Der Spaziergang als moderne Lebensform

Lesedauer 12 Minuten
Robert Walser, 1900

Robert Walser (1878-1956) ging gerne spazieren. Und er schrieb und schrieb. Das eine stärkte das andere. So gelang ihm einer der herausragenden Prosatexte des zwanzigsten Jahrhunderts: Der Spaziergang.

Ein armer Schriftsteller – honi soit qui mal y pense – spaziert durch die kleine Welt einer kleinen Stadt. „Eines Vormittags, da mich die Lust, einen Spaziergang zu machen, ankam, setzte ich den Hut auf den Kopf, lief aus dem Schreib- und Geisteszimmer weg und die Treppe hinunter, um auf die Straße zu eilen.

Er spaziert durch die Straßen. Und auf alles oder doch sehr vieles, das ihm da begegnet, muss er zu verstehen versuchen und das heißt erzählen. Sein Spaziergang wird zu einem erzählerischen Spaziergang. Die Erzählung ist keine Nacherzählung. Sie folgt dem Spaziergang nicht als nachträgliche Schilderung erzählenswerter Erlebnisse. Der Spaziergang wird selbst zur Erzählung, ist selbst ein erzählerisches Geschehen. Seine Erlebnisse sind erzählerisch erlebt, es gibt sie nur als Erzählung. Immerfort spricht der Spaziergänger mit sich und mit anderen, uns Lesern, zu denen er sich ins Verhältnis setzt. Er betrachtet und phantasiert; und seine erzählerischen Phantasien sind ausgelöst durch das „prosaisch-wirkliche“, das ihm begegnet. Der Spaziergang durch die „Wirklichkeit“ ist das Produkt einer schöpferischen Einbildungskraft, die der Schriftsteller verschriftlicht und damit beim Leser wieder hervorzurufen hofft. Wir spazieren mit ihm durchs Leben.

Ein moderner Spaziergang durch die Moderne

Natürlich ist es kein zeitloser Spaziergang, der so auch vor zwei Jahrtausenden, im Mittelalter oder in der Renaissance hätte stattfinden können. Was Robert Walsers Spaziergänger kann, das hätte Petrarca und Dante nie gekonnt. Auch kein Eichendorffscher Romantiker – obwohl Robert Walsers „Taugenichts“ sich dem von Eichendorff schon verwandt zu sein glaubt; und allemal wäre eine „klassischer“ Wanderer, von Goethe und Schiller begleitet, wohl anders durchs Leben „spaziert“. Und das nicht nur, weil der moderne Spaziergänger sich seinen Weg mit manch technischem Gerät teilen muss (Radfahrern und „sausenden Automobilen“), von denen seine Vorgänger nicht bedrängt wurden. Seine Umgebung ist „modern“ wie seine Art sie wahrzunehmen und zu erzählen.[1]

Er trifft auf einen Professor und allerlei kleinstädtische Passanten. Er spaziert an Arbeitern einer Metallgießerei vorbei und wird sich mit einem Schneider streiten, der ihm vermeintlich einen Anzug vermurkst hat. Findet dieses Gespräch wirklich statt oder ist es „nur“ ein Selbstgespräch, das der arme Poet gerne mit „seinem“ Schneider, den er vermutlich nicht hat, führen würde? Mit einer Frau, die auf einer Bank vor einem Haus sitzt, an dem er vorbei streift, beginnt er ein reichlich merkwürdiges Gespräch, auf das er uns bereits vorbereitet hatte. Der Erzähler weiß, wohin er gehen wird. Er weiß, was auf seinem Weg liegt und ist doch von jeder Begegnung überrascht. So „ahnt“ er, dass er bald an einer Bäckerei vorbeikommen wird, über deren Namensschild, das in Goldbuchstaben über dem Laden prangt und die mit einem einnehmenden Landschaftsbild für die Natürlichkeit ihrer Produkte werben will. Das wird ihn zu einer Kritik der aufdringlichen und lügnerischen Werbung motivieren. Auf dem Wege zu seinem Mittagessen, bei einer wohlwollenden Gönnerin wird er – wie er schreibt – „noch beträchtliche Strecken Weges zulegen wie manche Zeile zu schreiben haben“. Spazieren und Schreiben verschmilzt in ein Geschehen, ein zu erzählendes Erlebnis.

