Die Grundrechte sind „unverletztlich“ und „unveräußerlich“: sie sind die „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft … in der Welt“. (GG Art. 1) Sie gelten absolut. Grundrechte entstammen historisch und begriffsgeschichtlich dem Naturrecht. Das Gesetz (νόμος) ist zunächst ein göttliches, es bestimmt die göttliche Ordnung, in der alles steht und alles zu wirken hat. Das Gesetz, das sich politische Gemeinschaften geben, hebt sich von dem ab, wie die Dinge sich natürlich verhalten. „Künstliche“ Regelungen machen nur Sinn, wenn sich das Geregelte nicht von selbst so verhält, wie es die Regelung vorsieht. Die Natur, die φύσις, ist das, was von selbst vorgibt, wie es sich entwickeln soll – exemplarisch an der (natürlichen) Entwicklung von Pflanzen. Das „Gesetzte“ ist dagegen von der freien oder frei vereinbarten Setzung der Gesetzgeber abhängig. Grundgesetze schränken diese Freiheit ein und verpflichten die Gesetzgeber auf bestimmte Rechte der betroffenen Bürger. Ihr naturgesetzliches Verständnis versteht die Grundgesetze als das, was von Natur gilt. Wir können sie modern auch als die Bedingung der Möglichkeit verstehen, von gesetzlicher Bindung überhaupt zu sprechen. Die Idee der (naturrechtlich verstandenen) Grundrechte bindet den Gesetzgeber an die Natur derjenigen, die unter das Gesetz fallen. Sie sind vor allem Rechte des Einzelnen gegen die (staatliche) Gemeinschaft. Niemandem darf fürs gemeine Wohl ein Grundrecht entzogen werden.
Einschränkung von Grundrechten
Grundrechte sind nicht diejenigen Rechte, die alle anderen begründen. Es sind solche, die niemals geändert und deshalb „unverletzlich“ und „unveräußerlich“ sind, wenn wir überhaupt noch von einer Rechtsordnung sprechen wollen. Eine Einschränkung der Grundrechte durch den Gesetzgeber hebt Idee des Grundrechts auf: das Grundrecht ist Grundrecht insofern es sich ja gerade als Schutz vor dem Gesetzgeber versteht. Die „Grundrechte binden Gesetzgeber, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“ (GG Art. 1)!
Das Grundgesetz zieht zwar grundsätzlich vor, dass „ein Grundrecht durch Gesetz … eingeschränkt werden kann“, „in keinem Falle darf ein Grundrecht [aber] in seinem Wesensgehalt angetastet werden“ (GG Art. 19). Beinahe alle Artikel, die Grundrechte formulieren, räumen die „Einschränkung“ durch Gesetze ein.
Die „grundsätzliche“ Einschränkung der Grundrechte geht mit der Idee des Grundgesetzes und ihrer dialektischen Natur einher. Das zeigt sich im Vergleich mit Naturgesetzen. Durch die Naturgesetze ist das Verhalten der Dinge „gesetzt“. Sie „bestimmen“, wie sich die Dinge verhalten, deren Natur sie beschreiben. Naturgesetze können nicht eingeschränkt oder aufgehoben werden. Aber sie können falsch „aufgefasst“ werden. Das Gravitationsgesetz z.B. wird „newtonisch“ genannt, weil Newton es erstmals beschrieben und in die Gesetzesform einer Gleichung gebracht hat. Hätte er sich „verschrieben“ und die Gleichung falsch formuliert, wäre die Wirkung der Massen aufeinander natürlich nicht anders – wir würden sie nur falsch verstehen.
Naturrechtlich verstanden, sind auch die Grundrechte durch die Natur gesetzt und gelten per se für die Dinge, deren „Rechtsnatur“ sie beschreiben. Gesetze aber sind anders als „Naturgesetze“ nicht per se wirksam. Sie sind auf das Verständnis der Beteiligten verwiesen. Auch sie können natürlich missverständlich formuliert sein und ihr Sinn kann im Laufe der Zeit und des geschichtlichen Wandels missverständlich werden. Wir müssen sicherstellen, dass sie richtig verstanden werden. Wir müssen sie auslegen.
