Demokratie braucht Religion

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Religion ist eines der Gründungsthemen der Soziologie. Die neue Wissenschaft wollte verstehen, wie sich die alten Ordnungen vorwissenschaftlich und mit Hilfe irrationaler, religiöser Weltanschauungen legitimieren und wirksam erhalten konnten. Das soziologisch Erstaunliche ist, dass religiöse Erfahrungen stabile soziale Gebilde schaffen, die sich nicht auf rationale Vereinbarungen gründen. Ob Durkheim oder Weber, Troeltsch oder James – man wollte die Kraft „religiöser Erfahrungen“ verstehen ohne religiös sein zu müssen.

Und so erklärt uns Hans Joas heute, warum es Kirche,[1] und Hartmut Rosa, warum Demokratie Religion braucht.[2] Während Hans Joas vom christlichen Glauben ausgeht und für ihn eine kirchliche Organisation für notwendig hält, die dem „moralischen Universalismus“ des christlichen Glaubens gerecht wird, will Hartmut Rosa zeigen – „und zwar nicht als irgendwie religiöser Mensch, sondern als Soziologe“ – dass Kirche eine – Achtung: Wortwitz – „verdammt wichtige, eine sehr wichtige Rolle in dieser Gesellschaft zu spielen“ hat.[3] Religion ist gut, weil sie gut ist für Demokratie, dem – wie Hartmut Rosa meint – „zentralen Glaubensbekenntnis unserer Gesellschaft“?[4]

Keine Volksouveränität

Das ist einigermaßen irritierend. Religion und Demokratie scheinen doch verschiedenen Welten anzugehören. Religion beruft sich nicht auf Mehrheiten. Sie reklamiert für sich „höhere“ Wahrheit übernatürlicher Kräfte. Die jüdisch-christliche Tradition gründet sich auf die Offenbarung heiliger Texte, nicht auf Volkssouveränität. Deshalb haben die Kräfte des Fortschritts der Religion meist den Kampf angesagt. Aufklärung hat einen antireligiösen Impuls. Religion muss demokratisch entmachtet und religiöse Verblendung aufgeklärt werden.

Andererseits haben demokratische Willensbildungsprozesse (grund-)rechtliche Grenzen, die religiöse Minderheiten vor Übergriffen von Mehrheiten schützen sollen. Das aufklärerische Toleranzgebot schützt nicht zuletzt die Gläubigen vor Anders- oder Nichtgläubigen. In demokratischen Rechtsstaaten europäischer Prägung hat das zu einer weitgehenden Trennung von Staat und Religion geführt. Strittig ist dabei eher, ob die beabsichtigte Trennung zureichend umgesetzt wurde oder Überreste einer Vermengung staatlicher und religiöser Institutionen immer noch wirksam sind – man denke an die Diskussion über religiöse Symbole in und an staatlichen Gebäuden, die Kirchensteuer oder die Sonderstellung der von den vorherrschenden Kirchen vertretenen religiösen Überzeugungen, die nicht mehr zweifelsfrei den vorherrschenden Überzeugungen der Mehrheit der Bevölkerung entsprechen.

Soziologie als Natürliche Theologie?!

Hartmut Rosa, 2015

Wenn Hartmut Rosa nun dennoch zeigen will, dass Demokratie Religion braucht, dann übernimmt der Soziologe hier in gewisser Weise die Rolle der Natürlichen Theologie, die traditionell Glaubensinhalte mit „natürlicher“ Vernunft für Nicht- oder Anders-Gläubige begründen wollte. Das war allerdings nicht Teil der Mission, den Glauben zu verbreiten und zum Menschen zum Glauben zu führen. Natürliche Theologie wollte nicht zum Glauben bringen, sondern durch Argumente von der Richtigkeit des im Glauben Für-Wahr-Gehaltenem überzeugen. Es ist Teil einer Selbstverständigung des Glaubens, die den Glauben schon voraussetzt und von ihm ausgeht, nicht zu ihm hinführt. Glaube wird nicht durch Argumente gestiftet, sondern durch Erfahrungen, insbesondere solchen, die man mit gläubigen Menschen macht. Der Glaube ist ein Widerfahrnis, theologisch gesprochen eine Gnadengabe.

