden für erwiesen erachten wollen,[48] drängt Ktesippos auf einen „sachlichen“ Nachweis jenseits der Reden. Sokrates macht die Stoßrichtung der Kritik seinerseits mit einer Nachfrage klar: die Alleswisser wollen zugleich Alleskönner sein und das praktische Können (know how) z.B. einer handwerklichen Kunst, erweist sich eben im Tun und nicht im Reden darüber. Wer also einen komplizierten Kulttanz zu beherrschen glaubt, der solle ihn vorführen.[49]
Die Brüder flüchten wiederum ins Reden. Sokrates wird das mit „der Hydra, dieser Sophistin“ vergleichen, „die so klug war, wenn ihrem Satz ein Kopf abgeschlagen wurde, viele neue statt des einen herauszustrecken“.[50] Dementsprechend warten Euthydemos und Dionysodoros mit immer neuen Absurditäten auf: Es sei gar nicht so erstaunlich, dass sie alles wüssten und zu tun vermöchten. Sie unterscheiden sich darin nicht von allen anderen: alle wüssten alles und seien wahre Alleskönner – und damit eben auch Sokrates selbst. Das könnten sie Sokrates auch „zeigen“, wenn er es denn zulasse. Sokrates gibt sich überrascht – und glaubt damit seinerseits und an ihm selbst die Haltlosigkeit der sophistischen Gaukeleien nachweisen zu können: Sokrates soll – wie alle anderen alles wissen – genau das freilich weiß er offenbar nicht.
Was heißt Wissen?
Es scheint unsinnig, von Wissen zu sprechen, von dem man nicht weiß, dass man es „hat“. Wer mir zeigt, dass ich „im Besitz“ eines Wissens bin, von dem ich bisher nichts wusste, der bringt mir etwas bei und verschafft mir eben dadurch das Wissen, über das ich vorher nicht verfügte. Auch Dinge, von denen ich weiß, dass ich sie schon mal wusste, weiß ich eben nicht mehr. Port Vila mag mir etwas sagen, weil ich vielleicht sogar schon mal dort gewesen bin; ich hätte dann gewusst, wo Port Vila „liegt“ und hätte es vielleicht auch den Neuen Hebriden zuordnen können, die von Frankreich und Großbritannien gemeinsam verwaltet wurden, ohne diese freilich mit dem 1980 selbständig gewordenen Venuatu in Verbindung zu bringen – weil ich davon einfach nichts wusste. Andererseits hätte ich unter Umständen ohne zu wissen, die richtige Antwort Port Vila geben können, z.B. weil ich vor kurzem von Port Vila in Venuatu gehört hatte, dabei aber davon ausging, dass es sich um einen Außenposten des romulanischen Sternenimperium handelt.
Ich kann mich darin täuschen, etwas zu wissen und z.B. die falsche Antwort geben oder an einer Aufgabe scheitern, bei der ich mir sicher war, sie meistern zu können (z.B. den Vergaser der Vespa zu säubern, den ich, nach dem ich ihn zerlegt habe, nicht mehr zusammenzubauen vermag). Etwas zu wissen, besagt, mit etwas umgehen und es richtig in ein Netz von Sinnzusammenhängen einordnen zu können. Wer etwas weiß, der versteht sich auf was: er kann Behauptungen begründen, etwas erfolgreich herstellen oder absichtsvoll handeln. Es mag sein, dass 42 die Antwort ist auf die „the Great Question! The Ultimate Question of Life, the Universe and Everything“. Sie ist als Antwort aber erst verständlich, wenn wir wissen, was der Computer in siebeneinhalb Millionen Jahren berechnet hat, und vor allem, wie diese „ultimate question“ eigentlich lautet.[51] Als Antwort taugt sie erst, wenn wir wissen, wovon wir sprechen.
Traditionell sprechen wir davon, etwas zu wissen, wenn wir „wissen“, wie wir es begründen können. Und etwas begründen heißt immer, es jemanden zu begründen. Begründen ist Teil eines Gesprächs, das ich mit anderen führe und auf das ich mich verstehe.
Das gilt nicht zuletzt fürs praktische Wissen, nämlich das Wissen, wie etwas geht. Wir wissen, dass wir etwas können, Radfahren z.B. oder auf einem Seil balancieren, wenn wir es schon mal gemacht haben. Wer es einfach versucht, weil er glaubt, es zu können, der „glaubt“ eben und weiß es nicht. Es kommt nicht darauf, ob er bei seinem Versuch erfolgreich ist oder stürzt: Er weiß dann, nachdem er es versucht hat, ob er es kann oder nicht. Und wer es nicht versucht hat, der weiß es auch nicht.[52]
Das alles spielt für Euthydemos und Dionysodoros keine Rolle. Ihre vermeintliche Allwissenheit ist natürlich so haltlos wir ihr Ansinnen, sie auch allen anderen zuzusprechen. Auch Euthydemos und Dionysodoros zeigen freilich, worauf sie sich verstehen und worauf eben nicht. Sie können bei Kleinias und den umworbenen Anwesenden jedenfalls keine Begeisterung für Philosophie wecken. Nachdem Platon Sokrates noch quälend ausführlich berichten lässt, welch’ halsbrecherische Kunststückchen die „Alleskönner“ vorführen, „versiegt“ schließlich das Gespräch an den resignierenden Gesprächspartnern.[53] Das Gespräch erschöpft sich ohne zu einer Verständigung gelangt zu sein.
