Die Schwierigkeit, es ernst zu meinen

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Alles wird heute sehr ernst genommen, weil es ernst um uns steht. Wer den Klimawandel nicht ernst nimmt, der ist kein Spaßvogel oder Ironiker, er ist ein Barbar, eine persona non grata. Und das obwohl „man“ seit der Postmoderne auf Ironie schwört.[1] Der metaphysische Ernst sollte die Philosophie verlassen und einem Spiel mit Denkstilen Platz machen. Weltanschauungen gibt es eben nur im Plural und ohne, dass eine für sich „Supremacy“ beanspruchen dürfte.

Systemtheorie trifft Postmoderne

Aber diese Zeiten sind vielleicht vorbei. Bereits vor 15 Jahren hat sich der Soziologe Dirk Baecker auf seine Weise damit auseinandergesetzt: seine Weise, das heißt systemtheoretisch. Er wollte wissen was Ernste Kommunikation sei, oder – so der Untertitel seines Aufsatzes: Die Schwierigkeit, es ernst zu nehmen.[2] Die systemtheoretische Beschreibung von Dingen, die wir lebensweltlich völlig anders verstehen, geben gelegentlich tatsächlich verblüffende Einsichten.[3] Technische Systeme z.B. werden mit Lebewesen verglichen et vice versa und daraus Steuerungsimpulse gewonnen. Soziale Interaktionen werden umgekehrt als Systeme verstanden, die dann über geeignete Medien ausgerichtet werden können. Der Erkenntnis- bzw. Steuerungsgewinn rührt gerade daher, dass sie eben nicht aufeinander reduziert werden können und sich wesentlich unterscheiden. Modelle bilden die Wirklichkeit in bestimmter Hinsicht ab ohne sie zu „ersetzen“: die Wirklichkeit ist kein Modell. Die systemtheoretische Modellierung der Kommunikation gibt dementsprechend einen neuen Blick auf postmoderne Affekte gegen die alteuropäische Ernsthaftigkeit ohne freilich – so scheint mir – die Frage nach dem Ernst ernsthaft zu beantworten.

Dirk Baecker auf dem Soziologentag 2016 in Bamberg

Dirk Baecker nimmt seinen Ausgangspunkt am postmodernen Verständnis der Moderne und bringt es sehr überzeugend auf den Punkt: „Die europäische Moderne pflegt ein äußerst eigentümliches Verhältnis zum Ernst. In gewisser Weise ist er ihr abhanden gekommen. Es gibt ihn nur noch als Ernst der Verhältnisse, und in diesen Verhältnissen tendiert er mal zum Katastrophalen, mal zum Absurden, mal zum Hilf- und Ratlosen. Aber es gibt ihn nicht mehr als Ernst eines Gespräches. Wer ernst miteinander spricht, macht sich auf eine eigentümliche Weise entweder verdächtig oder lächerlich.

Die Lage ist ernst

Die Lage – das dürfte sich in den letzten 15 Jahren noch verschärft haben – gilt als „ernst“, weil die Dinge so sind wie sie sind, nämlich „katastrophal“. Die Welt ist am Abgrund, das bedarf demnach keiner ernsthaften Diskussion. Überhaupt bedarf die Einsicht in die Wirklichkeit keiner Ernsthaftigkeit. Systemtheoretisch zeigt sich das an der Art der Kommunikation, die man Wissenschaft nennt. Systemtheoretisch ist gelingende Kommunikation immer unwahrscheinlich und benötigt daher ein Medium, über das man sich austauschen und den Austausch in Anschlusshandlungen umsetzen kann. Für die Wissenschaft ist das die Wahrheit von Aussagen: „Die Wahrheit, das Kommunikationsmedium der Wissenschaft, koppelt im Unterschied zur Macht nicht das Handeln, sondern das Erleben des einen an das Erleben des anderen. Was als wahr erlebt wird und was fast immer mit dem Index der Abweichung vom gewohnten Wissen, der Überraschung und des Neuen versehen ist, kann gerade dann als wahr erlebt werden, wenn der andere es nur erleben muß, daraus aber noch keine Konsequenzen für die Auswahl von Handlungen gezogen werden müssen. Was jemand tut, wenn er etwas als wahr eingesehen hat, bleibt ihm überlassen.“ Eine „als wahr erlebte“ Aussage muss man nicht „ernst nehmen“, damit sie wahr bleibt.

