Der Schmerz des Ivan Illich

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Die Frage, ob es uns gut geht, hat nicht zuletzt damit zu tun, ob wir an etwas leiden oder Schmerzen haben. Schmerzlosigkeit freilich bedeutet nicht unbedingt, dass wir uns wohlfühlen. Kranke z.B. nennen sich selbst „glücklich“, wenn sie von ihren Angehörigen gepflegt und umsorgt werden oder wenn sie trotz Schmerzen eine Sache zu Ende bringen, die sie sich lebenslang vorgenommen hatten. Schmerzen sind mehr oder weniger stark. Manche sind leicht erträglich, anderen verfallen wir in hilflosem Leiden. Sie treten akut auf oder werden chronisch zu einem Teil des eigenen Körpergefühls.

Schmerzen haben für die ethische Grundfrage nach dem Gelingen des Lebens, der εὐδαιμονία, zweifellos eine große Bedeutung. Die Philosophie hat sich über das Wesen des Schmerzes dennoch nur spärlich geäußert.[1] Was wir Schmerz nennen, ist weniger klar als wir glauben. Ivan Illich versucht in seiner „Nemesis der Medizin“ etwas dem nachzuspüren, was wir unter Schmerz verstehen.

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Vom Schmerz weiß vor allem der, der ihn hat. Schmerzen können nicht „eingebildet“ sein, weil „eingebildete“ Schmerzen eben auch Schmerzen sind. Aber das, was wir im Unterschied zu anderem Leid Schmerzen nennen, ist nach Illich durch „die moderne Medizin“ geprägt und konnte in den „vormedizinischen“ Zeiten gar nicht artikuliert werden: „Was wir im Umkreis einer chirurgischen Krankenstation als Schmerz bezeichnen, dafür hatten frühere Generationen kein eigenes Wort.“ Das mutet seltsam an und doch bedeutet noch heute, so Illich, „in den meisten Sprachen das von den Ärzten geprägte Wort auch Kummer, Angst, Scham und Schuld.[2]

The Worst of Evils

Schmerz und Leid sind nicht dasselbe. Schmerzen sind meist lokalisierbar (wie z.B. Kopf- oder Zahnschmerzen). Sie sind körperliche Empfindungen (sensations) und oft mit „Organschäden“ bzw. der Wahrscheinlichkeit zu solchen verbunden. Schmerzen werden gemeinhin als Gegenteil zu Lust und Wohlbefinden verstanden. John Stuart Mill (1806-1873) schreibt: „By happiness is intended pleasure and the absence of pain; by unhappiness, pain and the privation of pleasure.[3] Schmerzen sind etwas, das man im Unterschied zur Lust, flieht. Was wir suchen oder fliehen, das versteht sich mit Blick auf das, was wir „Glück“ oder besser „gelingende Lebensführung“ (εὐδαιμονία) nennen. Das bedeutet freilich auch, dass wir den Schmerz nicht um jeden Preis vermeiden. Er ist nicht The Worst of Evils wie das der Titel des umfangreichen Werks zur Geschichte von The Fight Against Pain (so der Untertitel) von Thomas Dormandy nahelegt. In der philosophischen Tradition werden der Schmerz- und Leidenserfahrungen den Tugenden zugeordnet. Schmerzen und die Furcht vor ihnen machen ein Teil des menschlichen Lebens aus. Schmerzen können uns kopflos machen, sie können uns um den Verstand bringen und wir können an ihnen verzweifeln. Die ethischen Tugenden gelingenden Lebens erlauben es, mit Lust und Schmerz umzugehen, sie so zu ertragen und zu erleiden, so dass gelingendes menschliches Leben möglich ist und bleibt.

Sinn und Bedeutung des Schmerzes

Was für die Blüte der griechischen Philosophie bei Platon und Aristoteles selbstverständlich war, wird in „Rom“ zwischen Epikurern und Stoikern fragwürdig. So diskutiert Cicero (106-43 v. Chr.) in seinen Gesprächen in Tusculum (Tusculanae disputationes) die Frage, ob der Schmerz, das größte der Übel sei. Aber schon die Erwähnung der Schande (dedecus), führt beim Gesprächspartner zum verschämten Rückzug: er möchte eigentlich nur die Gründe wissen, die die Schande und nicht den Schmerz zum größten Übel machen.