Wer sich nun „nicht als irgendwie religiöser Mensch, sondern als Soziologe“ der Religion zuwendet, der wird nicht erwarten (dürfen), zum Glauben zu führen. Wenn uns der Soziologe „glaubhaft“ machen kann, dass Religion „gut“ für die Demokratie ist, werden wir damit nicht zu Gläubigen. Er kann uns allenfalls zeigen, dass Gläubige etwas auszeichnet, das für die Demokratie gut, nämlich nützlich, und vielleicht sogar notwendig ist. Der Glaube kann der Demokratie „guttun“, aber man kann nicht glauben, weil es der Demokratie guttut: „Demokratie braucht Religion? Ok, dann glauben wir halt (wieder)“ geht wohl nicht auf.  

Man wird Hartmut Rosa wohl missverstehen, wenn wir in ihm einen Missionar in soziologischer Verkleidung vermuten. Nun geht bei Hartmut Rosa aber tatsächlich einiges ein wenig durcheinander. Das ist sicherlich dem Umstand zuzurechnen, dass Demokratie braucht Religion auf einen Vortrag zurückgeht, den Hartmut Rosa beim Würzburger Diözesanempfang gehalten hat und der naturgemäß nicht der wissenschaftlichen Präzision und argumentativer Vollständigkeit verpflichtet ist. So spricht Hartmut Rosa mal von der Bedeutung der Kirche und mal von Religion, „religiösem Denken“ oder religiöser Weltanschauung. Mit Kirche meint er (vermutlich) vor allem den Raum, in dem religiöse Erfahrungen wirksam sind und gepflegt werden. Bei der Rolle der Kirche geht es ihm also wohl um die Bedeutung, die er dem „Religiösen“ für die Demokratie zusprechen will.[5]

Demokratien des „rasenden Stillstands

Auch von „Demokratie“ spricht Hartmut Rosa in besonderer Weise. Er meint zwar im Wesentlichen die politische Ordnung der „westlichen“, europäischen und transatlantischen Länder mit ihrem Parlamentarismus. Aber es geht ihm dabei gar nicht um die politische Ordnung selbst als vielmehr um den gesellschaftlichen Zustand: er sieht die demokratischen Gesellschaften des Westens in der Verfassung des „rasenden Stillstands“. Sie erhalten sich nur durch beschleunigtes Wachstum. Um sich zu erhalten, müssen sie – so Hartmut Rosa – immer mehr Energie aufwenden. „Wir brauchen Wachstum!“ ist die Maxime der modernen, wir dürfen wohl sagen: kapitalistischen Gesellschaften. „Wir brauchen Wachstum“, „weil wir ohne Wachstum das gesamte bestehende gesellschaftliche Gefüge nicht mehr erhalten können. […] Das ganze System lebt also davon, dass wir jedes Jahr wachsen müssen.[6] Hartmut Rosa verbindet mit diesem Wachstumszwang kapitalistischer Gesellschaften „die These, …, dass diese Logik der gesellschaftlichen Einrichtungen systematisch ein Aggressionsverhältnis zur Welt stiftet.

Der Mensch der modernen westlichen Demokratien erlebt die Welt als fremd und hat sich von sich und dem was er geschaffen hat, entfremdet. „Das Gefühl ‚Lange geht das nicht mehr gut‘, ist zum kulturell dominanten Gefühl geworden.[7] 

Soziologie des guten Lebens

Dem stellt Hartmut Rosa die Resonanz-Erfahrung entgegen. In seinem höchst anregenden Buch Resonanz, Eine Soziologie der Weltbeziehung von 2016 will er eine „Soziologie des guten Lebens“ entwickeln, bei dem es auf „die Qualität der Weltbeziehung ankommt“, die er Resonanz nennt. „Gelingendes Leben“ so Hartmut Rosas „Kernthese, besteht in einer Form der Weltbeziehung, die in ihrer Tiefenstruktur resonant ist. Gelingendes Leben ist geradezu definierbar als ein resonantes Weltverhältnis.[8]

Hartmut Rosa versteht „Resonanz“ als einen „strikt relationalen Begriff“ – etwas, die Person, steht in Beziehung zu etwas, nämlich zur „Welt“. Resonanz ist „ein Modus des In-der-Welt-Seins, das heißt eine spezifische Art und Weise des In-Beziehung-Tretens zwischen Subjekt und Welt“. Und dieses In-Beziehung-Treten kann (mehr oder weniger) gelingen oder scheitern. Zwar gilt auch hier, dass man nicht nicht kommunizieren kann – wir sind Welt-Wesen und unser Sein ist In-der-Welt-Sein. Aber man kann sich in der Welt nicht wiederfinden, sich in dem nicht erkennen, worin man sich befinden.