Während Euthydemos und Dionysodoros vermutlich glauben, sich ganz ordentlich geschlagen zu haben – „die beiden erlagen fast dem Lachen und dem lauten Beifall und der Freude“ – konnten sie Sokrates nicht für sich einnehmen und unter den Anwesenden keine Neukunden gewinnen. Sokrates empfiehlt, sie sollten sich auf ihresgleichen zu konzentrieren: „Denn das weiß ich gewiß, daß mit diesen Reden nur wenig Menschen recht zufrieden sein möchten, die euch gleichen; die anderen aber haben wohl so wenig Verstand davon, daß ich gewiß weiß, sie würden sich mehr schämen, mit solchen Reden andere zu widerlegen als selbst dadurch widerlegt zu werden.„[54] Es erinnert an das berühmte sokratische Diktum, Unrechtleiden sei besser als Unrechttun.
Kriton stimmt dem zu und fühlt sich in seinem Verdacht bestätigt, dass die beiden Sophisten nicht für die Ausbildung seines Sohnes taugen. Ein Bekannter, der das Gespräch vom Vortag verfolgt hatte, hatte ihn bereits entsprechend gewarnt. Kriton wollte diese Einschätzung nun mit der von Sokrates abgleichen. Sokrates freilich vermutet, dass die Kritik falsch ansetzt und will Genaueres wissen. Laut Kritons Bekanntem würden Euthydemos und sein Bruder als „die weisesten Männer in dergleichen Reden“ gelten. „Darauf sagte ich [Kriton]: Wie sind sie dir denn vorgekommen? – Wie anders, antwortete er, als wie man diese Leute immer hört Possen treiben und sich um nichtswerte Dinge eine unwürdige Mühe geben? So sagte er wörtlich.“[55] Die Kritik scheint durchaus dem sokratischen Bericht zu entsprechen. Nun gibt Kriton dem Ganzen aber die entscheidende Wendung: „Da sprach ich [Kriton]: Aber Philosophie ist doch eine schöne Sache.“[56] Auch Kriton versteht Euthydemos und Dionysodoros als Philosophen. Die Kritik an ihren sophistischen Spiegelfechtereien wird zur Kritik der Philosophie. „Wie doch schön, sagte er, du Guter? Gar nichts wert. Vielmehr wenn du auch jetzt wärest zugegen gewesen, würdest du dich, glaube ich, recht geschämt haben für deinen Freund, so abgeschmackt war er, sich solchen Menschen hingeben zu wollen, denen gar nichts daran liegt, was sie sagen, sie sich aber an jedes Wort hängen. … Aber eben, lieber Kriton, die Sache selbst und die Menschen, die sich damit abgeben, sind ganz schlecht und lächerlich.“[57]
Sophistische Nähe
Tatsächlich liegt es wohl durchaus in der Absicht Platons, das Treiben der rhetorischen Fechtkünstler Euthydemos und Dionysodoros in verdächtige Nähe zur Philosophie zu bringen. Wir sahen bereits im Zusammenhang ihrer Gaukeleien mit Lügen und Widersprüchen, dass man darin im weitesten Sinne durchaus philosophische Themen aufgreift (cf. oben, Anmerkung 34). Im dritten Teil des Gesprächs, in dem die Sophisten ruhelos von einer zur nächsten Absurdität hasten, suchen sie aus der Allgemeinheit von Begriffen und der „unter sie fallenden“ Dinge Kapital zu schlagen, sprechen von der Teilhabe schöner Dinge an der Idee des Schönen und erörtern in haarsträubender Weise das Verhältnis von Göttern und Menschen. Das wird Kriton und sein Bekannter als typische „Gegenstände“ ausgemacht haben, mit denen sich Philosophen beschäftigen. Ganz zu schweigen von der vielleicht auffälligsten Gemeinsamkeit, nämlich der Methode des Elenchos, das Gespräch über die Beantwortung von (geschlossenen) Fragen voranzutreiben. Sie dürfte eng mit Sokrates verbunden worden sein und tatsächlich lässt Platon in nicht wenigen Dialogen Sokrates darum ringen, dass die Regeln des Elenchos von seinen Gesprächspartner eingehalten und die gestellten Fragen knapp, idealerweise mit Ja oder Nein geantwortet wird. Während Euthydemos und Dionysodoros damit den Nachweis ihrer Kunstfertigkeit zeigen wollen, wendet sich Sokrates damit gegen die großsprecherische Kunstfertigkeit von Sophisten à la Gorgias von Leontinoi und Thrasymachos von Chalkedon, die sich der methodischen Untersuchung ihrer meist provokant-paradoxen Thesen durch klangvolle und stilistisch kunstvolle Reden entziehen wollen.
Es liegt also keineswegs fern, zwischen der „sokratischen“ Philosophie und der sophistischen Meisterschaft, „im Gespräch zu streiten und zu widerlegen, was jedesmal gesagt wird, gleichviel ob es falsch ist oder wahr“[58] eine Verwandtschaft zu sehen. Während Kriton die Philosophie als eine „schöne Sache“ nicht auf das reduzieren will, was Euthydemos und Dionysodoros vorführen, zeigt sich seinem kritischen Bekannten „die Sache selbst“ (τὸ πρᾶγμα αὐτὸ) im Wirken derjenigen, die sich damit abgeben.
