Der natürliche Tod

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„Alle Menschen sind sterblich“ – so lautet eine für Logikkurse gängige Prämisse zur Erläuterung des Syllogismus. Die Aussage gilt als Schulbeispiel für eine Selbstverständlichkeit, deren Wahrheit von niemanden ernstlich bestritten wird und deshalb gut als unstrittiger Ausgang dienen kann, logische Schlussfolgerungen zu erläutern. Menschen sterben – sie sind „von Natur“ sterblich.

Der Tod entspricht der Natur des Menschen. Wie wir die eine begreifen, so verstehen wir den anderen. Wir reden von einem „natürlichen Tod“ und unterscheiden ihn von einem „unnatürlich“ und „gewaltsamen“. Unser Verständnis vom Leben bestimmt unsern Tod. Und umgekehrt offenbart sich „Wie wir leben wollen“ nicht zuletzt in der Art, wie wir sterben. Wir gewinnen ein gutes Bild über die Kultur einer Gemeinschaft, wenn wir „ihren“ Tod betrachten und verstehen welche Bedeutung der Tod für sie hat. „In allen Gesellschaften,“ sagt Illich vermutlich zurecht, „bestimmt das herrschende Bild vom Tode die allgemeinen Vorstellungen von Gesundheit.[1] Für seine „Nemesis der Medizin“ geht er deshalb dem Todesverständnis nach – und das ist wirklich lesenswert.  

Der natürliche Tod

Dass Menschen sterben und sogar alle, muss freilich keineswegs bedeuten, dass ihnen das „von Natur“ zukommt und es muss keineswegs heißen, dass sie es müssen. Lange Zeit wurde der Tod vielmehr als etwas betrachtet, das uns gleichsam „von außen“ ereilt. „Primitive Gesellschaften“, wie Ivan Illich etwas ungeschickt formuliert, „stellten sich den Tod als Folge der Intervention eines außenstehenden Akteurs vor. … Der Tod ist demnach das Ergebnis von irgend jemandes böser Absicht. Dieser Jemand, …, konnte ein Nachbar sein, der dich aus Neid mit einem bösen Blick ansieht, oder er konnte eine Hexe sein, ein verstorbener Vorfahr, der kommt und dich mitnimmt, oder die schwarze Katze, die dir über den Weg läuft.[2]

Im Christentum freilich gehört die (diesseitige) Sterblichkeit zur Natur des Menschen. Sie ist eine „schöpferische“ Entscheidung und insbesondere Folge des Sündenfalls. Der Tod gehört zur Natur des Menschen und sein Leben wird als eine Zeit der Bewährung verstanden, die ihn zur himmlischen Unsterblichkeit erheben oder in das Nichts der Hölle stürzen kann. In Abbildungen von Sterbenden, sieht man nicht selten, wie am Totenbett Engel mit dem Teufel um die Seele des Sterbenden ringen. Der Tod ist keine „fremd verursachte“ Katastrophe, vielmehr ist menschliches Leben ein „Dasein zum Tode“: der Mensch ist das Wesen, das um seinen Tod weiß und mit diesem Wissen zu leben hat.

Der Tod wird zum alter ego personifiziert: in frühen Darstellungen des Totentanzes, tanzen die Lebenden mit ihrem alter ego, wie Illich schön formuliert, „mit der eigenen bejahten Sterblichkeit durchs Leben“.[3] Der Tod zeigt sich allegorisiert in der Tracht und mit den Symbolen und Insignien, die die Rolle der Lebenden charakterisieren, denen er zugehört. Der danse macabre nimmt heidnische Bräuche auf und ist als mitternächtlicher Tanz mit den Toten auf dem Friedhof eher eine Feier des Lebens als eine beklemmende Prozession oder gar die Siegesfeier des Todes. In einem der frühesten Abbildungen

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Im „Herbst des Mittelalters[4] und mit der Reformation wird der Tod zum unpersönlichen Sensenmann, zum unbarmherzigen Gleichmacher. Er überfällt als Totengerippe, das nichts Weltliches mehr zeigt und alles Diesseitige fürs Jenseits bedeutungslos macht. „Aus einer lebenslangen Begegnung verwandelt sich der Tod damit ins Geschehen eines Augenblicks. … Der Tod ist nicht mehr das Ende eines Ganzen; er wird zur Unterbrechung einer zeitlichen Sequenz.[5]

Tricks gegen den Tod

Es tut sich die Möglichkeit auf, den Zeitpunkt der „Unterbrechung“ zu beeinflussen und das Leben zu verlängern. Man kann nun versuchen, den Tod zu übertölpeln, ihn abzulenken oder wissenschaftlich zu „behindern“. Francis Bacon (1561-1626), einer der Wegbereiter empirischer Wissenschaft, hatte neben Juristerei auch Medizin studiert und wies der Medizin drei Aufgaben zu: Erhaltung der Gesundheit, Heilung der Krankheit und Verlängerung des Lebens. Die Verlängerung des Lebens sei, dabei „ein neues Gebiet“, das „noch mangelhaft“ ausgearbeitet sei, „jedoch“ wie Bacon sagt, „das vornehmste von allen“.[6] Mit der Herausbildung der modernen Naturwissenschaften, wird der Mensch zur mehr oder weniger gut funktionierenden Körpermaschine. „Natürlich“ ist der Tod dann nur, wenn der Organismus durch die „natürliche“ Abnutzung des Alterns stirbt. Die „Abnutzung“ zu verlangsamen und das Leben durch medizinische „Behandlung“ zu verlängern wird nun zum „natürlichen“ Ziel menschlichen Lebens.

