Die gefährliche Ignoranz vor der Ignoranz

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Nichts – das ist doch mehr als man glaubt. Der weitaus größte Teil des Universums besteht aus ihm – schlicht aus leerem Raum, in dem nichts aber auch gar nichts anderes ist als Nichts.

In Allem ziemlich viel Nichts

Der „leere“ Abstand zwischen Erde und Mond beträgt 384.000 km und der zur Sonne rund 150 Millionen km (also 150.000.000 km) und der nächste Stern außerhalb unseres Sonnensystems ist rund 40 Billionen km weg (also 40.000.000.000.000 km). Wir können uns unter diesen Dimensionen nichts vorstellen und das trifft es eben ziemlich genau. Gut vier Jahre ist ein Lichtstrahl von dort unterwegs um bei uns einzutreffen und er hätte auf seiner Reise vor allem eins gesehen: nichts. (Hier eine Dimensionsveranschaulichung)

Gut, aber zwischen Sonne und Erde kreisen ja immerhin Merkur und Venus, nicht die größten Planeten, aber immerhin … Nur, was da gelegentlich zwischen uns und die Sonne kommt, diese riesigen Dinger genannt Planeten sind auch vor allem Nichts: Sie bestehen aus Atomen und die wieder vor allem daraus. Nehmen wir das „einfachste“ Atom, das Wasserstoffatom, und veransch(l)aulichen uns die Größenverhältnisse indem wir den Atomkern auf einen Streichholzkopf vergrößern. Das umkreisende Elektron hätte dann die Größe eines Staubpartikels (nämlich 0,1 mm). Nun gut. In den Durchmesser des Atoms selbst (der Atomhülle) aber fände der Eifelturm Platz und das Elektron würde den Kern in etwa 150 Meter Abstand umkreisen, in dem weiter nichts ist.

Das Universum ist vor allem Nichts. Vieles – eigentlich alles – in ihm geschieht aus dem Nichts. Und dass nichts geschieht, das geschieht eigentlich viel häufiger als dass irgendwas geschieht – von Bedeutsamen mal ganz zu schweigen. Bedeutsam ist es für uns vor allem, wenn es Chancen und Risiken bietet. Vor allem die Risiken finden viel Beachtung. Es sind Schäden, die eintreten könnten – und wer will schon geschädigt werden? Aber gerade bei Risiken, weil sie ja in der Zukunft liegen, wissen wir nichts Genaues.

Das schwarze Loch der andern Hälfte

David Blastland hat in seinem mit viel Augenzwinkern flott geschriebenen Buch „The Hidden Half – How the World Conceals its Secrets“ (2019) viel Material zusammengetragen, das uns über unser Wissen oder besser eben unser Nicht-Wissen aufklärt. Von den vielen Dingen, die wir zu kennen glauben, wissen wir nichts oder jedenfalls nichts genaues ohne dass wir uns das zureichend bewusst und handlungswirksam machen.

Blastland gibt einige Beispiele von gescheiterten sozialpolitischen Maßnahmen, die auf vermeintlich sicheren Voraussagen beruhten, dann aber scheiterten und sichtbar machten, dass wir doch weniger von der komplexen Ausgangslage wussten, als wir glaubten. Notorisch falsch sind zum Beispiel die meisten Prophezeiungen von „Wirtschaftsweisen“ – obwohl sie chronisch falsch liegen, werden sie immer wieder zu Rate gezogen. Ihr Irrtum könnte am „psychologischen“ Effekt liegen, mit dem sie jeweils rechnen müssen: die wirtschaftlichen Voraussagen der Experten beeinflussen die wirtschaftlichen Akteure und machen sie falsch. Der Sinn von Prognosen ist ja, dass sie Maßnahmen auslösen, die dann die prognostizierten Ereignisse nicht eintreten lassen. Das ist dann so etwas wie inzwischen viel beschworene Präventionsparadox? Wir werden darauf zurückkommen.

