Ivan Illichs Nemesis

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Ivan Illich war ein radikaler Polemiker. Das ist für ihn keine Herabsetzung. „Neutraler“ Wissenschaftler wollte er gar nicht sein, er war immer parteilich. Er wollte keine Laborwahrheiten, er suchte das Richtige für den Menschen. Ich hatte von ihm als Befreiungstheologen gehört und als Kritiker des unbegrenzten industriellen Wachstums. Ja, Befreiungstheologe, das charakterisiert ihn wohl in einem weiten und doch sehr genauen Sinne. Er möchte die Menschheit zur Menschheit befreien.

Ivan Illich

Man könnte ihn wohl als Grenzgänger zwischen Theologie, Philosophie, Wissenschaft und Politik bezeichnen. 1926 in Wien geboren, muss er 1941 die Wiener Schule wegen der jüdischen Abstammung der Mutter verlassen, macht dennoch 1943 in Florenz sein Abitur, studiert dort zunächst Chemie und wechselt schließlich zur Theologie an die Gregoriana. 1951 zum Priester geweiht, arbeitet er zunächst im Vatikan und übernimmt schließlich ein Pfarrei in einem New Yorker von mittelamerikanischen Einwanderern geprägten Bezirk. Das prägt ihn. Er beschäftigt sich mit Fragen des Kolonialismus in Lateinamerika, der Rolle der Kirche in ihm und vor allem mit der ökonomischen, sozialen und kulturellen Gewalt, der weite Bevölkerungsschichten dort ausgesetzt sind. Er findet Nähe zur Befreiungstheologie und gründet 1960 in Mexiko zusammen mit Paulo Freire ein interkulturelles Zentrum. Das bringt in Konflikt mit der Amtskirche und so gibt er 1969 sein Priesteramt auf und arbeitet als philosophischer Schriftsteller, man könnte sagen als „freies Radikal“.

Nachdem ich in den Siebzigern einiges von ihm zur ökologischen Umgestaltung der Gesellschaft gehört hatte (er arbeitete u.a. mit Andre Gorz, Ernst Ulrich von Weizsäcker und Freimut Duve zusammen), war ich vor knapp einem Jahr auf sein Buch „Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand“ (1991, dt. 2010) gestoßen. Es atmet einen modernitätskritischen Geist und kontrastiert unser „Lesen“ als Informationsverarbeitung, mit der Kunst des Lesens als meditativer, demütiger und meist religiös motivierter Weisheitssuche der „Alten“. Mir gefiel dieser Text in seiner fokussierenden Radikalisierung. Er verstand sich als „ein Kommentar zu Hugos ‚Didascalicon‘“, jenem richtungsweisenden Werk des Hugo von St. Viktor (1097-1141), das als Lehrbuch für das „studium legendi“ (frei übersetzt: der Kunst des Lesens), die Herausbildung des europäischen Universitätswesens geprägt hat. Man mag – wie ich – eher Gefallen an Illichs Darstellung der europäischen Lesetradition finden oder es als vereinfachend oder gar verzerrt beurteilen. Niemand wird es wirklich empörend finden.

„Limits to Medicine“

Bei „Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens“ (dt. 1995) ist das anders. Es ist die Neuauflage eines Buchs, das ursprünglich englisch unter dem Titel „Limits to Medicine“ (1976) und in einer ersten deutschen Auflage noch „Die Enteignung der Gesundheit“ (1976) hieß. Der erste Satz der Einleitung ist der Faustschlag, den Illich führen will: „Die etablierte Medizin hat sich zu einer ernsten Gefahr für die Gesundheit entwickelt.[1] Sein Programm ist nicht eine kritische Sicht auf die „Limits of Medicine“, sondern er zielt auf „Limits to Medicine“, er will der Medizin Grenzen ziehen.

Im ersten Teil liefert er eine scharfe, sehr „parteiliche“ Abrechnung mit ihrer Erfolgsgeschichte (I) und entwirft nach einer radikalen Beschreibung der Gegenwart des „Behandelns von Krankheit“ (II und III) eine neue „Gesundheitspolitik“ (IV). Der kann ich nicht allzu abgewinnen. Es ist aus meiner Sicht nicht der Grund, warum sich die Lektüre des Buches empfiehlt. Auch der Bewertung der medizinischen Fortschrittsgeschichte traue ich nicht wirklich, sie wird der Medizin vermutlich nicht wirklich gerecht (- ich bin hier kein Experte ;-)). Man muss sie nicht so klein reden, wie Illich es tut, um seine Überlegungen anregend zu finden und aus ihnen wichtige Impulse fürs eigene Nachdenken zu bekommen.

Was ist Gesundheit?

Worin besteht „die Gefahr für unsere Gesundheit“, von der Ivan Illich spricht? Nun ist es nicht ganz leicht zu sagen, was Gesundheit überhaupt „ist“. Gesund ist, wer nicht krank ist und krank, wer nicht gesund.

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Krankheit versteht sich von der Gesundheit her. Gesundheit ist begrifflich vorrangig. Ein Stein kann nicht krank werden, weil er nicht gesund sein kann. Kranksein ist „privativ“, es ist beschreibt einen Mangel. Blind kann nur ein Wesen sein, das „von Natur“ sehen kann. Das freilich bedeutet nicht, dass wir Gesundheit ohne Krankheit beschreiben können. Was wir an unserer Gesundheit haben, verstehen wir oftmals erst durch die Krankheit, der wir entgangen sind. Der Gesunde nimmt seine Gesundheit nicht wahr. Ein gesundes Auge sieht sich nicht selbst. Es ist in der Regel die Erfahrung der Krankheit, die uns die Gesundheit wahrnehmen und schätzen lehrt. In diesem Sinne ist Krankheit bei der Erkenntnis (und Wertschätzung) des Gesunden „vorgängig“.