Ja, so laufen auch wir durch die Städte und Dörfer, wir reden mit uns und hören „im Geiste“, was andere dazu wohl sagen würden, beschweren uns über ganz unmögliche Zumutungen, loben das Aussehen von Plätzen, die Gelassenheit von Menschen und denken uns allerlei Geschichten über Menschen aus, die uns zufällig begegnen. Robert Walser lässt seinen Spaziergänger auf einen „Riesen“ treffen, „ein[en] Mensch, ein Ungetüm und Ungeheuer […], der mir die helle Straße fast völlig verdunkelte, ein hochaufgeschossener, unheimlicher Kerl, den ich nur allzu gut kannte, ein höchst sonderbarer Geselle, nämlich der Riese Tomzack. […] Tomzack! Nicht wahr, lieber Leser, der Name allein klingt schon nach schrecklichen, schwermütigen Dingen.

Der Riese ist natürlich kein „wirklicher Riese“ – oder ist nicht gerade er ein „wirklicher“? Vor allzu viel solcher zweiflerischen Reflexionen warnt sich freilich der Verfasser selbst: „Man möchte jedoch den Herrn Verfasser“, so lässt uns der Verfasser wissen, „sehr ergeben gebeten haben, sich vor Witzen wie sonstigen Überflüssigkeiten ein wenig in acht zu nehmen. Hoffentlich hat er“, so beschwört sich der Erzähler, „dies ein für allemal verstanden.“ Wir als Leser wissen, wir bewegen uns in modernen Zeiten, in denen der Autor gerne mal mit sich selbst spricht und daran auch den Leser teilnehmen lässt. „Wegen aller hieraus entstehenden Längen, Breiten und Weiten bitte ich zum voraus gebührend um gefällige Entschuldigung.“ Und so will sich unser erzählender Spaziergänger nicht allzu sehr ablenken lassen, z.B. durch „den Eintritt ins Lust- und Erquickungshaus“, also ein „feines Wirtshaus mit köstlichem Garten voll erquicklichem Schatten“, in dem „Bier und Wein“ serviert wird, dessen Besuch aber vermutlich sein Budget überschritten hätte. „Alle ernsthaften Leute, die dies lesen, werden seinem [des erzählenden Spaziergängers, der von sich mal wieder in der dritten Person spricht] schönen Entschluß und guten Willen gewiß reichen Beifall zollen. Nahm ich nicht bereits vor einer Stunde Anlaß, eine jugendliche Sängerin anzumelden? Sie tritt jetzt auf.

