Die Wahrheit der Gemeinplätze

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Gemeinplätze, das sind Redensarten, auf die man sich zurückzieht, wenn einem nichts Besseres einfällt. Sie gelten immer. Sie stehen für den „gesunden Menschenverstand“, der sich gegen Verkünstelungen wehrt und der nicht immer alles zu kompliziert machen und die Kirche im Dorf lassen will. In der philosophisch-rhetorischen Tradition hießen sie loci communes, „Orte“ an denen wir Gemeinsames finden. Wir brauchen sie nämlich nicht zuletzt fürs Argumentieren. Argumente führen Strittiges auf Unstrittiges zurück. Meine Mein-ung lässt sich gegenüber anderen nur begründen, wenn sie sich aus einem gemeinsamen Standpunkt herleiten lässt, den die anderen teilen – oder doch alle mit „gesundem Menschenverstand“: über-zeugen heißt eben mehr Zeugen aufrufen können als nur den Behauptenden selbst. Etwas Strittiges auf einen Gemeinplatz zurückzuführen, heißt allgemeine Zustimmung gewinnen.

Der Gemeinsinn und seine Auslegung

Gemeinplätze in diesem Sinne brauchen keine Auslegung. Sie verstehen sich eigentlich von selbst. Eigentlich. Jedenfalls für die, die sie teilen. Ihre selbstverständliche Verwendung zeigt den vorherrschenden „Gemeinsinn“, der das Sprechen und Handeln der Gemeinsinnigen leitet. Dieser Gemeinsinn zeigt sich darin, welche Begründungsfunktion die Gemeinplätze für die Gemeinsinnigen haben. „Leben und leben lassen“, damit können wir z.B. „begründen“, warum wir uns nicht an einer Unterschriftenaktion beteiligen, die ein Wohnprojekt von Hippies in der Nachbarschaft verhindern will. Freilich kann es auch die eigene Lebensführung immunisieren, um sich der Verantwortung vor anderen entziehen: Kritik an unanständig zur Schau gestelltem Reichtum bei bitterlicher Armut anderer, dem rücksichtslosen Bereicherungsstreben oder der tyrannischen Bevormundung von Kindern und Ehefrau wird dann als ungebührlicher Verstoß des „leben und leben lassen“ verstanden.

Léon Bloy – wikiCommons

Der Sinn, den Gemeinplätze in solchen Rechtfertigungen annehmen, das ist worum es Léon Bloy bei seiner Auslegung der Gemeinplätze von 1902 geht.[1] Léon Bloy, das ist ein weitgehend vergessener, erzkatholischer französischer Autor des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Er ist vor allem beseelt von einer radikalen Abrechnung mit den modernen Zeiten und ihrer Bürger, genauer dem Bürgertum oder der Bourgeoisie. Der BÜRGER[2] ist ein apokalyptischer Reiter oder versammelt sie alle in seiner bürgerlichen Dekadenz. Dem apokalyptischen Grauen verleiht er eine „gutbürgerliche Existenz“ und ein „geschäftliches Auskommen“.

