Die Götter sprechen griechisch

Lesedauer 7 Minuten

Die Auslage im Museums-Buchladen drängte mir ein Buch auf, das den erstaunlichen Titel Warμm Λltgriεchisch gεniαl ist entgegenschrie und an dem ich selbstredend nicht vorbeigehen konnte. Es wollte – so der Untertitel – eine Liebeserklärung an die Sprache sein, mit der alles begann.[1] Ein flüchtiger Blick ins Inhaltsverzeichnis genügte und schon wurde es zur Kasse und schließlich nach Hause getragen.

Andrea Marcolongo, 2018

Dort und nach der Lektüre der Einleitung, die ich noch auf dem Weg las, googelte ich die Autorin Andrea Marcolongo, eine italienische Schriftstellerin und studierte Altphilologin. Verblüfft nahm ich zur Kenntnis, dass das Buch inzwischen in mehr als fünf Sprachen übersetzt wurde und weltweite Verkaufserfolge hat. Allein in Italien hat es sich nach WikiLückia 2016/17 150.000 mal verkauft. Wohlgemerkt ein Buch über Altgriechisch! Wer liest denn so was – außer mir? Vielleicht auch bald Sie?! Ich kann’s empfehlen. Es ist flott geschrieben und macht die Begeisterung spürbar, die die Autorin für diese „tote“ Sprache hat. Man muss nicht Altgriechisch können, um dem Buch etwas abzugewinnen. Mit Blick auf die Besonderheit dieser „toten“ Sprache zeigt die Autorin, was es heißt eine Sprache zu sprechen und in ihr zu leben.

Die Sprache prägt unser Welt- und Selbstverständnis. Wer eine neue Sprache lernt, entdeckt eine neue Art die Welt zu sehen. Damit nehmen wir nicht zuletzt wahr, wie wir selbst die Welt wahrnehmen. Es ist eben nicht selbstverständlich, die Dinge so und nicht anders zu sehen und das heißt, von ihnen so und nicht anders zu sprechen. Am Fremden erfahren wir das Eigene. Die alte Sprache liefert Einsichten in das Neue unserer eigenen. Auch für diejenigen, die Altgriechisch ein bisschen lesen können – so wie meinereiner – können bei Andrea Marcolongo eine Menge Neues über sich erfahren. Vieles wird viel klarer, was den Reiz und die Besonderheit des Altgriechischen und unseren Abstand von den „alten“ Griechen ausmacht.

Das Unbestimmte

Nehmen wir den Aorist. Er ist eine Form, die das Verb annehmen kann. Nomen est omen: der Aorist (ἀόριστος) ist A-oristos, das Unbestimmte, das keine Begrenzung hat (von ὁρίζω, begrenzen). Wir würden von einer Temporalform sprechen. Sprachen haben Temporalformen (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft). Aber das muss gar nicht so sein – oder jedenfalls nicht ganz so, wie wir das im Deutschen und in den meisten „modernen“ Sprachen kennen. Wer sich mal mit dem Altgriechischem beschäftigt hat, der mag wissen, dass die „Tempusstämme“ dort eigentlich „Aspektstämme“ heißen müssen. Der „Präsensstamm“ bezeichnet den sich vollziehenden Vorgang, der „Perfektstamm“ das Ergebnis des Vollzugs und der „Aoriststamm“ den Vorgang als solchen „vollkommen unabhängig von seiner Dauer“. Andrea Marcolongo gibt das Beispiel eines Wirts und zweier Gäste, die die Zecke prellen wollen. Für das Verb fliehen (φεύγειν) prägt sich das so aus:

Präsensstamm (φεύγουσιν): „Beim Zeus, sieh dir das an, die hauen ab.
Aoriststamm (ἔφυγον): „Beim Zeus, diese beiden Halunken werden doch wohl nicht etwa abhauen wollen.“ – es nicht aufs Abhauen anlegen.
Perfektstamm (πεπφεύγασιν): „Möge Zeus diese beiden Bastarde mit dem Blitz erschlagen, sie sind abgehauen!