Behauptungen über die Welt – so könnten wir Systemtheorie-frei sagen – sind wahr oder falsch; wir müssen sie dafür nicht „ernst meinen“. Meinen wir Behauptungen nicht „ernst“, dann soll das vermutlich zum Ausdruck bringen, dass wir sie gar nicht behaupten und uns nicht verpflichtet fühlen, sie zu begründen.[4]

Von diesem „Ernst erster Ordnung“ – also dem „Ernst der Welt“ oder des Lebens – der von uns (systemtheoretisch) keinen Ernst fordert, sondern nur Optionen für Anschlusshandlungen freigibt, unterscheidet Dirk Baecker einen „Ernst zweiter Ordnung“, der sich auf die Kommunikation bezieht. Aber auch hier ist systemtheoretisch alles über das Kommunikationsmedium vorreguliert. Das zeigt sich schön an der Kommunikation im gesellschaftlichen Subsystem Wirtschaft: „Das Kommunikationsmedium Geld stellt den Erfolg von Zugriffen auf knappe Güter nicht dadurch sicher, daß derjenige, der zugreift, signalisiert, daß er ernsthaft Hunger hat, sondern dadurch, daß er seine Knappheit an Geld im gleichen Moment steigert, in dem er seine Knappheit an Gütern reduziert. Dann ist derjenige, der ihm zusieht und der auch Hunger hat, geneigt, stillzuhalten. Nicht der Ernst des Bedürfnisses, sondern die Unterwerfung unter eine kommunikative Regelung, nämlich die der Bezahlung für Zugriffe auf das Eigentum anderer, macht Wirtschaft möglich.

Wer das Medium durch Ernsthaftigkeit ersetzen oder verstärken will, der begeht so etwas wie einen Kategorienfehler. Er möchte gesinnungsneutrale Kommunikation durch Gesinnungsstärke aufwerten. Wer etwas „ernst meint“, von dem glaubt man deshalb, dass er nicht auf der Höhe der Zeit und gleichsam historisch naiv sei. „Wer es ernst meint, dem fehlt etwas. Darum muß, wer es ernst meint, dies mit einem augenzwinkernden Verweis auf die Verhältnisse kommunizieren. Er muß zeigen, daß er es auch nicht ernst meinen könnte. Sonst wird er nicht ernst genommen.

Ist das alles, was wir zur Schwierigkeit, etwas ernst zu nehmen, sagen können? Die Systemtheorie liefert hier keine Antworten – und vermutlich ist das auch gar nicht ihr Ziel. Sie orientiert sich an Steuerungsproblemen, für die sie durch „systemtheoretische Rekonstruktion“ Steuerungsmöglichkeiten bzw. -impulse erschließen will. Was etwas „ist“, bleibt demgegenüber ausdrücklich abgedunkelt: es soll nur gezeigt werden, dass es hilfreich ist, es so zu beschreiben „als ob“ es ein System wäre und es gleichsam wesensfremd zu behandeln. Diese „systemtheoretische Rekonstruktion“ bittet jedenfalls eine durchaus plausible Erklärung, warum der „europäischen Moderne“ der Ernst „abhanden gekommen ist“.

Was ist Ernst

Blickt man in die philosophische Tradition dann ist ernst oder ernsthaft (σπουδαῖος) zunächst meist gleichbedeutend mit gut (ἀγαθóς). Der Ernste kümmert sich ernsthaft um das, worum man sich kümmern muss: er ist der gute, tüchtige und rechtschaffene Mensch. „Der gute, ernsthafte Mann (ὁ σπουδαῖος) ist gut, weil er Tugend hat und wegen der Tugend wird er guter, ernsthafter Mann (σπουδαῖος) genannt.[5] Er ist gut, weil er nach dem Richtigen strebt, nicht weil er richtig (aufrichtig) nach irgendetwas strebt. Aber die „moderne“ Bedeutungsverschiebung ist bereits angelegt: den Ernst (σπουδή) kann man nämlich nur über sein Gegenteil, das Spiel (παιδιά), den Scherz (γέλως) oder die Ironie (εἰρωνεία) verstehen.