Montaignes Zweifel

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Eine der wenigen kritischen Stimmen gegen diese mechanische Sicht des Lebens und Sterbens ist Michel de Montaigne (1533-1592). Er sieht menschliche Würde darin, die Sterblichkeit anzuerkennen und für die eigene Lebensführung geltend zu machen. „Vor Alter sterben [=an Altersschwäche; HL] ist ein seltener, besonderer und außerordentlicher Tod, und eben deswegen so viel weniger natürlich, als die anderen Arten des Todes. Dieß ist die letzte und äußerste Art zu sterben.[7] Spät zu sterben ist nach Montaigne kein Recht, das wir einfordern könnten; es ist ein mehr oder weniger glücklicher Zufall: „wir sollten das Alter, zu welchem wir gelanget sind, als ein Alter betrachten, zu welchem wenig Leute gelangen.“ Wir haben keinen „Freybrief“, der uns „vor einer großen Menge Zufälle sicherte, denen ieder von uns natürlicher Weise ausgesetzet ist ..Was für eine Thorheit ist es nicht, daß wir auf die Abnahme der Kräfte warten, die das höchste Alter mit sich bringet, und unserem Leben dieses Ziel setzen, dadoch diese Todesart die allerseltenste und ungewöhnlichste unter allen ist? Wir nennen sie allein natürlich, eben als ob es wider die Natur wäre, wenn ein Mensch den Hals stürzt oder in einem Schiffbruche ersäuft, oder von der Pest und von Seitenstechen hingerissen wird … Wir sollten uns nicht mit diesen schönen Worten schmäucheln: man könnte allenfalls dasienige eher natürlich nennen, was sich bey allen ereignet, gewöhnlich und allgemein ist.[8] Wir führen unser Leben in einer Welt, die unsere Wünsche nicht immer erfüllt. Sein Leben mit anderen gegen die Widerstände der Umstände zu führen, ist nicht „widernatürlich“, sondern macht es aus. Als Krieger im Krieg und als Seemann auf dem Meer zu sterben, galt Jahrhunderte keineswegs als „unnatürlich“. Und so gehört zum menschlichen Leben die Gefahr zu erkranken und zu verunglücken.

Der schnelle Tod

Mit der Gestalt des Sensenmannes, der einen aus dem Leben reißt und dem eigenen Lebensvollzug von außen plötzlich ein Ende setzt, greift schließlich die Vorstellung vom schnellen Tod immer mehr um sich. Sie ist vermutlich die heute verbreitetste. Viele wünschen sich, dass sie der Tod friedlich schlafend oder unerwartet, plötzlich, schnell und schmerzfrei ereilt. Der Tod als eilender Bote, der einen überfällt und schnell Schluss mit einem macht, ist eine vergleichsweise „junge“ Vorstellung. Sie galt Jahrhunderte lang als grauenvoll. Man wollte das eigene Sterben erleben und mit seinem Leben ins Reine kommen. Dem Tod ging eine verabschiedende Besinnung voraus. Dass man sich bei einem Sterbenden entschließt, den Pfarrer zur letzten Beichte, Krankensalbung und letzter Kommunion zu holen statt ihm immer wieder zu versichern, dass alles wieder gut werde und er schon nicht sterbe, das kommt uns heute beinahe gefühllos und hartherzig vor. Und doch war dieses bewusste Abschiednehmen und Sich-Freigeben ein Zeichen eines würdigen menschlichen Sterbens.

Heute herrscht dagegen der Wunsch zum „bewusstlosen“ Sterben vor. Wir können mit dem Tod und der Begrenztheit des eigenen Lebens nichts anfangen und wollen nichts davon wissen. Ein Leben, das so sein Ende findet, gleicht einem Film, der nicht durch die „Story“ des (Lebens-)Regisseurs zu einem sinnvollen Abschluss gebracht wird, der vielmehr durch einen Filmriss mitten in der Story abbricht. In der traditionellen, nicht selten religiös geprägten Sicht, sind wir gehalten, uns selbst einen sinnvollen Abschluss zu geben.