Was uns im Deutschen sofort an Gegenwart und Vergangenheit – oder eben an die Zeit – denken lässt, ist im Griechischen ein Aspekt der Handlung selbst. Die „Zeiten“ entspringen gleichsam dem Handlungsaspekt, der Perspektive der Handlung. Die Welt sieht unter diesem Aspekt anders aus.

Die Sichtbarkeit der Welt

Das Meer schimmert und glänzt

Apropos: Sichtbar sind Farben und die scheinen die alten Griechen ganz anders gesehen zu haben – jedenfalls sprechen sie ganz anders darüber. Nicht nur Goethe und Nietzsche haben sich über die merkwürdige Farbblindheit der Griechen gewundert. Bei Homer gibt es eigentlich nur vier Farben „das Weiß der Milch, das Purpurrot des Blutes, das Schwarz des Meeres sowie das Gelbgrün des Honigs und der Felder“. Verblüffend ist vor allem, welche Dinge oder Eindrücke derselben Farbe zurechnet werden. Xanthos (ξανθός) z.B. wird als Farbe des Getreides und der blonden Haare, aber auch des „rötlichen Feuerscheins, der die Nacht erhellt oder des orangefarbenen Balls der untergehenden Sonne“ gesehen. Das Warme wird so bezeichnet. Γλαυκός hingegen benennt die Farbe von etwas, das leuchtet und strahlt, glitzert und glänzt; es ist die Farbe des Schimmerns des Meers, aber auch der Augen Athenes oder von nassem Gras – ohne dass wir es auf unser blau oder grau oder grün festlegen könnten: „Wie anders sahen die Griechen in ihre Natur“, schreibt Nietzsche, „wenn ihnen, wie man sich eingestehen muss, das Auge für Blau und Grün blind war, und sie statt des Ersteren ein tieferes Braun, statt des Zweiten ein Gelb sahen […] wie anders und wie viel näher an den Menschen gerückt musste ihnen die Natur erscheinen, weil in ihrem Auge die Farbe des Menschen auch in der Natur überwogen, und diese gleichsam in dem Farbenäther der Menschheit schwamm!“.[2]

Ähnliches finden wir bei der Zuordnung von Geschlechtern. „In vielen Sprachen, so auch im Italienischen, können wir den Dingen dieser Welt – ihrem Aussehen, ihrer Farbe und ihrer Natur – nur zwei Geschlechter geben.“ Das Altgriechische verfügt wie das Lateinische und das Deutsche über ein drittes „Geschlecht“, das Neutrum. Dass der Herr männlich und die Frau weiblich sind, versteht sich von selbst. Das Kind aber ist (noch) sächlich?! Bei der Gabel sprechen wir von „sie“, der Löffel ist dagegen ein „er“ und nicht sächlich wie das Messer. Kann man erklären, warum das Meer, im Französischen la mer heißt, im sprachlich doch recht verwandten Italienischen aber il mare? Das Altgriechische orientiert sich an einer Intuition, die das Leben der Griechen und ihre Weltanschauung zutiefst bestimmte. Das Leben ist männlich und weiblich und hebt sich ab vom Nicht-Lebendigen oder Toten. Es gibt Beseeltes und Seelenloses, das eine ist männlich und weiblich, das andere eine neutrale Sache. Wie subtil und voller Lebensgefühl die griechische Sicht ist, zeigt sich z.B. bei Bäumen und ihren Früchten: der Birnbaum ist „natürlich“ weiblich, die Birne als („heruntergefallene“) Frucht aber eine Sache. Gleiches gilt für die Feige und den Feigenbaum. Nicht aber für die Olive – sie gibt ein für das griechische Leben höchst bedeutsames Öl, das allerdings dann wieder „nur“ eine Sache ist, wenn auch eine bedeutsame. Und so ist – natürlich – auch die Erde und das Meer weiblich, weil sie Leben hervorbringen – und auch die Handlung ist weiblich (ἡ πρᾶξις), weil sie etwas schafft und in die Welt bringt, das dann als Sache (τὸ πρᾶγμα) in der Welt ist, von der man sachlich sprechen kann.