Geschäft ist Geschäft

Geschäft ist Geschäft“, darin sieht Léon Bloy „den gewichtigsten“ und „erhabensten“ Gemeinplatz: „Er ist der Nabel aller Gemeinplätze, er ist der Schlüsselsatz des Jahrhunderts.“ Die schlimmsten Verbrechen werden damit legitimiert. Er gibt vor, das Geschäft von anderem abzuheben, Familie z.B. oder Kunst und Literatur, der Religion oder dem Heiligen. Nur im Geschäft und keinesfalls überall gälten die grausamen Regeln, die man mit „Geschäft ist (eben) Geschäft“ rechtfertigen will. Freilich wird (dem BÜRGER) alles zum Geschäft. Auch das Spirituelle wird zum Geschäft. „Es ist unmöglich, haargenau zu sagen, was das ist – das Geschäft. Es ist die geheimnisumwobene Gottheit, etwas wie die Isis der Großschnauzen, von der alle anderen Götter verdrängt werden. … Geschäft ist Geschäft, wie Gott Gott ist, das heißt jenseits aller Erklärungen. … Wenn man diese fünf Silben ausgesprochen hat, ist alles gesagt: man hat auf alles Erdenkliche geantwortet.[3] Léon Bloy gelingt es, uns Leser durch einige wenige „Auslegungen“ ganz ins „bürgerliche“ Denken zu ziehen. Schnell weiß man, dass „Man kann nicht alles haben“ so viel sagt, wie „Du hast keinen Anspruch auf irgendwas“. Ein „Herr Gutversorgt ist Haus- und Grundbesitzer“. Er knechtet seine Angestellten und lässt seine Mieter rigoros ausnehmen. Jeden Samstag schickt er seine Verwalter los, seine Miete einzutreiben, was sich manchmal schwierig und für den Eintreiber durchaus gefährlich gestaltet. Das ist „Herrn Gutversorgt“ egal: „Ich bin der Typ von Hausbesitzer“, sagt er, „der von alledem nichts wissen will.“ Und es stehe ihm durchaus zu, „meine wohlverdiente Ruhe zu genießen. Ein bewundernswerter Ausdruck“, meint Léon Bloy, und wieder einer dieser BÜRGER Gemeinplätze: „Wenn Ihnen jemand von ‚wohlverdienter Ruhe‘ erzählt, glauben Sie mir, beschnuppern Sie ihn mit größtmöglicher Aufmerksamkeit.“ Es wird nach Fäulnis und Verkommenheit riechen, nach Selbstgerechtigkeit und Niedertracht. Schon nach wenigen „Auslegungen“ haben wir die Sache so in uns aufgenommen, dass wir selbständig weitermachen können. Nur vielleicht nicht so elegant, wort- und ideenreich wie der Zorn-Meister Bloy selbst. Versuchen wir’s: „Allzu viel ist ungesund“ (= nichts ist geschuldet), „Ohne Schweiß kein Preis“ und „Auf Regen folgt Sonnenschein“ (= Der Schweiß-Preis anderer für BÜRGERs Gewinn). „Glück haben“ besagt dann so viel wie Schlägen entgehen oder dem Ruin grade noch mal entgangen zu sein.

Die Sprache des Bürgers

Worum handelt es sich im Grunde und was sind die Gemeinplätze, wenn nicht die Sprache des BÜRGERs? Die Sprache des BÜRGERs, geben Sie Acht!“ Nehmen wir „Es ist nie zu spät, etwas Gutes zu tun“: „Wenn Sie sich in Stücke reißen lassen und ihm alles geben, was Sie besitzen, wird er ohne Zweifel denken, Sie täten nur Ihre Pflicht, etwas spät vielleicht, aber doch nicht zu spät. Wenn er umgekehrt Mittel und Wege findet, Ihnen Ihr Geld zu nehmen, Ihr Haus, Ihr Weib oder Ihnen sogar das Fell über die Ohren zu ziehen … Er tut sehr gut daran, absolut gut und genau zur richtigen Stunde, weil das die Stunde seiner wahren Willkür ist, die nie zu spät schlägt.[4]

Die bürgerliche Wissenschaft …

Aber da gibt’s ja noch die Natur und die Wissenschaft?! Könnte die Natur nicht alles noch richten. Aber aus der schönen Natur ist die Natur des BÜRGERs geworden, „einer abscheulichen Legion mit Millionen von bösartigen und verworrenen Stimmen“. Natur wurde zum sozialdarwinistischen Daseinskampf. Leben heißt sich am Leben halten. „Heute spricht man nur noch von Mikroben, und die Natur wird durch die Spritze ersetzt.“ Und nicht alle wollen gespritzt werden – das bringt den BÜRGER auf. Er sieht darin einen Aufstand gegen die bürgerliche Natur.[5]

Dem folgt auch die Wissenschaft. Sie wird zur Spritzen-Disziplin. Léon Bloy nennt sie „das labarum, die Kreuzfahne für Schwachköpfe“. „Die Verwesung beklagte sich, keinen eigenen Propheten zu haben. Also kam Pasteur … und endlich ist die Mikrobe, mit einer Verspätung von sechstausend Jahren auf ihre Erschaffung aus dem Nichts hervorgetreten. … Die Suche nach diesem kleinen Untier tritt an die Stelle des alten Geistes der Kreuzzüge.“  Der Kreuzzug der Wissenschaft. Und nicht die alten Kreuzzüge, sondern das moderne Wissenssurrogat der Wissenschaft stachelt Léon Bloys Zorn an. „Man will nichts mehr wissen, es sei denn Wissenschaft, und jede Hanswursterei fordert ihr eigenes Tierchen.… Am Institut Pasteur hat man eine ganze Schar von nützlichen Idioten, die sich ausschließlich der Erforschung von Fäulnis erregenden Mitteln verschreiben“ – mit dem Ziel „Infektionsnährstoffe zu verabreichen“ und den „Körper zu Gefäßen von Schwären zu machen“.[6]