Der Schmerz hat es unmittelbar an sich, das zu sein, was man nicht will.[4] Der Schmerz gehört dem empfindenden Lebendigen an, das nach etwas strebt. „Im Toten“ ist nach Hegel (1770-1831) „kein Übel noch Schmerz.“. Was das Lebendige erstrebt ist die Erfüllung seiner (natürlichen) Bedürfnisse. Der Schmerz ist das „Negative“, die Empfindung des Widerständigen der Welt, das die erstrebte Erfüllung hindert. „Das Bewußtsein des Lebens, seines Daseins und Tuns ist nur der Schmerz über dieses Dasein und Tun, denn es hat darin nur das Bewußtsein seines Gegenteils, als des Wesens, und der eigenen Nichtigkeit.[5] Der Schmerz als Empfindung gründet in der Bedürftigkeit des Lebendigen, die sich elementar in Durst, Hunger und Wärme- und Schutzbedarf zeigt, und er kann beim Menschen zur selbstbewussten Wahrnehmung dieser Bedürftigkeit, zum ausdrücklichen Verständnis des eigenen Daseins, führen. Während das Tier im Schmerz aufgeht, kann sich der Mensch bewusst zu seinem Schmerz verhalten.

Wir fliehen dann nicht jeden Schmerz, sondern nehmen Schmerzen für höhere Ziele in Kauf. Schmerzen stehen in einem Sinn- und Bedeutungszusammenhang. Das unterscheidet Schmerzen, die wir Tieren zuschreiben, von denen, die Menschen erleiden. Tiere sind im Schmerz gefangen, können sich nicht über ihn erheben und ihm keinen Sinn abgewinnen. Dem Schmerz (tierisch) ausgeliefert zu sein, ohne ihn (menschlich) in ein Selbstverständnis des eigenen Daseins erheben zu können, macht den Schmerz „sinnlos“ und grausam. Sie sind unerträglich, wenn wir z.B. wegen ihrer Stärke kopflos werden und sie uns so gefangen halten, dass wir ihnen keinen „freien“ Sinn mehr geben können. Sinnlose Schmerzen sind aber auch solche, die nur um des Schmerzes willen zugefügt werden. Beide sind „unbedingt“ schlecht. Das gilt für Tier und Mensch gleichermaßen. Und der Mensch wird in ihnen auf seine Bestialität, auf seine körperliche Funktion reduziert.

Cartesianischer Schmerz

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Genau das prägt das Verständnis des Schmerzes bis in die Moderne. Aller Anfang für das neue Verständnis des Schmerzen ist wie bei so vielen Dingen unseres modernen Selbst- und Weltverständnisses Rene Descartes (1596-1650). Er unterscheidet eine „geistige“ Substanz (res cogitans) von der körperlichen Welt der Dinge (res extensa). Der Mensch hat einen Körper, der nach mechanischen Prinzipien einer komplexen Maschine funktioniert. Gott „hätte kein besseres Mittel zu seiner Instandhaltung erfinden können, als ihn mit der Erfindung für Schmerz auszustatten“.[6]

Schmerzen können als sinnliche Empfindungen mehr oder weniger gut ertragen werden. Und wie die Leidenschaft und die „Lust auf“ übergroß werden kann (und z.B. in der Sucht schmerzhafte Züge annimmt) so in unterschiedlicher Stärke eine Gefahr für vernünftige Lebensführung.

Schmerz und Leid

Leiden (emotions) dagegen bezeichnet so etwas wie die seelische Grundstimmung, in der sich eine Person befindet. Ein leidender Mensch hat Schmerzen und leidet an seinen Schmerzen. Menschen verhalten sich als Personen zu ihren Schmerzen, geben ihnen einen Sinn oder verzweifeln an ihrer Sinnlosigkeit. Ein Mensch, der Schmerzen hat (z.B. leichten Muskelkater oder eine brennende Schnittwunde), muss sich nicht als Leidender verstehen. Das gilt sogar bei vergleichsweise großen Schmerzen.