Und: Grundrechte sind „formal“ ausgezeichnet. Sie bedürfen der inhaltlichen Ausprägung. Unser Verständnis von dem, was als Grundrecht gilt, gründet in einer geteilten Lebenswelt, die geschichtlich ausgeprägt ist. Was die Gleichberechtigung von Männern und Frauen besagt (GG Art. 3), das hat seine geschichtliche Gestalt und wurde in den 50iger und 60iger Jahren anders verstanden als wir es heute tun. Ganz zu schweigen, von den grundsätzlichen Fragen, was wir unter „Würde“ verstehen wollen: ist die Verschleierung von Frauen ein Zeichen ihrer Würde oder würdelos? Oder was besagt, der Anspruch von Müttern „auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft“ (GG Art. 6) und „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ so weit sie nicht gegen „das Sittengesetz“ verstößt (GG Art. 2)? Grundrechte bestimmen und begrenzen, was wir politisch und gesetzlich regeln dürfen, sind aber der Auseinandersetzung darüber nicht enthoben, was wir darunter zu verstehen haben. Das macht ihr dialektisches Wesen aus. Sie sind dem Gespräch, dem (politischen) Austausch von Meinungen und Gründen ausgesetzt, obgleich sie diese „Auseinandersetzung“ begrenzen. Sie können Gesetze nur „begründen“, wenn sie sich auf eine geteilte Lebenswelt „gründen“, aus der sie sich verstehen.
Die Schwierigkeiten einer „Verwirklichung“ der Grundrechtsidee, ihrer lebensweltlichen Ausgestaltung ist das Problem der Rechtsphilosophie. Bei Jürgen Habermas kann man nachlesen, wie diese Ausgestaltung unter „nachmetaphysischen“ Bedingungen möglich sein könnte. Aber das ist ein weites Feld – und vor allem ein anderes als das, worüber wir bei der COVID-19 sprechen.
Die „grundsätzliche“, grundgesetzlich formulierte Einschränkung zielt nicht auf ihre „Aufhebung“ oder „Außer-Kraft-Setzung“ sondern ihre richtige Auslegung. Die Auslegung der Grundrechte (ihre „Einschränkung“) hat jeweils so zu erfolgen, dass sie als solche geltend und lebensfähig bleiben. Es handelt sich also nicht um eine (zeitlich begrenzte) Aussetzung von Grundrechten, sondern um die „Richtigstellung“ ihres Verständnisses.
Schutz der Grundrechte
Grundrechte sind „grundlegend“. Ihr Außer- Kraft-Setzen ist rechtlich nicht erlaubt. Auch zeitlich befristet nicht. Wollen wir die Rechtsordnung zeitlich befristet grundlagenlos machen – und das heißt sie in den freien Fall bringen? Was sollte die Berechtigung der Einschränkung von Grundrechten ausmachen? Grund-Grundrechte? Wir kämen in die unhaltbare Beliebigkeit einer unendlichen Iteration und jedenfalls zu keiner Begründung ihrer Berechtigung.
Grundrechte sind unveränderlich und „unentziehbar“ ohne das aufzugeben, was geschützt werden soll, den Menschen und seine Würde. Wir können gegen Grundrechte verstoßen – wie man gerade sieht. Und der Verstoß kann – wie bei allen Rechtsverstößen – unterschiedlich geahndet werden. Hier spielt nicht zuletzt die Absicht der Täter eine Rolle. Aber gewähren können wir Verstöße nicht – und auch nicht rechtlich verordnen.
Die Grundrechte können nicht auf Kosten der Grundrechte geschützt werden – oder umgekehrt die Aufhebung von Grundrechten mit dem Schutz der Grundrechte begründet werden. Wer Grundrechte aufhebt, verstößt nicht gegen ein Gesetz der jeweiligen Rechtsordnung, er verstößt gegen die Idee der Rechtsordnung selbst und handelt wider die Natur. Das ist der Sinn der Grundrechte. Man kann die Idee der Grundrechte natürlich als „metaphysisch“ kritisieren, ihre naturrechtliche Begründung bestreiten und sie durch eine „nachmetaphysische Rationalität“ ablösen wollen. Das ist aber eine andere Frage und eine andere Diskussion. Wer die Grundrechte zu schützen vorgibt, kann sie nicht in ihrem Gehalt bestreiten. Im Übrigen würden sich auf die Kritiker der Grundrechte auf ein Recht berufen müssen, dass sie zur Kritik berechtigt.