… und der liebe Gott

Von der Wissenschaft ist gegen den BÜRGER keine Hilfe zu erwarten. Und auch die „amtliche“ Religion hilft nicht weiter. Sie spricht inzwischen vom „lieben Gott“,[7] einem Ladenhüter, der auf allerlei Weise angepriesen wird: „Der liebe Gott wird Ihnen beistehen …, der liebe Gott nimmt sich Ihrer an … der liebe Gott für alle …, der liebe Gott ohne Konfession …“. Es gibt keinen lieben Gott, schreit Léon Bloy, nur einen großen! Stellen wir uns einen Märtyrer vor, der dieser Verniedlichung folgen könnte?! Was soll der BÜRGER auch damit anfangen, dass man ihm sagt, „er solle seinen gesamten Besitz den Armen geben“ (Matth 19, 21)? Der Jüngling bei Matthäus wendet sich daraufhin traurig ab (abiit tristis). Der Bürger macht das Beste draus: er wendet sich anderen Geschäften zu, weil hier wohl kein Gewinn zu machen ist und er auf das ewige Leben dann doch lieber verzichten kann. Der BÜRGER stirbt „ohne Beichte“, „weil sonst Wiedergutmachung geleistet werden müsste“ und das fürchtet nicht zuletzt seine Familie, die deshalb den Priester erst dann zu rufen erlaubt, wenn alles zu spät ist.[8]

Düstere Moderne …

Es ist eine düstere Welt, die Léon Bloy da als Moderne zeichnet. Die Gemeinplätze sind verbürgerlicht und argumentativ nicht mehr zu gebrauchen. Auf Vernunft ist nicht (mehr) zu hoffen. Sie ist als „Widerpart des Glaubens“ nichts (mehr) als Aberglauben. Man könnte vielleicht in Anlehnung an das bekannte Adorno Wort sagen: es gibt keine Begründung aus Falschem, aus ihm folgt beliebiges und jedenfalls keine Einsicht.[9]  Es ist die Welt „des letzten Menschen“ aus Nietzsches Also sprach Zarathustra.

… und das Feuer Léon Bloys

Das Feuer des Zorns

Léon Bloy setzt dagegen auf eine „urchristliche“ Emphase, auf eine unbedingte Ergebenheit ans „göttliche Jenseits“ und auf die Armut, der er selbst zeit seines Lebens ausgesetzt war. Ihre stärkste Kraft liegt wohl darin, dass es Gegenbilder der Bourgeoisie sind. Und er setzt aufs Feuer. Im Buch der Richter wird die Geschichte von Simson erzählt, der dreihundert Füchse an den Schwänzen zusammenbindet und sie schließlich anzündet, um die verzweifelt rasenden Füchse die Felder der Philister zerstören zu lassen. Léon Bloy spielt mit dem Gedanken eines „modernen Simson, der Feuer an dreihundert BÜRGER legte und sie auf die anderen losließe“. In den Tagebüchern lassen sich Stellen finden, in denen Léon Bloy „Feuerskatastrophen“ als hilfreiche Zeichen kommentiert: „Gestern abend großes Brandunglück im Charitasbazar. In weniger als einer halben Stunde fand eine große Zahl schöner Damen einen kläglichen Feuertod. Non pro mundo rogo, sagt der HErr. […] Man stelle sich doch bitte vor: so reiche Leute, in ihren allerschönsten Gesellschaftstoiletten, Leute, die ihre Equipagen vor dem Eingang stehen hatten! Ihre herrlichen Wagen nun für alle Zeit herrenlos! Und das alles aus Liebe zu den Armen! Jawohl! Wenn man reich ist, so bedeutet das doch, dass man für die Armen ein Herz hat! Die prächtigen Abendkleider sind ja ein Lohn für die Liebe, die man der Armut entgegenbringt.[10] Und über einen Brand in Chicago notiert er: „Ich erfahre mit Befriedigung [sic!] von dem Brand des Chicagoer Irokesentheaters. Diese trostreiche Einäscherung bedeutenden Unternehmerbesitzes lässt mich wieder einmal an den von mir so oft vorausgesagten Brand von Paris denken.[11] Das Feuer versetze „die erbärmlichen Schwachköpfe … in Angst und Schrecken“ und gäbe Ihnen eine „göttliche Vorahnung“.[12]Der so natürliche Gedanke: ‚Gott schlägt zu, also ist sein Schlag gerecht‘ ist augenscheinlich niemanden gekommen“, beschließt er seine Notiz zum Brand im Charitasbazar.