Was also ist „die Sache selbst“, die Philosophie? Die Dialog Euthydemos gibt darauf keine abschließende Antwort, er endet aporetisch. Die Aporie mag Kriton und manche Leser enttäuschen – vor allem weil in den beiden, Beispiel gebenden Gesprächsteilen von Sokrates mit Kleinias ja gezeigt wurde, dass man sich unbedingt um sie bemühen muss, nun aber offen bleibt, wie diese Bemühung aussehen soll. Er bestimmt nicht, was sie ist, sondern zeigt, was sie nicht ist. Sie sucht jedenfalls ein Wissen, das von seinem Gebrauch nicht getrennt werden. Sie sucht kein „theoretisches“ Wissen zu erwerben, sondern ein praktisches Können. Während eine Aussage wahr oder falsch ist, versteht man sich auf eine Sache mehr oder weniger gut. Wissen, der Form „ich weiß, dass Port Vila die Hauptstadt von Venuatu ist“ kann ausgesagt werden – es ist propositional; das in der Philosophie gesuchte Wissen (σοφία) kann sich nur zeigen und wird nur im Gebrauch erworben; es ist ein – etwas sperrig formuliert – dispositionales Wissen, ein in einer Person verkörpertes Wissen oder Disposition.[59]
Das hat weitreichende Konsequenzen: Bei der Erörterung, welche „Kunst“ die gesuchte sein könnte, hatte Sokrates auch die „Kunst, Reden zu machen“ ins Spiel gebracht und damit nicht zuletzt auf die irrlichternden Redekünstler Euthydemos und Dionysodoros abgezielt.[60] Sokrates spricht von Logopoioi (οἱ λογοποιοί, Rede-Machern) oder der logopoiischen Kunst (ἡ λογοποιικὴ τέχνη) und das hat den pejorativen Unterton des Geschichtenerzählers, der Gerüchte in Umlauf bringt und dem es Wichtigtuerisch um irgendwelche Neuigkeiten zu tun ist, ohne ihre Bedeutung einordnen zu können. Hier ist aber wohl vor allem an politische Reden oder Reden vor Gericht zu denken. Reden sind Mittel für beliebige Zwecke. Reden sind gut, wenn sie das mit ihnen verfolgte Ziel erreichen, also die Zuhörer von dem überzeugen, wovon der Redner sie überzeugen will. Sokrates vergleicht die Logopoiia mit der Beschwörungskunst, die Richter und politische Öffentlichkeit gleich Schlangen, Spinnen und Skorpionen und anderen Übeln zu besänftigen sucht. Wer für sich oder andere Reden schreibt, muss dabei die richtigen Ziele verfolgen. „Offenbar also ist auch bei den Reden abgesondert die Kunst des Verfertigens von der des Gebrauchs.“[61] Das geht alles ein wenig schnell. Im Dialog stimmt Kleinias als Vertreter der politischen Aristokratie, die dem demokratischen Treiben der populistischen Anbiederung mit Verachtung begegnet, beherzt zu, ohne doch die Bedeutung dieses schnellen Beiseiteschiebens der Reden fürs platonisch-sokratische Selbstverständnis zu überblicken. Und vermutlich sind auch die Zuhörer, Kriton sowieso, und die unbedarften Leser von Platons Text überfordert.
Was wir suchen, Weisheit, die das Leben „glücklich“ auszurichten vermag, findet sich nicht in einem (verfertigten) Text! Es gibt keine philosophischen Texte, die unabhängig von ihrem verständigen Gebrauch, Weisheit versichern könnten. Philosophie erschöpft sich nicht in einem Ergebnistext, der schwarz auf weiß – und schon gar nicht auf einem USB-Stick – nach Hause getragen werden kann. Sie zeigt sich in einem Vollzug der Verständigung. Philosophie vollzieht sich dialektisch als Kunst, ein Gespräch zu führen, sich über das verständigen zu können, was für das Gelingen des Lebens wichtig ist. Wer sich darauf versteht, darf mehr oder weniger weise genannt werden. Dem entspricht die Form des Dialogs, die Platon nahezu allen seinen Texten gegeben hat. Die Form des Dialogs ist von der Sache, von der die Rede ist, gar nicht zu trennen. Nur im Dialog kann sich die Sache wirklich zeigen und sie zeigt sich immer im Gespräch von Personen, deren lebensweltliches Dasein bestimmend in die Verständigung eingeht. Philosophische Texte geben keine Ergebnisse einer Forschung, sondern bilden die Suche selbst ab. Etwas zugespitzt formuliert: es „gibt“ keine philosophischen Sätze – wir können uns „nur“ darauf verstehen, uns sprachlich über uns und unser Leben zu verständigen.