Wichtig ist allerdings, dass es (natürlich) nicht um den Schutz von Grundrechten geht, sondern um den von Menschen, die nun mal diese Grundrechte haben. Wir können nicht Menschen „behandeln“, um andere Menschen zu retten. Das gilt auch dann, wenn wir beste moralische Absichten haben.
Grenzen des Gemeinwohls
Solche guten Absichten dürfen wir bei der politischen Bewältigung der COVID-19 Epidemie unterstellen. Es scheint so, als würden die Grundrechte (zumindest einzelne), dem Gemeinwohl, nämlich der Gesundheit der Bürger und vor allem dem Schutz von besonders gefährdeten, aber nicht klar eingrenzbaren Risikogruppen entgegenstehen.
Die Förderung des Gemeinwohls gilt wohl gemeinhin als einer der Ziele von (staatlichen) Gemeinwesen: „das allgemeine Wohl zu fördern“ („promote the general welfare“) wie es in der Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787/88 richtungsweisend heißt. Das Gemeinwohl wird dann vom (politischen) Gemeinwesen – im Idealfall demokratisch – definiert und auch gegen partikulare Interessen der einzelnen Bürger vorangetrieben. Das Gemeinwohl und seine politische Umsetzung werden allerdings durch die Grundrechte begrenzt. Etwas kann nicht als Gemeinwohl gelten, wenn es gegen Grundrechte der Bürger verstößt oder sie aufhebt. Das Gemeinwesen rechtfertigt sich genau durch den Schutz der bürgerlichen Grundrechte (– z.B. ausdrücklich in der Verfassung der Vereinigten Staaten).
Bei der Bewertung von politischen Maßnahmen geht es (meist) nicht um die Aufrechnung von Gemeinwohl versus Partikularinteressen. Im aktuellen Falle der COVID-19 Maßnahmen ist ja z.B. höchst strittig, was denn das zu schützende „Gemeinwohl“ überhaupt ist: Der Gesundheitsschutz oder die Abwehr von gigantischen wirtschaftlichen Kosten und sozialen Verwerfungen?
Alle kommen dabei – mit unterschiedlichem Verständnisgrad und manchen begrifflichen Unschärfen – darin überein, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, alle Menschen gleichberechtigt sind und als Personen ein unveräußerliches Recht auf Selbstbestimmung haben. Das schließt Konflikte natürlich nicht aus. Genau weil alle unbedingte Freiheit haben, bedingt sich ihr Tun, verschränkt sich ihr Handeln und schränkt sich ein. Die Freiheit des einen endet bei der Freiheit des anderen. Und wenn wir jemanden in seiner Freiheit in dieser Hinsicht begrenzen (rechtlich und durch Androhung physischer Gewalt), dann enthalten wir ihm nur vor, worauf er keinen Anspruch hat. Der Entzug von Grundrechten kann aber durchs Gemeinwohl nicht begründet werden. Und wenn das Grundrecht des einen durch etwas geschützt werden soll, das die Grundrechte anderer aufhebt, dann ist dieses Mittel nicht zu „heiligen“ und darf nicht genutzt werden.
Erkrankung der Grundrechte
Ich glaube nicht, dass eine langfristige, chronische Erkrankung der Grundrechte droht. Die Erkrankung ist nicht tödlich und ihre wohlmeinende Pflege durch die demokratischen Institutionen wird nicht bestritten. Darin stimme ich – ausnahmsweise – mal Winfried Kretschmann zu: „unsere Verfassungsordnung ist sehr stark“, die Corona-Maßnahmen sind durch aktuell geltenden Gesetze gedeckt und der Rechtsweg steht jedem offen. Es ist nicht erkennbar, dass sich die in Regierungsverantwortung handelnden Personen von der demokratischen Grundordnung entfernt haben oder entfernen wollten. Freilich kann nicht bestritten werden – und wird es auch nicht –, dass z.Z. Grundrechte „eingeschränkt“ werden. Diese „Einschränkung“ zu verstehen, nur darum bemühen sich die Überlegungen. Verschwörungstheorien sind dagegen eher langweilig. Die meisten Verschwörungstheorien sind (vermutlich eh) keine „Theorien“, sondern meist „Hirngespinste“, die wir kritisch auf die Verschwörung durch Verschwörungstheorien befragen sollten. Aber auch für sogenannte Verschwörungstheorien gilt die Unschuldsvermutung. Ich mag sie nicht. Aber gerade deshalb sind sie erlaubt.
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