Sein deutscher Übersetzer und Herausgeber Hans-Horst Henschen spricht hier von der „dunklen, terroristischen Nachtseite Léon Bloys“. Sie gehört wohl zu diesem absonderlichen Autor dazu. Sie ist wohl das Resultat einer verzweifelten Aporie: aus den Gemeinplätzen des Gemeinen scheint es keinen vernünftigen Ausweg mehr zu geben. Franz Kafka sprach in „Das Stadtwappen“ von einer Riesenfaust, die in fünf Schlägen die Stadt zermalmt und Walter Benjamin beschwor den „Engel der Geschichte“, beides bewundernde Leser von Léon Bloy. Wir dürfen im „Feuer“ wohl kein politisches (terroristisches) Programm sehen; es bezeichnet nur eine Leerstelle, eine Ausweglosigkeit.

Das nimmt dem Text freilich nichts. Es ist schon erstaunlich, wie Léon Bloy seine Leser zu Mitautoren macht. Serdar Somuncu beschimpft regelmäßig sein Publikum, sie wollten von ihm das Pornographische, Rassistische und Gewalttätige hören, das sie in ihrem Kopf mit sich rumtragen. Léon Bloy zeigt uns, dass wir uns jedenfalls gut in den Gemeinplätzen des Gemeinen auskennen und sie wohl wirklich ein Teil der Welt sind, die wir die moderne nennen. Ich bin mir sicher, Léon Bloy fände heute immer noch vieles, was in ihm den Zorn schürte, der uns Erkenntnis brächte.

[1] Die erste deutsche Übersetzung gab’s erst 1995. Damals in der unverdächtigen, von Hans Magnus Enzensberger und Franz Greno aufgelegten „Die Andere Bibliothek“, die auf „Originaliät und Qualität“ setzte und viele „vergessene“ Autoren wiederentdeckte. 2009 wurde die „Auslegung“ dann in der von Jean-Jacques Langendorf und Günter Maschke begründeten „Bibliothek der Reaction“ wieder aufgelegt.

[2] Léon Bloy typisiert den Bürger und macht ihn zum terminus technicus der moralischen Verurteilung. In der deutschen Übersetzung wird er in dieser Bedeutung in Großbuchstaben geschrieben – im Französischen Original wohl mit Majuskel B. Bloy greift hier den christlichen Brauch auf, Gott als den einzigen GOTT und ihn als den HERRN ebenfalls in Großbuchstaben zu drucken, um ihn von anderen (falschen) Göttern oder Herrn abzuheben. Der BÜRGER hat sich selbst zum Gott erklärt und führt ein GOTTloses Leben.  

[3] A.a.O, XII, S. 38f.

[4] A.a.O., CVIII, S. 143.

[5] Cf. a.a.O., CXXIII, S. 160.

[6] Cf. a.a.O., CXXIV, S. 161f.

[7] Cf. a.a.O., CXXII, S. 159f.

[8] Cf. a.a.O., CXXXII, S. 170ff.

[9] Adorno sprach davon, dass es „kein richtiges Leben im falschen“ gäbe und die Tradition von ex falso quodlibet. Cf. a.a.O., CXXV, S. 163.

[10] Journal, 5. und 8. Mai 1897: cf. a.a.O., S. 385.

[11] Journal, 1. Januar 1904, cf. a.a.O., S. 384.

[12] Cf. a.a.O., CXXI, S. 158.

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