Was bleibt
Sokrates verweist abschließend darauf, dass alle menschlichen Bestrebungen (ἐπιτηδεύματα) mehr oder weniger gut gelingen können und nicht wenige – wie z.B. Euthydemos und Dionysodoros – sich dabei „ganz erbärmlich und lächerlich anstellen“. „Lebenskünstler“ sind die wenigsten. Kriton – und wir alle – sollten nicht die Leute bewerten, die sich der Philosophie befleißigen, sondern nur „die Sache selbst recht gut und gründlich prüfen …erscheint sie dir aber so wie sie auch mir vorkommt, so gehe ihr getrost nach und übe sie, du selbst, wie man zu sagen pflegt, und deine Kinder.“ Fr. Hölderlin hatte gut 2.000 Jahre später seinen Bruder in einem Brief vom 13. Okt. 1796 ebenfalls zum Philosophieren bestärkt: „Philosophie musst Du studiren, und wenn Du nicht mehr Geld hättest, als nöthig ist, um eine Lampe und Öl zu kaufen, und nicht mehr Zeit, als von Mitternacht bis zum Hahnenschrei. Das ist es, was ich in jedem Falle wiederhole…“
Exkurs: Erziehung zur Mündigkeit
Unsere Kinder sollen es guthaben und das heißt nicht selten, es soll ihnen einmal besser gehen als uns selbst. Also machen wir uns um die Ausbildung unserer Kinder Gedanken. Wir wollen Ihnen das Beste mitgeben. Aber was ist das. Wir versuchen es mit Klavierlehrer und zweisprachiger Kindergarten, schulischem Auslandsaufenthalt und Sommerakademien. Und neben „humanistischer Bildung“, was immer „man“ darunter verstehen mag, darf die körperliche Entwicklung natürlich nicht vernachlässigen. Also Sport und Ballett, gesunde Ernährung und regelmäßige Gesundheitschecks. Die Ausbildungsprogramme sind vielfältig.
Wir wollen sie – modern gesprochen – zur Mündigkeit erziehen. Geht das? Können wir den (noch) Unmündigen mündig machen? Der humanistisch gebildete Pädagoge – es gibt sie ja noch, oder? – mag darin die Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend sehen.
Hanns Dieter Peter Hüsch hat in einer seiner Programme mal das Zerrbild eines aufgeklärten Lehrers gezeigt, der seinen Schülern auf dem Schulhof von oben lautstark und entschieden zuruft: „Ungezwungen Kinder, ungezwungen!“ Was sollten sie nun tun? Sie sollten sich anders verhalten als sie es taten. Sie sollten „ungezwungen“ frei sein, aber nicht so, wie sie sich ungezwungen gerade verhielten. Irgendwie paradox. Und dieser Paradoxie kann man wohl schlecht entkommen. Ihr sollt so sein, wie wir es uns wünschen, aber von selbst und aus eigenem Antrieb.
Die Mündigkeit bezeichnet demgegenüber wohl die Fähigkeit, sich selbst Ziele geben und das Leben selbstbestimmt führen zu können. Wir wollen, dass sie das Vermögen ausbilden, das traditionell von der Philosophie gesucht wurde und bislang unübertroffen in den Dialogen Platons vorgeführt wurde: Sich selbst zu erkennen und um sich selbst zu sorgen.
[1] Phaidon 118a: „Als ihm nun schon der Unterleib fast ganz kalt war, da enthüllte er sich, denn er lag verhüllt, und sagte, und das waren seine letzten Worte: O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, entrichtet ihm den und versäumt es nur ja nicht.“
So kann Kriton doch noch das „Lösegeld“ für Sokrates zahlen.
Es zeigt sich, dass die Freundschaft zwischen Kriton und Sokrates in etwas anderem gründet, als in einem tiefen Verständnis: im Phaidon zeigt er sich bis zuletzt nicht überzeugt von der sokratischen Haltung. Er ist kein philosophischer Gesprächspartner – er würde sich durch Reden nicht von seinen Überzeugungen abbringen lassen. Die sokratische Botschaft kommt bei ihm nicht wirklich an: „Als er [Sokrates] dieses gesagt [er wolle sich nun zur Vorbereitung auf den Tod zum Baden begeben], sprach Kriton: Wohl, o Sokrates! Was trägst du aber diesen auf oder mir deiner Kinder wegen, oder was sonst wir irgend dir noch recht zu Dank machen könnten, wenn wir es täten? – Was immer ich sagen, sprach er, o Kriton, nichts Besonderes weiter, daß nämlich, wenn ihr euer selbst recht wahrnehmt, ihr mir und den Meinigen und euch selbst alles zu Dank machen werdet, was ihr nur tut, und wenn ir es auch jetzt nicht versprecht; wenn ihr aber euch selbst vernachlässigt und nicht wollt gleichsam den Spuren des jetzt und sonst schon Gesagten nachgehen im Leben, ihr dann, wenn ihr jetzt noch so vieles und noch so heilig versprächt, doch nichts weiter damit ausrichten werdet.“ Kriton antwortet zwar brav, „dieses also wollen wir uns bestreben, so zu machen“ zeigt aber mit seiner nächsten Frage, dass er wenig von dem verstanden hat, was Sokrates „jetzt und sonst schon“ sagte. Kriton sorgt sich darum nämlich „auf welche Weise wir dich begraben sollen“ worauf Sokrates nicht ihm, sondern den Anwesenden lächelnd antwortet: „Diesen Kriton, ihr Männer, überzeuge ich nicht, dass ich der Sokrates bin, dieser, der jetzt mit euch redet und euch das Gesagte vorlegt, sondern er glaubt, ich sei jener, den er nun bald tot sehen wird und fragt mich deshalb, wie er mich bestatten soll. Daß ich aber schon so lange eine große Rede darüber gehalten habe, daß, wenn ich den Trank genommen habe, ich dann nicht länger bei euch bleiben, sondern fortgehen werde zu irgendwelchen Herrlichkeiten der Seligen, das habe ich ihm offenbar vergeblich gesagt, wenn ich meinte, euch damit zu beruhigen und mich mit.“
[2] Im τίς ἡ σοφία dürfen wir wohl das anfängliche τίς ἦν mithören: Wer ist das und was ist die(se) Weisheit.