Der Ernst ist also notwendig auf die Ironie verwiesen, die seit der Romantik den Ernst hintertrieben, schließlich entmachtet und lächerlich gemacht hat. Die Ironie hat vor allem die moderne Kunst und Ästhetik erobert – das ist ein weites Feld über das seither viel geschrieben und diskutiert wurde. Als rhetorische Figur wird mit ihr – meist in spöttischer Absicht – etwas anderes gesagt als man meint. Im Römischen sprach man seit Cicero von dissimulatio, also eine Verstellung oder verwirrende Simulation.[6] Der Ernste dagegen verstellt sich nicht und sagt, was er denkt. Das klingt so naheliegend, dass man zunächst gar nicht versteht, worin der Vorrang der Ironie liegen sollte. Worin liegt – ohne Betrugsabsicht[7] – der „Gewinn“, das, was man „eigentlich“ meint, hinter etwas zu verstecken, was man gar nicht sagen will. Die Ironie muss als Ironie ja kenntlich und vom Gesprächspartner wahrgenommen werden. Nichts Schlimmeres als dass unsere Ironie ins Leere läuft und am Ende erklärt werden muss – das ist nicht gut, das ist einfach nur schlecht, nämlich unverständlich gesprochen. Mit diesem Risiko lebt der oberschlaue Ironiker immer, dass er nämlich seine Gesprächspartner für „schlauer“ hält als sie sind. Man spielt mit einem Verständnis, das anderen ernst ist oder man gemeinhin ernst nimmt. Durch Übertreibung oder Kontextverschiebung zeigt sich, dass das, was „man“ glaubt eben doch nur ein Glauben und keine gesicherte Wirklichkeit ist. Die Dinge werden durch dissimulatio offen gehalten, damit der Gesprächspartner sie – sich vom „Man“ der verbreiteten Gemeinplätze distanzierend – füllen kann. Seine Zugabe ist die Zustimmung zum Insinuierten. Wir ironisieren, damit der andere es ernst nehmen kann.

Tatsächlich gibt es – um mit Platon zu sprechen – keinen Ernst ohne Ironie.[8] Tiere meinen nichts ernst, weil sie nichts ironisieren oder eben nicht sprechen. Die eigene Position ist eine, die sich von anderen bewusst unterscheidet und sich auf sie ausdrücklich bezieht. Das Eigene im Lichte der Anderen darzustellen, heißt zu sprechen. Sprache ist ironisch und deshalb können wir ernst sprechen und etwas ernst meinen. Was taugt die Versicherung, dass es einem mit dem Geäußerten ernst sei? Sie versucht dem Unplausiblen und Unwahrscheinlichen des Kommunizierten zu begegnen: ja, ich weiß, es klingt seltsam (für euch), aber es ist wirklich wahr. Ich meine es – zu eurem Erstaunen – so wie ich es sage. Und der, der etwas ausdrücklich ernst meint, weiß im Spiegel der Anderen um das Besondere seiner Position. Ich weiß von eurem Erstaunen und gerade deshalb sage ich das so, wie ich es meine.

Gleiches gilt fürs Ernstnehmen. „Ich muss/will das ernst nehmen!“ Man könnte es auch weniger ernst nehmen, aber das wäre ein Fehler und würde die Lage verkennen. Etwas ernst zu nehmen, weiß um die Differenz zwischen dem Gesagten/Wahrgenommenen und dem Gemeinten/Beabsichtigten. Wir nehmen etwas ernst, weil wir es auch spaßig finden könnten. Etwas ernst zu nehmen bekennt also nicht die Festigkeit einer Gesinnung, es behauptet die Richtigkeit einer Einschätzung.