Resonanz ist das Andere der Entfremdung.[9] Was immer man im Einzelnen unter „Entfremdung“ verstehen will, immer wird damit zum Ausdruck gebracht, dass etwas „fremd“ wird oder geworden ist, das einem ursprünglich vertraut und so zu eigen war, dass es seine „eigentliche“ Natur ausmacht.

Nun bergen Relationsbegriffe immer die Gefahr, dass man sie zirkulär zu verstehen sucht. Entfremdet ist, wer gegen seine Natur lebt, und Natur ist das, was nicht entfremdet ist. Was man einem „eigentlich“ ist, mag einem durch die Erfahrung der Entfremdung, der erlebten Dissonanz, kenntlich werden – die Natur, von der wir uns entfremden, ist freilich sachlich vorrangig und nur an ihr kann man Entfremdungserfahrungen von anderen unterscheiden. Wir erfahren dann, was uns „eigentlich und im Grunde“ ausmacht. Nach Hartmut Rosa gilt, dass „Menschen existentiell vom Verlangen nach Resonanzbeziehungen geprägt“ sind: „Menschliches begehren lässt sich deshalb schlechthin als Resonanzbegehren interpretieren.“ In Demokratie braucht Religion formuliert das Hartmut Rosa prägnant so: „Das Wesen meiner [menschlichen] Existenz ist eine Resonanzbeziehung.[10] Wir wollen, dass unser Leben „stimmt“ und zwar so, dass das die Welt „von sich her“, zwanglos mit unserem Begehren einstimmt. Nimmt man die Resonanz als akustische Metapher ernst, dann dürfen wir nicht nur hören, was wir hören wollen oder gar, wozu wir das Andere unserer selbst, woher gezwungen haben, es gewaltsam verzerrt zu äußern. „Echte“ Resonanz stellt sich nur ein, wenn wir hören, was von sich her zu Gehör gebracht wird. Es gilt, die Wirklichkeit nicht gewaltsam herzustellen, sondern die Dinge so „sein zu lassen“ und sie so zu vernehmen wie sie (an sich) sind. Das gilt nicht zuletzt für das soziale Miteinander-Sein. „Resonanzerfahrung sind nur dort möglich, wo wir in Übereinstimmung mit unseren starken Wertungen handeln, wo unsere kognitiven und evaluativen Landkarten mit unserem Handeln und Sein konvergieren… In Resonanzmomenten stimmen Sein und Sollen tendenziell überein.[11]

Die Weisheit Salomos

Hartmut Rosa greift hier die Jahreslosung des Bistum Würzburg auf, nämlich „Gib mir ein hörendes Herz“. [12] Gott war König Salomo im Traum erschienen und sprach zu ihm: „Sprich eine Bitte aus, die ich Dir gewähren soll.“ Salomos erbittet „ein hörendes Herz“, um „das Gute vom Bösen unterscheiden“ zu können. Nichts scheint Salomon vorzüglicher als „Gehör“ fürs Gute zu haben. Die Bitte Salomos findet natürlich das Gefallen Gottes: „Weil du gerade diese Bitte ausgesprochen hast und nicht um langes Leben, Reichtum oder um den Tod deiner Feinde, sondern um Einsicht geben hast, um auf das Recht zu hören, werde ich deine Bitte erfüllen. Sieh, ich gebe dir ein so weises und verständiges Herz, daß keiner vor dir war und keiner nach dir kommen wird, der dir gleicht…[13]