Der Hippokratische Eid

Pergamentfragment Hippokratischer Eid ( WikiCommons)

Im Hippokratischen Eid gelobt der Arzt, seine „Verordnungen (διαιτήμασί) zum Nutzen des Kranken (ἐπ‘ ὠφελείῃ καμνόντων)“ zu treffen. „Krank sein“ (κάμνειν) heißt soviel wie „müde werden“, „ermatten“, „erschlaffen“ und die „Kranken“ (καμνόντες) leiden an dieser Erschlaffung und Erlahmung ihrer Kräfte. Also gilt es für den Arzt die „Ermüdung“ der Krankheit mit Empfehlungen zu einer anderen Lebensweise zu begegnen – seine „Verordnungen“ (δίαιτa) leiten sich von δίαιτάειν her, was so viel heißt wie „durch eine Diät behandeln“. Die Diätetik zielt auf eine Lebensweise, die den Menschen das sein lässt, was ihn ausmacht. Gesundheit hat in der antiken Philosophie einen teleologischen Sinn und ausgerichtet auf das natürliche Ziel des Menschen, das, was seine Natur ausmacht. Sie ist auf das bezogen, was die antike Philosophie „Glück“ (εὐδαιμονία), nämlich eine gelingende Lebensführung nennt. „Glück“ meint hier nicht den glücklichen Umstand, der sich ereignet („Glück gehabt“, fortuna). Und es bezeichnet auch nicht den Zustand der „Glückseligkeit“, die nach Kant „die Befriedigung aller unserer Neigungen[2] bedeutet. Glück als εὐδαιμονία bezeichnet das Gestimmt-Sein, das sich einstellt, wenn uns etwas (im Großen und Ganzen) geglückt ist: es ist das Erleben einer gelingenden Lebensführung (beatitudo). Gelingendes Leben wird durch einen guten Geist geführt (εὐ δαίμων), nämlich dessen, der es führen muss.

An diese Tradition knüpft Ivan Illich (unausdrücklich) an. Für ihn heißt „gesund sein“, „erfolgreich die Wirklichkeit zu meistern“ und „diesen Erfolg zu genießen“. Gesundheit bedeutet „die Fähigkeit, sich in Lust und Schmerz lebendig zu fühlen[3]. Sie ist ein menschlich und damit sozial und kulturell ausgeprägt. Gesundheit hat – wie Illich etwas hilflos formuliert – einen „gesellschaftlichen Kontext“: „Seine [des Menschen; HL] Einstellung zu Glück und Bitternis der Realität und seine Haltung gegenüber anderen, die er in Leiden, Schwäche, Angst und Pein sieht, bestimmt das Körpergefühl jedes Menschen und damit seine Gesundheit.[4] Etwas paradox könnte man formulieren: gesund ist, wer mit Krankheit umgehen kann.

Befreiung zum menschlichen Dasein

Die Lebensführung stellt den Menschen unausweichlich vor Herausforderungen, die in seiner verletzlichen Natur gründen. Der Mensch ist ein sterbliches Wesen und er ist ein Wesen, das sich der Wirklichkeit des Daseins schmerzlich stellen muss. Der Tod und die Krankheit gehören zum menschlichen Leben. Wer das leugnen möchte, müsste die menschliche Natur leugnen. Aber Kranksein ist keine mechanisch organische Fehlfunktion und der Tod keine Fehlkonstruktion, die wir bei einem Schöpfergott oder der Natur reklamieren und auf Gewährleistung einer mangelfreien Existenz klagen könnten.

Das bedeutet nicht, dass wir uns nicht um Kranke und Krankheiten kümmern sollten. Im Gegenteil. Wir sollten uns dabei aber nicht auf eine organische Maschine und menschliches Leben nicht auf Leben schlechthin reduzieren. Das ist, was Illich der Medizin vorwirft. Menschliches Leben heißt im Bewusstsein, der eigenen Verletzlichkeit zu leben (ich gehe dem in zwei Beiträgen zum Tod und zum Schmerz nachgehen). Für Ivan Illich ist das ein Grund, sich religiös (als katholischer Priester) oder metaphysisch (als Person) aufs eigene Dasein zu besinnen. Das ist die Botschaft des Befreiungstheologen Illich: sich zum und nicht vom eigenen, verletztlichen Dasein zu befreien.

 

Exkurs: „Wie geht es Dir?“

Ivan Illich erzählt im Nachwort eine Geschichte, in der ein Kranker von einem Freund gefragt wird, wie es ihm gehe. Der besorgte Freund wird gebeten, am nächsten Tag nochmal anzurufen, aber erst nach 11 Uhr, denn bis dahin seien die Testergebnisse aus dem Labor da. Wir wissen natürlich genau, was damit gemeint ist. Und vermutlich haben wir genau danach gefragt?! Ivan Illich spitzt das wieder radikal zu: wir vertrauen unserem Befinden nicht mehr und erwarten die Antwort, wie es uns geht von vermeintlich objektiven Befunden: „Das orphische ‚Erkenne dich selbst‘ lautet jetzt ‚Laß prüfen, wie es deinem Immunsystem geht’.

 

[1] Ivan Illich, Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens, München 2007, S. 9.

[2] I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, (1787) B 834.

[3] Illich, a.a.O., S. 91.

[4] Illich, a.a.O., S. 92.

Bildnachweise

  • Ivan Illich: WikiCommons:  https://commons.wikimedia.org/wiki/File:I.I.jpg.
  • Gesundheit/Krankheit: PixaBay
  • Pergamentfragment Hippokratischer Eid: WikiCommons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AZapyrus_text;_fragment_of_Hippocratic_oath._Wellcome_L0034090.jpg?uselang=de)

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