Dieses Lebensgefühl, das sich am Beseelten ausrichtet, zeigt sich auch bei den Numeri. Das Altgriechische kennt drei: Singular und Plural – wie das Deutsche – und noch den Dualis, das, was immer zu zweit auftritt und ohne einander nicht denkbar ist: die Augen, die Ohren, die Hände, die Füße – aber auch Brüder und Freunde und natürlich vor allem Liebende. Es gibt nicht nur eins und vieles, sondern eins, das zu einem anderen dazugehört und als zwei gemeinsam angesprochen werden. Die Dinge gehören zusammen, vor allem aber werden sie vom Lebensgefühl des Sprechers als Zusammengehöriges wahrgenommen.

Als das Wünschen noch lebendig war

Der Sprecher und sein Selbst- und Weltverständnis kommt auch in einer anderen Eigentümlichkeit des Altgriechischen zum Ausdruck, die heute vor allem eine Qual für die Schüler ist, die Altgriechisch lernen wollen (oder müssen): der Optativ. Wenn wir in der Grammatik heute von Optativ sprechen, dann geht das „auf das lateinische Verb optare zurück, das ‚wünschen‘ beziehungsweise ‚sich etwas erhoffen‘ bedeutet“.

Wäre ich doch noch jung, und hielten noch stand meine Kräfte…“ So spricht Odysseus (Odyssee XIV 468) in der Übertragung von Anton Weiher. ἡβάω, ein vollkräftiger, jugendfrischer Mann zu sein, ist das, was sich Odysseus im ermüdenden Ausharren vor Troja wünschen muss (ἡβώοιμι) – es ist die mit seiner Situation zwangsläufig verbundene Sehnsucht. In der Blüte des Alters zum Kampf zu stehen (ἡβάω) muss für ihn die Form des Optativs (ἡβώοιμι) annehmen. Nur der Optativ beschreibt seine Lage richtig. Wir im Deutschen müssen uns in der Regel mit Konjunktiv-Konstruktionen behelfen, die etwas zusammenhalten (coniungere), nämlich das Wirkliche mit dem Möglichen (in Konditionalsätzen) oder die Erzählung mit dem Erzählten (in indirekter Rede). Der Optativ beschreibt dagegen eine Form des Daseins, nämlich das „Wie“ des Verhaltens oder Geschehens. Andrea Marcolongo zitiert (natürlich) die etwas poetischere Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt, der ἡβώοιμι/ἡβάω so wiedergibt: „Wollte Gott, ich grünte noch jetzt in der Fülle der Jugend…“. Bei Schadewaldt kommt das Optative des Zustands vielleicht tatsächlich noch besser zum Ausdruck.

Sich etwas zu wünschen – also etwa nochmal jung zu sein – ist dagegen eigentümlich beliebig und subjektiv willkürlich. Der eine wünscht sich das, der andere das. Der Eine möchte ans Meer, der Andere in die Berge, ein Dritter in die Wüste. Der Optativ dagegen macht den Vorgang zu einem, dem das Wünschen eigen ist. Wer seine Kindheit am Meer verbracht hat, dann aber um der Karriere willen in die Wüste geschickt wurde (), bei dem verbindet sich die Erinnerung mit einem sehnsüchtigen Wunsch. Jedes Handeln entspringt einem Streben, das sich mal ganz auf die Ausführung richtet oder sich in den „optativen“ Selbstbezug bringt. Wunderbar, oder?

Wer noch mehr von den wundervollen Dingen wissen will, die der Sprache eigen sind, „mit der alles begann“, muss Andrea Marcolongo lesen. Oh möge sie viele Leser finden.

[1] Andrea Marcolongo, Warum Altgriechisch genial ist. Eine Liebeserklärung an die Sprache, mit der alles begann, 3. Aufl. 2019.

[2] A.a.O., S. 148.