Vom Dasein des Schriftstellers

Natürlich kann der Schriftsteller, den es aus der eigenen Schreibkammer zieht, einer Buchhandlung nicht widerstehen. Stößt er zufällig auf sie? Nein, er wittert sie von weit her. Er sucht nach ihr und wird von ihr angezogen. „Mit höflicher, durchaus vorsichtiger Stimme erkundige ich mich in begreiflicherweise gewähltesten Ausdrücken nach dem Neuesten und Besten auf dem Gebiete schöner Literatur.“ Man liest ja gerne mal ein „gutes Buch“, das natürlich gediegen und ernsthaft sein muss, auch unterhaltsam und kurzweilig, publikumswirksam und erfolgreich, und dem gleichwohl bei der Kritik „die höchste Gunst“ gewährt wird. „In der Tat interessiert mich ungemein, erfahren zu dürfen, welches von allen hier aufgestapelten oder zur Schau gestellten Werken der Feder dieses fraglich Lieblingsbuch ist, dessen Anblick mich ja sehr wahrscheinlich zum sofortigen, freudigen, begeisterten Käufer machen wird. Das Verlangen, den bevorzugten Schriftsteller der gebildeten Welt und sein allseitig bewundertes, stürmisch beklatschtes Meisterwerk vor mir sehen zu können, rieselt mir durch sämtliche Glieder.“ Der spazierende Literat weiß natürlich, dass der Buchhändler geschäftstüchtig vorgibt, diesen unerfüllbaren Wunsch erfüllen zu können. Und er wird auch kein Buch aus der Feder des schreibenden Spaziergängers vorgelegt bekommen. Wie sollte das gehen?! Der Buchhandel ist ein Handel mit Waren, die vor allem verkauft werden wollen. “Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine „ungeheure Warensammlung“, die einzelne Ware als seine Elementarform.” Ein Buch ist eine “einzelne Ware”, deren kulturell-literarischer “Gebrauchswert” vor allem dem Kreislauf von G-W-G‘ unterliegt: Ihre Produktion wird finanziert (G) um damit mehr Geld zu machen (G’) als zu ihrer Produktion notwendig war. Unser spazierender Tagträumer möchte damit nichts zu tun haben, er glaubt an den intrinsischen Wert der Literatur oder möchte ihn jedenfalls fürs eigene Leben erleben. Wir wissen heute, dass Bücher und Zeitungen, Fernsehprogramme und Filme, gar nicht mehr gemacht werden, um aus Ihrem Verkauf selbst Profit zu schlagen. Sie dienen nur dazu Leute zu unterhalten, um damit Werbeeinnahmen für ganz andere Produkte zu generieren und Konsumenten- und Marktdaten profitabel zu erheben.

Doch kaum ist unser armer Schriftsteller mit einem demonstrativen Akt der literarischen Kommerzialisierung entflohen, führt ihn sein Weg („nächstgelegen“) an einer „imposanten Bankanstalt“ vorbei. Dort meinte er „vorsprechen zu müssen“, „um über gewisse Wertpapiere zuverlässigen Aufschluß zu erhalten“. Und das „Vorsprechen“ gestaltet sich reichlich merkwürdig. Robert Walsers Spaziergänger erzählt uns eine wahrlich merkwürdige Geschichte: Natürlich weiß man im Bankhaus, dass es sich bei unserem Spaziergänger um keinen vielversprechender, weil wohlhabenden, Kunde handelt. Das erkennt man auf den ersten Blick. Aber der Spaziergänger sieht sich dort, ohne dass er sich eigens vorstellen müsste, freudig begrüßt: „’Es ist gut und trifft sich prächtig, daß sie persönlich zu uns kommen’, sagte mir der am Schalter schaltende verantwortliche Beamte in freundlicher Tonart. Fast schalkhaft, jedenfalls aber sehr angenehm lächelnd, fügte er folgende hinzu: ‘Soeben wollten wir uns nämlich brieflich an Sie aus Auftrag eines Vereins oder Kreises von Ihnen offenbar holdgesninnten, gutherzigen, menschenfreundlichen Frauen mit Franken Eintausend weniger belastet, wie vielmehr, was Ihnen gewiß willkommener sein dürfte, besten kreditiert haben, wovon Sie so gut sein wollen, gefällig prompt im Kopf, oder wo es Ihnen sonst paßt, Notiz zu nehmen.’” Ja, ja, wer träumt als verträumter Künstler und Lebensphilosoph nicht davon, von Mäzenaten unterstützt zu werden, die zwar die Bedeutung des eigenen Schaffens nicht recht verstehen, das Genie des Künstlers aber recht deutlich spüren – weshalb es, wie in diesem Fall, den Robert Walser erzählen lässt, wieder mal Frauen sind, die sich einfühlend um die zerstreute, verletzliche Künstlerseele sorgen.