Wenn wir uns von den „weichen“ Sozial- und Geisteswissenschaften entfernen und zu den „präzisen“ Naturwissenschaften gehen, dann finden wir allerdings oft kein anderes Bild.

Von Jungfrauenzeugung …

Blastland führt ein eindrucksvolles Beispiel aus der Biologie an. Marmorkrebse, die erst in den 1990iger Jahren in Aquarien in Deutschland auftauchten, zeigen ein merkwürdiges Verhalten. Sie vermehren sich ungeschlechtlich (parthenogenetisch) und die Nachkommen weisen in Größe und Aussehen beachtliche Unterschiede auf. Die beiden Erklärungsansätze, die die Wissenschaft für solche signifikante Unterschiede vorsieht, nämlich genetische Abweichung oder unterschiedliche Umweltbedingungen, konnten aber (experimentell) ausgeschlossen werden. Wir können uns also die auffälligen Unterschiede bei Marmorkrebsen einfach nicht erklären. (Vielleicht liegt es an der Parthenogenese, was wunderlich genug, ja Jungfrauenzeugung heißt – und das ist bekanntlich wirklich ein einmaliges Wunder und damit wissenschaftlich nicht erklärbar.)

… und anderem Wunderlichen

Und das ist gar nicht so selten. Auch bei Gegenständen, die uns weit mehr „angehen“ als die Fortpflanzung der Marmorkrebse, zeigen sich beunruhigende Grenzen unserer Erkenntnisse. Dass Rauchen alles andere als gesund ist, dürfte als gesichert gelten. Wir können sicher sagen, dass Rauchen das Leben der Raucher deutlich verkürzt. Der 100jährige Kettenraucher ist sicherlich eine (aus mehreren Gründen seltene) Ausnahme. Aber es gibt ihn und wir können uns nicht recht erklären, wie das möglich ist.

Es sind immer wieder die verwirrenden Geheimnisse der statistischen Erhebung, die zu einigen verblüffenden Annahmen führen. Nehmen wir das Beispiel von Krebsrisikos. In England wurde in einer Studie „nachgewiesen“, dass das Krebsrisiko um 20% steigt (!), wenn jeden Tag ein „full“ English Breakfast zu sich genommen wird (immerhin: 2 Eier, 2 Würstchen, mehrere Scheiben gebratener Speck, eine tüchtige Portion backed beans, gegrillte Tomaten, Champignons und zwei geröstet und gebutterte Scheiben Toastbrot – manchmal wird auch noch Blutwurst und Hering dazu gegeben). Macht Sinn, denken wir, denn das ist ja schon einiges, was wir nicht gerade gesund nennen, das da zum Dauerverzehr ansteht. Und 20% – das ist schon „signifikant“ und unbedingt ein Grund, sich beim Frühstück gesünder zu ernähren. Oder vielleicht doch nicht? Denn wie meist geschieht auch hier vor allem nichts. Das Krebsrisiko, das bei 5 von 400 lag, steigt also auf 6 von 400 an! Das aber bedeutet zugleich, dass für 399 der 400 Betroffenen sich gar nichts ändert – selbst wenn sie es in disziplinierter Selbstüberwindung auf sich nehmen an 360 Tagen im Jahr ein Full English Breakfast zu verdrücken und zu dieser Konsequenz werden nur die „Härtesten“ wirklich bereit sein. (Das Ganze wird ausführlich in dem 2015 gemeinsam mit David Spiegelhalter veröffentlichten „Wirst Du nicht vom Blitz erschlagen, lebst du noch in tausend Jahren“ dargestellt und zwar im Kapitel „Nichts“ ;-))