Daran schließt Illich in seinen Überlegungen zum Schmerz an. Schmerz, Schwäche und Tod fordern unsere Lebensführung heraus. Und gesund sind wir nur, wenn wir der Wirklichkeit dieser Herausforderungen gerecht werden. Sie zu betäuben hieße, das menschliche Leben auf seine organischen Funktionen zu reduzieren. So wie das Hirn nicht denkt, sondern wir mit ihm, so ist der Schmerz etwas, zu dem wir uns verhalten. „Leiden“ ist für Illich ein „unvermeidlicher Teil“ der menschlichen Lebensführung. „Pflichtgefühl, Liebe, Begeisterung, Übungen, Gebet und Mitleid“ befähigen uns, „Schmerzen mit Würde zu ertragen“.

Das klingt vorderhand zynisch und ziemlich gefährlich. Illich meint aber keineswegs, man solle jeden Schmerz einfach ertragen und er spricht sich keineswegs gegen „Schmerzmittel“ aus. Illich wendet sich lediglich dagegen, Schmerz nur als das Signal für einen Maschinenschaden zu verstehen. Der Schmerz ist vielmehr etwas, das den Menschen zu seiner ihm eigenen Existenz herausfordert.

Rückenschmerzen und Migräne können Anzeichen einer falschen Lebens- und Arbeitsweise sein (Stichwort Stress und Selbstüberforderung) und sie sind es in den vielen Fällen wohl auch. Wir können die Schmerzen betäuben und so weitermachen als gäbe es keinen Grund für den Schmerz. Auch bei Unfällen oder absichtlich zugefügten Verletzungen durch andere wäre der Hinweis, Schmerzen ließen sich durch Schmerzmittel wieder ins Lot bringen, wohl ziemlich befremdlich. Schmerzlosigkeit – so würde Illich vermutlich sagen – ist ein irreführender Zustand, ein „Zustand der Betäubung“, der dem Menschen seine Natur verdeckt, die eben darin besteht, sich als „verletzliches Wesen“ zu begreifen. Der Tod kann so wenig besiegt werden wie die schlichte Betäubung des Schmerzes, die menschliche Natur befreit.

Geduld, Nachsicht, Mut, Resignation, Selbstbeherrschung, Ausdauer und Demut – alle diese Haltung drücken jeweils verschiedene Reaktionen aus, durch die der Schmerz … in die Erfahrung des Leidens verwandelt wird“ und damit menschlich ertragen wird. Die schmerzliche Erfahrung, die wir beim Tod eines uns nahestehenden machen, oder im Mitleiden an seinem Zustand, ist mit dem medizinischen Schmerz eben nicht gleichzusetzen. Hier eine „Betäubung“ zu wollen hieße die menschliche Antwort zu verweigern.

Betäubung

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Der medizinische Fortschritt bei der Bekämpfung des Schmerzes, der bei Thomas Dormandy eindrucksvoll beschrieben wird,[7] ist zweifellos ein großer Gewinn für die Menschheit. Die entwickelten „Schmerzmittel“ schützen uns vor sinnlosen Schmerzen. Sie ermöglichen es uns, unser Leben vernünftig zu führen und ihm Sinn zu geben. Freilich heißt Pharmakon (φάρμακον), das griechische Wort für Arznei auch Gift und Droge. Die Betäubung des Schmerzes darf nicht zu einer „Betäubung“ des Menschen führen, in der er taub gegen seine Natur wird und sich vor allem als funktionierende Organmaschine missversteht. Der Schmerz bleibt ein Teil unser Selbst- und Welterfahrung, in der wir uns als Personen wahrnehmen.

Hurt

I hurt myself today
To see if I still feel
I focus on the pain
The only thing that’s real

 

 

[1] Die Encyclopedia of Ethics (1992) spricht von einer “poverty of writings”. Das Verständnis dessen, was Schmerz bedeutet, “remains extremely disappointing“. Das gilt für Naturwissenschaft und Medizin, aber auch für die Philosophie: „Philosophers have contributed even less there.“ (II, 927ff.)

[2] Iibd. S. 98.

[3] J.S. Mill, Utilitarianism (1863), Chapter II.

[4] Robert Spaemann, Personen, Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘, 1996, S. 55.

[5] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), IV, B.

[6] Gottfried Wilhelm Leibniz, Essais de Theodizee (), Nr. 341; er zitiert dort Pierre-Sylvain Régis (1632-1707).

[7] Thomas Dormandy, The Worst of Evil, The Fight Against Pain, 2006.