Für die schriftstellerischen „Werke und Tage“ mag sich niemand interessiert. Für die Einnahmen, die sich dabei ergeben – auch solche von Gönnerinnen – interessiert sich der Staat nun freilich schon. Und so führt der unseres armen Poeten zur „Gemeindekasse wegen der Steuern“. Er muss hier – gegenüber „dem Herrn Präsidenten der löblichen Steuerkommission“ mittels „Abgabe einer feierlichen Erklärung“ einen „gröblichen Irrtum“ berichtigen. „‚Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen‘“, lässt Robert Walser seinen Spaziergänger „offen“ „zum Steuermann oder hohen, respektablen Steuerbeamten [sagen], der mir sein obrigkeitliches Ohr schenkte, um dem Bericht, den ich abstattete, aufmerksam zu folgen, ‚daß ich als armer Schriftsteller oder homme de lettres ein sehr fragwürdiges Einkommen genieß.“ Ohne Vermögen und „überaus frei von Reichtümern, dagegen vollbehangen von jeder Art Armut“ lebt zureichend kärglich. „Ich habe einige Bücher geschrieben, die aber leider nicht den geringsten Anklang beim Publikum fanden. Die Folgen hievon sind herzbeklemmend.“ Lässt Robert Walser da seinen Poeten über Robert Walser sprechen, der nach anfänglichem Erfolg bei der gelehrten Öffentlichkeit – Kafka und Benjamin, Musil und Tucholsky kamen über seine Texte ins Schwärmen – schnell in Vergessenheit fiel, verarmte und landete schließlich in einer Nervenheilanstalt. Erst nach seinem Tod, auch darin Kafka ähnlich, wurde der Robert Walsersche Literatur-Schatz gehoben. “Ich verzweifle nicht, kann aber ebensowenig jauchzen oder jubeln. Ich schlüpfe im allgemeinen notdürftig durch, wie man sagt.” Auch darin dürfte er dem einen oder anderen von uns Zeitgenossen gleichen, wir schlüpfen so durchs Leben und machen unsere Steuererklärung. Aber der “Vorsteher oder Taxator” auch den kennen wir spätestens seit Kafka, wendet ein: “Man sieht Sie aber immer spazieren!” Heute hätte er das wohl „gegoogled“ oder über die Handy-Bewegungstaten ermittelt. Jeden muss, wer so müßig sein kann, dass er ständig herumspaziert, doch einiges auf der Kante haben?! “’Spazieren’, gab ich zur Antwort, ‘muß ich unbedingt, damit ich mich belebe und die Verbindung mit der Welt aufrechterhalte, ohne deren Empfinden ich weder einen halben Buchstaben mehr schreiben, noch ein Gedicht in Vers oder Prosa hervorbringen könnte. Ohne spazieren wäre ich tot, und meinen Beruf, den ich leidenschaftlich liebe, hätte ich längst preisgeben müssen. Ohne Spazieren und Bericht-Auffangen vermöchte ich nicht den leisesten Bericht abzustatten, ebensowenig einen Aufsatz, geschweige denn eine Novelle zu verfassen. Ohne Spazieren würde ich weder Studien noch Beobachtungen sammeln können. […] Auf weitschweifigem Spaziergang fallen mir tausend brauchbare Gedanken ein, während ich zu Hause eingeschlossen jämmerlich verdorren, vertrocknen würde. […] Jeder Spaziergang ist voll von sehenswerten, fühlenswerten Erscheinungen. […] Wissen sie, daß ich hartnäckig und zäh im Kopf arbeite und oft vielleicht im besten Sinne tätig bin, wo es den Anschein hat, als ob ich ein gedankenlos wie arbeitslos im Blauen oder Grünen mich verlierender, saumseliger, träumerische, träger, schlechter Eindruck weckender Erztagedieb und Mensch ohne Verantwortung sei?’