[3] Das wird sich im Laufe des Dialogs auf zynische Weise noch zeigen – was als Wissen gelten darf wird von Euthydemos und Dionysodoros völlig vernebelt.
[4] 272a: ἣ γὰρ ἦν λοιπὴ αὐτοῖν μάχη ἀργός, ταύτην νῦν ἐξείργασθον, ὥστε μηδ᾽ ἂν ἕνα αὐτοῖς οἷόν τ᾽ εἶναι μηδ᾽ ἀντᾶραι: οὕτω δεινὼ γεγόνατον ἐν τοῖς λόγοις μάχεσθαί τε καὶ ἐξελέγχειν τὸ ἀεὶ λεγόμενον, ὁμοίως ἐάντε ψεῦδος ἐάντε ἀληθὲς ᾖ.
Das Widerlegen von beliebig Vorgebrachten gehört hier noch zu der von ihnen angebotenen Kunst; später werden die beiden Kämpfer bestreiten, dass Widerlegen überhaupt möglich ist.
[5] 273b: τὰ γὰρ περὶ τὸν πόλεμον πάντα ἐπίστασθον.
[6] Das allein – die Tugend als Geschäftsidee zu verstehen – muss uns stutzig machen.
[7] 273e: παραδοῦναι κάλλιστ᾽ ἀνθρώπων καὶ τάχιστα: παραδοῦναι drückt ein Übergeben aus wie es etwa beim Tausch oder Kauf erfolgt oder bei der Übergabe einer Stadt nach deren Belagerung. erfolgt. Die Tugend wird also wie ein Gegenstand verstanden, der gekauft und übergeben werden kann.
[8] 274d: ἐπιδείξασθαι τὴν δύναμιν τῆς σοφίας
[9] 274a-b: ὡς ἐπιδείξοντε καὶ διδάξοντε, ἐάν τις ἐθέλῃ μανθάνειν. Wir werden später sehen, dass niemand zu lernen braucht, weil eh schon alle alles wissen. Und Sokrates kontert deshalb: alle, die sie noch nicht besitzen, wollen sie sicher lernen.
[10] Sokrates führt Kriton und uns Leser nicht ganz unvoreingenommen vor, wie die beiden Sophisten die high society Jugend umschleichen, um mit ihr „Geschäfte“ machen zu können. Kleinias ist hier wie ein Magnet – Zuckerwasser für sophistische Fliegen.
[11] Damit gibt Sokrates dem Gespräch die protreptische Ausrichtung, für das Streben nach Weisheit zu begeistern, also zur Philosophie: wer Philosophie noch nicht „betreibt“ oder wertschätzt, der soll zu ihr geführt werden. Euthydemos und Dionysodoros sind keine Philosophen, die nach der Weisheit (σοφία) streben, sondern Sophisten, die sie zu haben vorgeben.
[12] 275a
[13] 275c-d: τὰ δὴ μετὰ ταῦτα, ὦ Κρίτων, πῶς ἂν καλῶς σοι διηγησαίμην; οὐ γὰρ σμικρὸν τὸ ἔργον δύνασθαι ἀναλαβεῖν διεξιόντα σοφίαν ἀμήχανον ὅσην: ὥστ᾽ ἔγωγε, καθάπερ οἱ ποιηταί, δέομαι ἀρχόμενος τῆς διηγήσεως μούσας τε καὶ Μνημοσύνην ἐπικαλεῖσθαι.
[14] Das Herausfliegen aus dem ἔλεγχος: das Besiegtwerden.
[15] „Als er dies gesagt hatte, erhoben, wie ein Chor, wenn der, welcher es einübt, das Zeichen gegeben hat, so einmütig alle jene, die den Euthydemos und Dionysodoros begleitet hatten, ein großes Beifallsgetöse und Gelächter.“ (276b)
[16] 277e: πρῶτον γάρ […] περὶ ὀνομάτων ὀρθότητος μαθεῖν δεῖ
[17] 278c.
[18] 278e.
[19] Platon nimmt hier den berühmten ersten Satz des Nikomachischen Ethik des Aristoteles vorweg: πᾶσα τέχνη καὶ πᾶσα μέθοδος, ὁμοίως δὲ πρᾶξίς τε καὶ προαίρεσις, ἀγαθοῦ τινὸς ἐφίεσθαι δοκεῖ (NE I 1, 1094a) – das, wonach alle streben ist das Glück des gelingenden Lebens, die εὐδαιμονία.
[20] 279c-d: καὶ ἐγὼ ἀναμνησθεὶς εἶπον ὅτι ναὶ μὰ Δία κινδυνεύομέν γε τὸ μέγιστον τῶν ἀγαθῶν παραλιπεῖν. – τί τοῦτο; ἦ δ᾽ ὅς. – τὴν εὐτυχίαν, ὦ Κλεινία: ὃ πάντες φασί, καὶ οἱ πάνυ φαῦλοι, μέγιστον τῶν ἀγαθῶν εἶναι. – ἀληθῆ λέγεις, ἔφη. – καὶ ἐγὼ αὖ πάλιν μετανοήσας εἶπον ὅτι ὀλίγου καταγέλαστοι ἐγενόμεθα ὑπὸ τῶν ξένων ἐγώ τε καὶ σύ …
[21] Andere Sprachen bieten dafür eigene Ausdrücke an, im Englischen z.B. die Unterscheidung von luck, fortune und happiness. Das sichert freilich nicht vor dem Fehler, das eine auf das andere abzubilden. Und diesen Fehler, der sich – im Deutschen – durch die Äquivokation eines Ausdrucks einstellen kann, zu verhindern, ist das Ziel der sokratischen Gesprächsführung.