Die Intensivstation

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Da der „bewusstlose“, schlafende Sterben nicht jedem gegeben wird und gerade durch die medizinische Behandlung das Leben sich mehr und mehr verlängern lässt, endet es nicht selten in einem langen Kampf mit stetig steigerndem Medikamentencocktail auf der Intensivstation. Heute ist der „natürliche Tod“ „jener Punkt, an dem der menschliche Organismus jeden weiteren ‚Input‘ an Behandlung verweigert“. Der Mensch ist gestorben, wenn das Messinstrument an der organischen Maschine (z.B. das Elektro-Enzephalogramm) nicht mehr ausschlägt.[9] Eric J. Cassel spricht hier von einer „Verlagerung des Todes aus der moralischen Ordnung in die technische Ordnung …[10]: „Der mechanisierte Tod hat alle anderen Todesarten besiegt und vernichtet.[11]

Der Arzt ist der Herr über Sterben und Tod geworden. Der Tod bekommt seinen Ausweis von ihm, den Totenschein. Der Arzt bescheinigt darin seine Einschätzung, ob es sich um einen natürlichen oder einen gewaltsamen, unnatürlichen Tod handelt und das besagt so viel, wie ob er medizinisch gerechtfertigt ist oder nicht. Klaus Püschel, der mit seiner Arbeit viel zur Aufklärung der Gefährlichkeit von SARS -CoV2 beigetragen hat, möchte deshalb jeden (!) Toten obduzieren – damit wir wirklich sicher sein können, das wir „richtig“ tot sind.

Der Arzt und der Tod

Überhaupt ist das Verhältnis von Arzt und Tod über die Zeiten für das Verständnis des natürlichen Lebens und Sterbens aufschlussreich. Einen schönen Überblick gibt Werner Block in seiner Sammlung Der Arzt und der Tod in Bildern aus sechs Jahrhunderten (1966). Ich selbst habe eine Jubiliäumssausgabe zur Jahrhundertfeier der Deutschen Gesellschaft für Chirugie (1972), die wohl den Ärzten einen Anlass zur schmunzelnd besonnenen Reflexion auf die eigene Geschichte und ihre Begegnung mit dem Tod geben sollte.

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Block führt ohne den „heiligen Zorn“ des Ivan Illich durch die Geschichte und zeigt uns den Arzt zunächst als Opfer, der sich mit seiner Kunst selbst nicht helfen kann. Schließlich wird der Arzt zum Helden im Kampf gegen den Tod. Der Arzt stellt sich dem Tod entgegen, bannt ihn und sperrt ihn ein. Das alles in Zeiten, in denen der Tod sich mit Massenvernichtungstechnologien gerüstet hat: im ersten Weltkrieg sterben Menschen wie Fliegen für die gute Sache. Dabei spielen die Ärzte eine Doppelrolle als Helfer des Todes im Giftgaskrieg und im Kampf gegen die perfiden Angriffe der gegnerischen Todeshelfer. Die es überlebt haben, kommen als andere Menschen zurück, die weit mehr als mechanische Serviceleistungen an ihrer Körpermaschine brauchen. Sie suchen eine neue Gesundheit jenseits der Angst vor der Angst zu sterben, der Angst vor dem Menschsein.

Exkurs: Philippe Aries und die Geschichte des Todes

Ivan Illich greift in seinen Betrachtungen zu Tod und Gesundheit immer wieder ausdrücklich auf die groß angelegte Geschichte des Todes von Philippe Ariès (dt. 1980) zurück. Ich gestehe, dass ich über die Jahre mehrere Anläufe für eine komplette Lektüre unternahm und sie bis heute nicht hinbekam. Ariès erschlägt den Leser mit Material, das er zunächst in große Kapitel-Themen zu gliedern scheint, dann aber überbordend präsentiert. Über der Fülle seiner Beobachtungen geht ihm immer wieder die ordnende Hand verloren. Eins führt zum anderen und alles schließlich zu nichts Bestimmtem. Seinem historischen, kulturwissenschaftlichen Interesse fehlt die systematische Fragestellung: er will nichts über den Tod selbst oder gar das eigene Sterben wissen. Ariès konzentriert sich auf eine historische Doxographie, die „nur“ beschreibt, was zu verschiedenen Zeiten ausgedrückt und „gemeint“ wurde, ohne die Gründe („der Alten“) zu prüfen und die eigenen Vorstellungen dabei zur Disposition zu stellen. Die Mängel dieser sich systematisch immunisierenden „historischen Methode“ wäre ein eigenes Thema – und dafür sollte man tatsächlich auch das Buch einmal in Gänze gelesen haben (LOL). Eine Leseempfehlung ist es allemal – und sei es nur, um sich durch die Fülle des Materials in den eigenen Selbstverständlichkeiten verunsichern zu lassen.

[1] Ivan Illich, Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens, München 2007, S. 125.

[2] Ivan Illich, a.a.O., S. 127.

[3] Ivan Illich, a.a.O., S. 127.

[4] Cf. Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters, Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, 1961, insbesondere Kap. XI.

[5] Ivan Illich, a.a.O., S. 128f..

[6] Francis Bacon, De dignitate et augmentis scientiarum (1605), IV, 2.

[7] Michel de Montaigne, Essays I, Hauptstück 57: Von dem Alter.

[8] Michel de Montaigne, a.a.O..

[9] Ivan Illich, a.a.O., S. 148.

[10] Eric J. Cassel zit. n. Ivan Illich, a.a.O., S. 298.

[11] Ivan Illich, a.a.O., S. 149.

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