Numbers needed to treat

Nicht viel besser steht es mit der Wirksamkeit vieler Medikamente. Natürlich wissen wir alle um Nebenwirkungen von Medikamenten und dass sie mal mehr mal weniger helfen. Was dem einen bestens hilft, das wirkt beim anderen wenig oder gar nicht. Die sogenannte Number-needed-to-treat (NNT) gibt an, wie viele Patienten ein Medikament nehmen müssen, um für einen Patienten die gewünschte Wirkung zu zeigen. Blastland verblüfft uns dann (ausführlich im Kapitel „Cures for all but not for one“ unter Rückgriff auf einschlägige Studien) mit dem Nachweis, dass diese Kennzahl bei vielen Medikamenten erstaunlich hoch ist. Z.B. ist der beste Wert bei den zehn meist verkauften Medikamente in den USA 3 und das besagt, dass nur bei einem von vier Patienten das Medikament wunschgemäß anschlägt, während bei dreien diese Wirkung ausbleibt (auf Platz 3 der Top-Seller das Arthritismittel Humira, Enbtrel gegen Psoriasis und Remicade gegen Morbus Crohn auf Platz 7 und 8). Auf Platz 2 (Nexion gegen Sodbrennen), Platz 4 (Crestor ein Cholesterolsenkungsmittel) und Platz 6 (Advair Diskus für Asthmatiker) finden sich Pharmaka mit einem NNT von 24 und das besagt, dass damit „nur“ einem von 25 Patienten geholfen wird. Wer hätte das gedacht? Das sind freilich alles freigegebene und in ihrer Wirkung getestete Arzneimittel. Sie sind nicht wirkungslos – gemessen an der großen Zahl. Wir können nur nicht sagen, für welche Patienten sie tatsächlich wirken. Humira hilft unstrittig bei Arthritis, dunkel bleibt („hidden“), ob es die Beschwerden von Mr. Smith oder Mr. Jones lindert. In truth, even though we might know for sure that they [the drugs] work – probabilistically at the big scale – we can’t be sure when oder how often hey work, or don’t work, or for whom, or how much.Was für eine gewisse „Population“ im Allgemeinen wirksam ist, mag für einen Einzelnen nichts bringen (oder ihm sogar schaden).

In seinem richtungsweisenden Aufsatz „Sick individuals and sick populations“ von 1985 hat Geoffrey Rose gezeigt, dass die Behandlung von kranken Patienten („Why did this patient get this disease at this time?“) prinzipiell anders verfahren muss als diese Krankheit in einer „Population“ zu behandeln, d.h. die Häufigkeit oder die Schwere ihres Auftretens zu verändern. Vereinfacht ausgedrückt: was dem Einzelnen entscheidend hilft, ist für die Allgemeinheit nicht sinnvoll und was für die Allgemeinheit einen großen Effekt hat, zeigt für den Einzelnen keinen (oder allenfalls sehr geringen) (so das Präventionsparadox!). Wir müssen danach die Ursachen für die Krankheit eines Patienten von der Ursache der Inzidenz (Anzahl der Erkrankungen in einer Bevölkerungsgruppe) prinzipiell unterscheiden. Wer das eine weiß, weiß nichts vom anderen.

Allerdings bleibt es überhaupt schwierig, „Ursachen“ zu finden. Das erläutert Geoffrey Rose in seinem knappen Aufsatz recht anschaulich: die Ursachenanalyse braucht (1) die Unterstellung einer (gesunden) Normalität: „Individuals with ‘normal blood pressure’ are those who do not stand out from their local contemporaries; and so on. What is common is all right, we presume.“ Zugleich ist (2) eine genügend große Heterogenität notwendig: „Unfortunately this approach to the search for causes … has to assume a heterogeneity of exposure within the study population. If everyone smoked 20 cigarettes a day, then clinical, case-control and cohort studies alike would lead us to conclude that lung cancer was a genetic disease; and in one sense that would be true, since if everyone is exposed to the necessary agent, then the distribution of cases is wholly determined by individual susceptibility.Festgestellte Regelmäßigkeiten besagen nichts über die wirklichen Ursachen.