[22] 279d: ἡ σοφία δήπου […] εὐτυχία ἐστίν
[23] 280a: ἡ σοφία ἄρα πανταχοῦ εὐτυχεῖν ποιεῖ τοὺς ἀνθρώπους. οὐ γὰρ δήπου ἁμαρτάνοι γ᾽ ἄν ποτέ τι σοφία, ἀλλ᾽ ἀνάγκη ὀρθῶς πράττειν καὶ τυγχάνειν: ἦ γὰρ ἂν οὐκέτι σοφία εἴη.
[24] 280b.
[25] 280b: ἐπειδὴ δὲ τοῦτο συνωμολογησάμεθα, πάλιν ἐπυνθανόμην αὐτοῦ τὰ πρότερον ὡμολογημένα πῶς ἂν ἡμῖν ἔχοι. ὡμολογήσαμεν γάρ, ἔφην, εἰ ἡμῖν ἀγαθὰ πολλὰ παρείη, εὐδαιμονεῖν ἂν καὶ εὖ πράττειν.
[26] 280d: δεῖ ἄρα, ἔφην, ὡς ἔοικεν, μὴ μόνον κεκτῆσθαι τὰ τοιαῦτα ἀγαθὰ τὸν μέλλοντα εὐδαίμονα ἔσεσθαι, ἀλλὰ καὶ χρῆσθαι αὐτοῖς: ἢ οὐδὲν ὄφελος τῆς κτήσεως γίγνεται.
[27] 281d.
[28] Güter tun natürlich gar nichts; wir tun etwas mit ihnen. Wer die Papierzettelchen nicht als Geld erkennt, wird damit nichts anfangen können. Und wer sich damit das Falsche kauft, wird sich schaden und sich (und anderen) nichts Gutes tun.
[29] 281d-e: αὐτὰ δὲ καθ᾽ αὑτὰ οὐδέτερα αὐτῶν οὐδενὸς ἄξια εἶναι.
[30] 282a: ἐπειδὴ εὐδαίμονες μὲν εἶναι προθυμούμεθα πάντες, ἐφάνημεν δὲ τοιοῦτοι γιγνόμενοι ἐκ τοῦ χρῆσθαί τε τοῖς πράγμασιν καὶ ὀρθῶς χρῆσθαι, τὴν δὲ ὀρθότητα καὶ εὐτυχίαν ἐπιστήμη ἦν ἡ παρέχουσα, δεῖ δή, ὡς ἔοικεν, ἐκ παντὸς τρόπου ἅπαντα ἄνδρα τοῦτο παρασκευάζεσθαι, ὅπως ὡς σοφώτατος ἔσται
[31] 283a
[32] Die Rede ist von ἀπ- bzw. ἐξόλλυμι, einem Vernichten oder Verderben.
[33] Ktesippos überzeugt durch Haltung und kann sich durchaus wehren. Er betrachtet Euthydemos und Dionysodoros als nichtsnutzige Schwätzer, denen er als Vertreter der herrschenden Klasse ihren Ort zuweist. Sie verdienen kein Duell, sondern nur Zurechtweisung und Bestrafung.
[34] Ob es Widersprüche „gibt“ ist durchaus eine in der Philosophie verhandelte Frage. Sokrates erkennt darin parmenideisch-pythagoreisches Gedankengut. Später wird Aristoteles zeigen, dass es „Widersprüche“ tatsächlich in dem Sinne nicht „gibt“, dass Sätze, die etwas Widersprüchliches behaupten, nicht wahr sein können. Aristoteles nennt es „das sicherste Prinzip von allen“, weil hierin „eine Täuschung unmöglich ist“: „es ist unmöglich, dass dasselbe demselben in derselben Beziehung zugleich zukomme und nicht zukomme“ (Metaphysik 1005b).
[35] Ktesippos wird Dionysodoros rhetorisch überlisten, der dafür schadenfrohes Lachen erntet: „Da lachte, wie er pflegt, Ktesippos lauf auf und sagte: O Euthydemos, dein Bruder hat die Frage doppelt genommen und ist verloren und überwunden. Da freute sich Kleinias sehr und lachte, so daß dem Ktesippos noch mehr als zehnfach der Mut wuchs. Wie mich dünkt, hatte der schlaue Ktesippos schon von ihnen selbst eben dieses abgehört.“ (300d) – Euthydemos hatte seinen älteren Bruder bereits vorher zu mehr Konzentration ermahnt: „Du verdirbst uns alles, sagte nun Euthydemos zum Dionysodoros. Denn nun wird herauskommen, daß er nicht weiß und daß er zugleich wissend ist und nichtwissend. Da errötete Dionysodoros.“ (297a)
[36] Man kann deshalb zögern, das von ihnen Vorgebrachte als Behauptungen zu verstehen. Vermutlich würden Euthydemos und Dionysodoros das nicht so sehen: sie greifen etwas an und auf, was von anderen „irgendwie“ behauptet oder besser gesagt ins Spiel gebracht wird.