Ein Arbeiter einer Metallgießerei, an der ihn sein Weg vorbeiführt, ruft ihm zu: „‚Du sparzierst wieder einmal, wie mir scheint, am hellen Werktag. ‘Lachend grüße ich ihn und gebe mit Freuden zu, daß er recht hat. Ohne mich im geringsten über das Ertapptwordensein zu ärgern, was ganz dumm gewesen wäre, spazierte ich fröhlich weiter.“ Auch hier wissen wir nicht, ob der Arbeiter ihn tatsächlich wegen seines Herumbummelns aufziehen wollte oder nicht vielmehr der Spaziergänger es im Blick des Arbeitenden erkannt haben wollte und es ihm „ganz in Gedanken“ in Mund gelegt hat. Für uns Leser macht das eh‘ keinen Unterschied. Jedenfalls versichert er dem hochamtlichen Steuerprüfer, dass „dem Spaziergänger allerlei Einfälle und Ideen“ geheimnisvoll nachschleichen,“ derart, daß er mitten im fleißigen, achtsamen Gehen stillstehen und horchen muß, weil er über und über von seltsamen Eindrücken, Geister-Gewalt benommen, plötzlich das bezauberte Gefühl hat, als sine er in die Erde hinab, indem sich vor den geblendeten, verirrten Denker- und Dichteraugen ein Abgrund öffne.

Und so kann der arme Dichter mit seiner reichen Einbildungskraft nicht an einem Hinweisschild vorbeigehen, mit dem eine Pension auf die Möglichkeit zur „Kostgängerei“ einlädt, ohne sich und seine Existenz in einer für ihn unwirtlichen Welt zu spiegeln. Er sieht darin eine Empfehlung einer Herrenpension „feinen oder mindestens besseren Herren ihre prima Küche [anzupreisen], die derartig ist, daß wir mit ruhigem Gewissensagen können, sie befriedige nicht nur den verwöhntesten Gaumen, sondern entzücke auch noch den lebhaftesten Appetit. Auf allzu hungrige Mägen zu reflektieren, möchten wir indessen lieber verzichten. Die Kochkunst, die wir darbieten, entspricht höherer Erziehung, womit wir angedeutet haben möchten, daß es uns lieb sein wird, nur wahrhaft gebildete Herren an unserer Tafel schmausen zu sehen. Kerlen, die ihren Wochen- und Monatslohn vertrinken und daher nicht prompt zu zahlen imstande sind, wünschen wir nicht im entferntesten zu begegnen; vielmehr rechnen wir in bezug auf sehr geehrte Kostgängerschaft mit durchweg zartem Anstand sowohl wie gefälligen Manieren. […] Mit Wüstlingen, Raufbolden, Prahlhelden und Großtuern wollen wir ganz entschieden nichts zu schaffen haben. Solche, die Anlaß zu haben glauben, daß sie wirklich zu dieser Sorte gehören, wollen so gütig sein, unserem Institut ersten Ranges möglichst fern zu bleiben und uns mit ihrer unangenehmen Gegenwart freundlichst zu verschonen. Hingegen wird uns jeder nette, zarte, höfliche, artige, zuvorkommende, freundliche, fröhliche, doch nicht übermäßig freudige, sondern eher bescheidene, feine, leise, vor allen Dingen aber zahlungsfähige, solide Herr fraglos in jeder Hinsicht willkommen sein; er soll aufs beste bedient und auf das allerhöflichste und freundlichste behandelt sein; solches versprechen wir ehrlich und denken es allzeit zu halten, daß es eine Lust ist.

Erzählerisches Gericht

Auch die „Kost“, die die „Kostgängerei“ in Aussicht stellt, malt sich der Spaziergänger aufs Genaueste aus. Aber er kommt immer wieder auf die Auswahlbedingungen zurück, die er alleine der Angebotstafel entnehmen zu können glaubt. Was er auf der Tafel meint lesen zu können, ist vor allem der Ausgrenzung der eigenen Existenz: „Wie bereits betont wurde, können jedoch lediglich nur bessere Herren in Betracht kommen, und um sowohl Irrtümer zu vermeiden wie Zweifel zu beseitigen, wolle man uns gefälligst erlauben, diesbezüglich unsere Auffassung kurz kundzugeben. In unseren Augen ist nur derjenige ein wirklich besserer Herr, der von Feinheit und Bessersein sozusagen strotzt, das heißt, einer, der in jeder Beziehung halt einfach viel besser ist wie sonstige schlichte Leute. Leute, die weiter nichts wie schlicht sind, passen uns durchaus nicht. Ein besserer Herr ist nach unserer Meinung nur derjenige, der sich möglichst viel eitles, albernes Zeuge einbildet, der überzeugt zu sein entschlossen ist, seine Nase sei weitaus feiner und besser als irgendwelchen beliebigen andern guten vernünftigen Menschen Nase. Betragen eines bessern Herrn spricht eben hervorgehobene, eigenartige Voraussetzung deutlich aus, und hierauf verlassen wir uns. Wer demnach nur gut, grad und ehrlich ist, sonst aber weiter keinen bedeutsamen Vorzug aufweist, der bleibe uns bitte fern. Für die sorgfältige Auswahl von ausschließlich feinsten und gediegensten bessern Herrn besitzen wir das allerfeinste Verständnis.