Für Hartmut Rosa drückt sich darin ein Grundzug des Religiösen aus, nämlich die Bereitschaft auf das, was ist, für den Gläubigen vorrangig Gott, zu hören und sich daran auszurichten. „Dein Wille geschehe“ wird hier zur Forderung, der Welt sich zwanglos zu nähern und in eine resonante Schwingung mit den uns umgebenden Dingen und Lebewesen zu kommen. Hartmut Rosa beruft sich dabei auch auf den französischen Soziologen und Anthropologen Bruno Latour: „Das Wichtigste ist, dass ich aufhöre.“[14] Aufhören in der zwiefachen Bedeutung, sinn-, nämlich „gehörlosen“, aggressiv entfremdeten Tun aufzuhören und stattdessen im Hören auf das Begegnende in Resonanz zur Welt zu kommen. Und hier ist die Nähe zur Religion. „Ich glaube“, sagt Hartmut Rosa, „eben daraus gewinnt auch die Religion per se ihre große Kraft; daraus nämlich, dass sie eine Art vertikales Resonanzversprechen gibt, dass sie sagt: Am Grunde meiner Existenz liegt nicht das schweigende, kalte, feindliche oder gleichgültige Universum, sondern eine Antwortbeziehung.

Die Resonanz muss ein wenig nachklingen

Das geht alles ein wenig schnell, die Analogien scheinen mir nicht vollständig überzeugend und die Natürliche Theologie des Soziologen Hartmut Rosa lässt tatsächlich viele Fragen offen. Man möchte dem Soziologen auch zurufen, er möge bei seinem Leisten bleiben, wenn er „das Wesen der menschlichen Existenz“ ohne große philosophische Skrupel bestimmen zu können glaubt. Aber: Der Beschreibung der geschichtlich-gesellschaftlichen Lage eines „rasenden Stillstands“, der zunehmend aggressiv die Selbstzerstörung des sozialen Zusammenlebens befördert, würde ich weitgehend zustimmen. Auch hier gibt das Buch von 2016 natürlich mehr und fundiertere Einsichten (– deshalb ist meine Leseempfehlung das Buch von 2016 und nicht der Religionsvortrag von 2022.)

Demokratie funktioniert“, auch da würde ich zustimmen, „nicht im Aggressionsmodus[15] und braucht die Bereitschaft „hörender Herzen“ aufeinander zu hören und sich respektvoll zu verständigen. Cancel Culture und die Verunglimpfung von anderen Meinungen als Idioten, Verschwörungstheoretiker, XY-Leugner oder Rechtsextreme sind jedenfalls kein Ausdruck „hörender Herzen“. Der Hinweis auf Resonanzerfahrungen wie sie im Glauben vorliegen mögen, mag zu denken geben und die Bereitschaft fördern, nicht einem aggressiven, meist allzu selbstgerechten Moralismus Vorschub zu leisten und eine gewisse dialektische Demut zu zeigen, auch „der Andere könnte recht haben“ oder zumindest etwas Bedenkenswertes vorbringen.

Dass Hartmut Rosa damit der Religion nicht gerecht wird, ist eine Sache – das würde er sicher auch nie behaupten. Vor allem zeigen nicht zuletzt die Erfahrung der Religionskriege, dass Religion – leider – nicht selten in einem eigenen „Aggressionsmodus“ gerät. Demokratie kann vielleicht Religion brauchen, sie braucht aber vor allem Demokraten mit einem „hörendem Herz“ für die Würde der Anderen, ihre Grundrechte und das Recht, andere Meinungen zu haben und andere Lebensformen zu wählen.

[1] Hans Joas, Warum Kirche, Selbstoptimierung oder Glaubensgemeinschaft, 2022.

[2] Hartmut Rosa, Demokratie braucht Religion, 2022.

[3] Rosa 2022, a.a.O., S. 26f.

[4] Rosa 2022, a.a.O., S. 54.

[5] Dass er von Kirche spricht, zeigt wohl auch, dass er seinen Bezugspunkt bei der christlichen Religion hat ohne freilich das Religiöse darauf zu beschränken.

[6] Rosa 2022, a.a.O., S. 38f.

[7] Rosa 2022, a.a.O., aS. 45.

[8] Hartmut Rosa, Resonanz, Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2016, S. 733.

[9] Rosa 2016, a.a.O., S. 306.

[10] Rosa 2022, a.a.O., S. 73.

[11] Rosa 2016, a.a.O., S. 291f.

[12] 1 Könige 3, 9 war die Jahreslosung 2022 des Bistums Würzburg.

[13] 1 Kön 3, 11f.

[14] Rosa 2022, a.a.O., S. 56.

[15] Rosa 2022, a.a.O., S. 53.

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