[37] 274e-275a: τῶν νῦν ἀνθρώπων κάλλιστ᾽ ἂν προτρέψαιτε εἰς φιλοσοφίαν καὶ ἀρετῆς ἐπιμέλειαν
[38] 288c: αὐτὸς πάλιν ὑφηγήσασθαι οἵω προσεύχομαι αὐτὼ φανῆναί μοι
[39] 288e f.
[40] Der Zusammenhang von Glück und gelingendem Leben, von εὐτυχία und εὐδαιμονία, ist doch weit tiefgründiger als die sokratische Argumentation es hier verhandeln möchte. Hier bewährt sich, dass Sokrates zunächst vom „gut Handeln“ (εὖ πράττειν) spricht und nicht von Eudaimonia (εὐδαιμονία): Eudaimonia leitet sich vom guten Geist (εὖ δαίμων) her, der ein Leben leitet und zeigt so durchaus Wesenszüge eines glücklichen Widerfahrnises (εὐτυχία), nämlich der dem Glücklichen nicht verfügbaren „Zuwendung“ eines anderen.
[41] Auch der kämpferische Ktesippos, der Kleinias ja beeindrucken möchte, wird später noch einmal den Fehler machen, Gold als schlechthin gut gelten zu lassen: „Und bist du nicht der Meinung, daß man gute Sachen immer haben muss und überall? – Gar sehr. – Und das Gold hältst du doch auch für gut? – Das habe ich freilich zugestanden.“ Er wird dafür mit einer sophistischen Haarspalterei bestraft, die er freilich als solche erkennt und sie gegen ihre Autoren wenden kann. Er kann sich der sophistischen Angriffe erwehren, bleibt aber in seiner standesgemäßen Auffassung gefangen, dass Reichtum etwas Vorzügliches sei.
[42] 289a-b: οὐδέ γε εἴ τις ἔστιν ἐπιστήμη ὥστε ἀθανάτους ποιεῖν, ἄνευ τοῦ ἐπίστασθαι τῇ ἀθανασίᾳ χρῆσθαι οὐδὲ ταύτης ἔοικεν ὄφελος οὐδέν
[43] Wir hatten gesehen, dass Sokrates Euthydemos und Dionysodoros als Meister von allem, „was zum Kriege gehört“ (273c) vorgestellt hat. Will er nun wirklich glaubhaft machen, dass er in ihrer Kunst die gesuchte sieht? Euthydemos und Dionysodoros scheinen sich ja selbst der Begrenztheit der Kriegskunst bewusst zu sein, wenn sie sich neuerdings dem „Geschäft“ der Tugend zuwenden.
[44] In 275c hatte Sokrates die Erzählung unterbrochen und sich mit dem Hinweis, es sei keine leichte Sache, alles „ordentlich und gehörig“ vorzutragen, direkt an Kriton gewandt: „Was also nun folgt, o Kriton, wie soll ich dir das nur gut genug erzählen? Denn wahrlich, es ist keine kleine Sache, so unerdenklich tiefe Weisheit ordentlich und gehörig wieder vortragen zu können, so daß ich, wie die Dichter, wohl nötig habe, beim Anfang der Erzählung die Musen anzurufen und die Mnemosyne.“ Seine Erzählung (διήγησις) bedarf – wie die der Dichter – der Unterstützung der Musen.
[45] 291a: ναὶ μὰ Δία, ὦ Σώκρατες: τῶν κρειττόνων μέντοι τις ἐμοὶ δοκεῖ, καὶ πολύ γε
[46] Tatsächlich ist das oft vorgebrachte Ziel des eigenen Handelns, anderen zu helfen, zirkulär, solange man eben nicht sagen kann, was das Gute jenseits des Helfens ausmache. Anderen in offensichtlicher Not zu helfen – in Lebensgefahr oder im Elend der Verkümmerung – ist natürlich edel und gut; die offensichtliche Not verweist aber auf ein wie vage auch immer
[47] 294b.
[48] Tatsächlich ist offen, was als „Beweis“ (ἐπίδειξις) gelten soll: epideixis/ ἐπίδειξις bezeichnet ein Zeigen im Sinne der Schaustellung oder Vorführung einer Kunstfertigkeit. Genau das behaupten die Sophisten ja getan zu haben – sie haben ihre Kunst darin gezeigt, die Zuhörer in etwas offensichtlich Absurdes verstrickt zu haben, aus dem sie sich jetzt „logisch“ nicht mehr befreien können. Rhetorisch kennen wir die epideiktische Rede (ἐπιδεικτικὸν γένος), die den Gegenstand in seiner fraglosen Bedeutung zur Geltung bringt: Beispiele sind die Lob- oder Trauerrede, bei der das Publikum (affektiv) in die rechte Stimmung für etwas gebracht werden soll, dem es (sachlich) bereits zustimmt. In der epideiktischen Rede bringt sich die rhetorische Kunst selbst zur Geltung.