Ein Phänomen, das für die postmoderne Revolte gegen den Ernst immer wieder herangezogen wird, ist die ironische Distanzierung von Rollen und Rollenklischees. Dirk Baecker beruft sich ebenfalls darauf. Personen nehmen Rollen ein oder wahr – die berufliche Rolle als Lehrer oder Polizistin, Krankenschwester oder Gerichtsvollzieher – ohne in ihnen aufzugehen. Das gilt auch für private Rollen wie Vater oder Kegelbruder, Klimaaktivistin oder Oma. Was mir von der einen Rolle abverlangt wird, ist für die andere gleichgültig oder gar rollenwidrig: während ich mich als Kirchengemeinderatsmitglied um die Frömmigkeit meiner Gemeinde sorgen muss, hat die religiöse Gesinnung bei meiner Arbeit als Polizist keine Rolle zu spielen. Wir konzentrieren uns auf unsere Rolle, indem wir uns zugleich von ihr distanzieren. Wir können sie „ironisieren“ und uns über sie und uns, die wir sie ausfüllen, lustig machen. Das wussten auch die Alten. Nur scheint die Dominanz der Rolle nicht mehr so stark und die Personen durch ihre Rolle(n) nicht mehr so klar bestimmt. Natürlich war man auch im „alten“ Europa Familienvater und Bürger, Sünder und Arzt, Rechtsanwalt oder Kaufmann. Aber die Rolle des Familienoberhaupts war vergleichsweise klar umrissen und als Arzt, Rechtsanwalt oder Kaufmann gehörte man zu den Honoratioren, deren Person in gewissen Sinn mit den Rollenerwartungen verschmolz. Man ironisierte sich wohl etwas weniger und verstand die Rollen mehr als etwas, das durch die Natur vorgegeben schien. Das schloss Ironie freilich nicht aus – wie wir bei Shakespeare oder Moliere, Boccaccio oder Cervantes leicht sehen können. Man kann es mit der Ironie übertreiben und in der Distanzierung keine Nähe mehr finden. Wir können (und sollen) nicht alles – auf gleiche Weise – ernst nehmen. Wir können (und sollen) nicht alles ironisieren. Sich von etwas abgrenzen hat den Sinn, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wem das nicht gelingt, lebt falsch. Ihm fehlt – klassisch gesprochen die Tugend, die Schwierigkeit zu meistern, das Richtige ernst zu nehmen.

Epilog

Mit Blick darauf ist es doch gut, dass Philosophie systemtheoretisch nicht ersetzt und allenfalls übertroffen werden kann. Man kann über Philosophie hinausgehen, wie man das gelobte Land auf der Suche nach neuen Geschäftsfelder durchqueren kann, um dann in moderne angrenzende Landschaften einzureisen. Man lässt dann etwas hinter sich, mit dem „man“ nichts anfangen kann und die „Schwierigkeit, es ernst zu nehmen“ nicht mehr meistern zu können glaubt.

[1] Siehe Richard Rortys programmatisches Buch Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1991.

[2] Merkur 579, Juni 1997. Der Merkur bietet unter dem Titel Zweite Lesung, Die besten Texte aus über 70 Jahren Merkur eine Auswahl von Beiträgen an, die nach Ansicht von „Freunden und Wegbegleitern“ eine nochmalige Beachtung verdienen: im Gespräch mit den Merkur Herausgebern Christian Demand und Ekkehard Knörer erläutern die „Text-Paten“, warum der jeweilige Text besondere Beachtung verdient.

[3] Indianer beschrieben die Eisenbahn als Dampf-Roß, die mit Kohlen gefüttert und an Wasserstationen getränkt wurden. Das mag uns naiv vorkommen. Aber sie konnten daraus z.B. ableiten, dass es Futterstationen geben musste, die man angreifen konnte.

[4] Es sind dann vielleicht Forschungshypothesen, die nicht behaupten, dass die Welt sich so verhält, sondern dass sie sich so verhalten könnte und dafür

[5] Aristoteles De Cat. 8, 10b5ff: οἷον ἀπὸ τῆς ἀρετῆς ὁ σπουδαῖος· τῷ γὰρ ἀρετὴν ἔχειν σπουδαῖος λέγεται,

[6] ea dissimulatio quam Graeci εἰρωνείαν vocant (Lucullus sive Academia II 5, 15)

[7] Tatsächlich ist die Ironie immer bemüht sich von „Lug und Betrug“ abzugrenzen. Man will nicht etwas um willen anderer Zwecke sagen, was man gar nicht meint.

[8] Platon spricht von „dem mit dem Ernst verschwisterten Spiel“ (τῇ τῆς σπουδῆς ἀδελφῇ παίδιᾷ)

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