Mit verblüffender Regelmäßigkeit fallen Leute von Leitern, brechen sich dabei allerlei und nicht zuletzt das Genick. In England und Wales verunglücken dabei ziemlich konstant etwa 45 Personen jährlich. Die Ursachen sind natürlich immer unterschiedlich und wir müssen schon genauer hingucken, um zu verstehen, warum Mr. Smith abgerutscht ist und Mr. Jones nicht (obwohl beide lediglich vier fünf Pints von englischen Leichtbier getrunken hatten) oder der Sturz aus 1,80 m Höhe bei Mr. Tayler zu schadenfrohem Lachen aller Umstehenden führt während bei Mr. Brown auch der herbeigerufene Unfallarzt nur noch den Tod attestieren konnte.

Die relative „Stabilität“ der Unfälle auf Leitern ist z.B. für die Berechnung von Versicherungsprämien nützlich und hilfreich – erlaubt aber keinerlei Vorhersagen von einzelnen Unfällen und damit auch keine Maßnahmen zu ihrer Vermeidung. Es bleibt weiter mehr oder weniger zufällig, wer von der Leiter fliegt – und die Ursachen dafür mögen so vielfältig sein, dass wir in ihnen keine Regelmäßigkeit zu erkennen vermögen.

De docta ignorantia

Das Nicht-Wissen ist nicht so schlimm, wenn wir darum wissen, na ja, sagen wir, damit rechnen und uns darauf einstellen. Wer sich nicht sicher ist, ob er den Sprung aus dem Fenster überlebt, wird sich anders verhalten, als derjenige, der sich sicher glaubt, weil er es schon mal gemacht hat, und dabei allerdings den Umstand übersieht, dass er sich nun nicht in der ersten, sondern der dritten Etage befindet. Blastland zeigt, dass gerade unsere Neigung, uns auf Erkenntnisse zu verlassen, die wir auf Grund wissenschaftlicher Expertise zu haben glauben, nicht selten katastrophale Folgen haben. (Ein böser Schelm wer hier an aktuelle Ereignisse des Jahres 2020 denken würde.) Die Genauigkeit und Sicherheit einer „Erkenntnis“ steigt mit der Verengung des Blickwinkels und dem Absehen von Einflüssen und der Isolation weniger Faktoren (z.B. im Experiment). Was dort richtig (und reproduzierbar) ist, zeigt sich jenseits des Labors als fehlerhaft und nicht selten gefährlich.

Von der Unvollständigkeit unseres Wissens und einer „hidden half“ auszugehen ist vor allem bei kritischen Entscheidungen ratsam. Wir sollten immer dann hellhörig und zurückhaltend vor-sichtig werden, wenn eine „sichere“ Erkenntnis den Plausibilitäten unserer Normalität zu widersprechen scheint. Ein „kleinteiliges“ Ausprobieren („trial and error“), das mit einem „unentdeckten Teil“ rechnet und die Normalität unseres Lebens nicht vorschnell gefährdet, empfiehlt sich grundsätzlich. Der „unentdeckte“ Teil mag keine „hidden half“ sein und unser Nicht-Wissen nicht so dominant wie das Nichts des leeren Raums im Universum. Er ist da – und unser Nicht-Wissen nicht nichts.

Für die Lebensführung hat die Philosophie seit jeher versucht die vermeintlichen Sicherheiten kritisch zu befragen. Die sokratischen Dialoge geben viele Beispiele davon, wie das vermeintliche Wissen der Gesprächspartner nicht wirklich trägt. Das sokratische „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ (οἶδα οὐκ εἰδώς) mag nicht die höchste philosophische Wahrheit sein. Sie besagt auch nicht „nichts zu wissen“ (οἶδα οὐδὲν εἰδώς). In der christlichen Philosophie des Mittelalters wird die Sokratische Einsicht zur Auszeichnung des Menschen in einer docta ignorantia, einem gelehrten Nichtwissen, das weiß, dass es gnädigen Beistand braucht und gelassene Demut. Nichts zu machen ist oft besser. Wir sollten uns in „gelehrtem Nichtwissen“ überraschen lassen, wie die Dinge sich aus dem Nichts entwickeln.

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