[49] Hier liegt eine wesentliche Verschiebung der Gewährleistung: philosophisch ist zumindest in neueren Tagen höchst umstritten, ob man die Wahrheit einer Aussage durch Verweis darauf bestätigen kann, dass die Dinge sich wirklich so verhalten wie mit der Aussage behauptet. Die sogenannte Adäquationstheorie der Wahrheit gilt als widersinnig, weil sie den Vergleich des Unvergleichbaren anstrebt: Sätze sollen mit Gegenständen verglichen werden, die doch wiederum nur in Sätzen als Gegenstände der Prüfung zugänglich sind.
[50] 297c
[51] Douglas Adams, The Hitchhiker’s Guide to Galaxy, 1979, Capter 28:
“Forty-two!” yelled Loonquawl. “Is that all you’ve got to show for seven and a half million years’ work?”
“I checked it very thoroughly,” said the computer, “and that quite definitely is the answer. I think the problem, to be quite honest with you, is that you’ve never actually known what the question is.”
“But it was the Great Question! The Ultimate Question of Life, the Universe and Everything,” howled Loonquawl.
“Yes,” said Deep Thought with the air of one who suffers fools gladly, “but what actually is it?”
A slow stupefied silence crept over the men as they stared at the computer and then at each other.
“Well, you know, it’s just Everything … everything …” offered Phouchg weakly.
“Exactly!” said Deep Thought. “So once you do know what the question actually is, you’ll know what the answer means.”
“Oh, terrific,” muttered Phouchg, flinging aside his notebook and wiping away a tiny tear.
“Look, all right, all right,” said Loonquawl, “can you just please tell us the question?”
“The Ultimate Question?”
“Yes!”
“Of Life, the Universe and Everything?”
“Yes!”
Deep Thought pondered for a moment.
“Tricky,” he said.
“But can you do it?” cried Loonquawl.
Deep Thought pondered this for another long moment.
Finally: “No,” he said firmly.
Both men collapsed onto their chairs in despair.
[52] Zumindest dann, wenn er es nicht aus anderen Vermögen erschließen kann.
[53] 303a: „Da rief Ktesippos aus: O Poseidon! Was für gewaltige Reden! Ich lasse ab; denn die Männer sind unbezwinglich.“
[55] 304e
[56] 304e: καὶ ἐγώ, ἀλλὰ μέντοι, ἔφην, χαρίεν γέ τι πρᾶγμά ἐστιν ἡ φιλοσοφία.
[57] 304e-305a: ποῖον, ἔφη, χαρίεν, ὦ μακάριε; οὐδενὸς μὲν οὖν ἄξιον. ἀλλὰ καὶ εἰ νῦν παρεγένου, πάνυ ἄν σε οἶμαι αἰσχυνθῆναι ὑπὲρ τοῦ σεαυτοῦ ἑταίρου: οὕτως ἦν ἄτοπος, ἐθέλων ἑαυτὸν παρέχειν ἀνθρώποις οἷς οὐδὲν μέλει ὅτι ἂν λέγωσιν, παντὸς δὲ ῥήματος ἀντέχονται… ἀλλὰ γάρ, ὦ Κρίτων, ἔφη, τὸ πρᾶγμα αὐτὸ καὶ οἱ ἄνθρωποι οἱ ἐπὶ τῷ πράγματι διατρίβοντες φαῦλοί εἰσιν καὶ καταγέλαστοι. Kritons Bekannter nennt Sokrates ἄτοπος, atopisch, befremdlich, wörtlich: ortlos, das auch für ein Epitheton des Sokrates gelten kann: im Symposion wird berichtet, dass Sokrates mit Freunden unterwegs zu einer Feier plötzlich zurückbleibt und schließlich eine Weile im Vorhof des Nachbarn stehenbleibt. Was uns befremdlich, ἄτοπος eben, vorkommt, ist für Sokrates typisch: „denn er hat das so in der Gewohnheit, bisweilen hält er an, wo es sich eben trifft, und bleibt stehen“ – man dürfe ihn dann nicht stören. Zum „atopischen“ Sokrates siehe G. Böhme, Der Typ Sokrates, 1992, S. 19ff.
[58] 272a: ἣ γὰρ ἦν λοιπὴ αὐτοῖν μάχη ἀργός, ταύτην νῦν ἐξείργασθον, ὥστε μηδ᾽ ἂν ἕνα αὐτοῖς οἷόν τ᾽ εἶναι μηδ᾽ ἀντᾶραι: οὕτω δεινὼ γεγόνατον ἐν τοῖς λόγοις μάχεσθαί τε καὶ ἐξελέγχειν τὸ ἀεὶ λεγόμενον, ὁμοίως ἐάντε ψεῦδος ἐάντε ἀληθὲς ᾖ.
Das Widerlegen von beliebig Vorgebrachten gehört hier noch zu der von ihnen angebotenen Kunst; später werden die beiden Kämpfer bestreiten, dass Widerlegen überhaupt möglich ist.
[59] Bei Platon zeigt es sich meist im Vermögen des Sokrates ein Gespräch zu führen.
[60] Im Übrigen ist auch der kritische Bekannte Kritons, der an der Philosophie nichts Gutes finden kann, ein Redenschreiber. Da er es für Bezahlung und politische Ziele tut, scheint ihm dies von praktischer Bedeutung gegenüber der unnützen Philosophiererei.
[61] 289d: δῆλον οὖν ὅτι καὶ περὶ λόγους χωρὶς ἡ τοῦ ποιεῖν τέχνη καὶ ἡ τοῦ χρῆσθαι.