Man braucht schon einen literarisch geübten „Tatsachenblick“, um all das, aus einer Hinweistafel lesen zu können. Es hat etwas Phantastisches.[2] Und doch ist es ein Blick, der die Wirklichkeit bestens beschreibt – vor allem das Dasein des verlorenen Außenseiters. Der sich durch eine ihm fremde Welt bewegende Schriftsteller ist zum Spaziergehen berufen. Und so nimmt der Verfasser sich „fest vor“, „dies alles […]demnächst in ein Stück oder in eine Art Phantasie hinein [zu zeichnen und zu schreiben], die ich ‚Der Spaziergang‘ betiteln werde.

Robert Walsers Der Spaziergang führt uns durch die moderne Welt, in der sich der Einzelne nur noch als Außenseiter und d.h. als literarischer Spaziergänger behaupten kann. Wer drinnen ist, ist nicht bei sich, und wer draußen ist und nur herumspaziert, ist nicht bei der Sache. Auch unsere Lebensform ist ein Spaziergang, ein moderner Spaziergang, einer der durch Robert Walser besser beschrieben wird als durch Petrarca und Dante, Goethe und Eichendorff. Der Spaziergang des Literaten wird für uns zu einem literarischen Spaziergang. Wir laufen mit und erkennen uns in diesem armen, ausgesperrten Schriftsteller als Spaziergänger wieder, die während des Spazierengehens nicht aufhören können, zu uns selbst zu reden und Sinn und Bedeutung zu generieren. Die moderne Welt ist unzugänglich. „Das Chaos beginnt und die Ordnungen verschwinden.“ Was uns begegnet, uns wirklich angeht, das findet sich nur noch im Kopf, in losgelösten Gedanken und dem phantastischen Versuch, sich die Welt so zu erzählen, das sie für den Einzelnen noch ein wenig Sinn macht.

[1] Auch Robert Walsers Literat liebt – natürlich – „alles Ruhige und Ruhende, Sparsamkeit und Mäßigkeit“ und ist „allem Gehast und Gehetz im tiefsten Innern abhold“. Aber er weiß, dass seine Abneigung, dieses „lästige Automobilgesurr nebst luftverderbendem, üblen Geruch, den unmöglich jemand lieben und hochschätzen kann, sicherlich nicht mit einmal aufhören“ lässt, und er es deshalb eben so erzählen muss.

[2] Den Steuerprüfer fragt er: „Halten Sie es für ganz und gar unmöglich, daß ich auf solcherlei geduldigem Spaziergang Riesen antreffe, Professoren die Ehre habe zu sehen, mit Buchhändlern und Bankbeamten im Vorbeigehen verkehre, mit Sängerinnen und Schauspielerinnen rede, bei geistreichen Damen zu Mittag speise, durch Wälder streif, gefährliche Briefe befördere und mitch mit tückischen, ironischen Schneidermeistern wild herumschlage? Dies alles kann immerhin vorkommen, und ich glaube, daß es in der Tat vorgekommen ist. Den Spaziergänger begleitet stets etwas Merkwürdiges, Phantastisches, und er wäre töricht, wenn er dieses Geistige unbeachtet lassen wollte.“ Aber das ist genau der Spaziergang, auf dem sich der arme Schriftsteller, der moderne Geist, grade befindet und den wir lesen.

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