Das Wesen der Pflanzen …

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»Die Pflanze der Liebe« – Manuela Herhaus-Leitner: Ginkgo biloba (2019) – Vergrößern

… und ihrer Liebhaber

Der Genuss von Fleisch und tierischen Produkten steht in der Kritik. Neben ökologischen Bedenken (Verbrauch von Ressourcen und bedenklicher ökologischer „Fußabdruck“) sind es vor allem Fragen der Tierethik, die immer mehr zu einem Umdenken unserer Ernährungsgewohnheiten führen. Die Massenproduktion tierischer Ware ist tatsächlich abschreckend und abstoßend: Tiere werden zu Rohstoffen einer schier unerschöpflichen Konsum- und Verwertungsgier degradiert. Dass Tiere als leidensfähige Kreaturen Rechte haben, die uns in unserem Verhalten zu ihnen verpflichten, gilt inzwischen als weitgehend anerkannt. Tierquälerei ist strafbar und das Töten von Tieren unterliegt gesetzlichen Regelungen, die inzwischen vielen als ethisch fragwürdig und unzureichend gelten. Artgerechte Haltung ist die Mindestforderung, die gegenüber einer durch Marktlogik und Gewinnmaximierung getriebenen Produktion geltend gemacht werden muss. Grundsätzlich geht es um die Frage, wie wir mit unseren „natürlichen, empfindungs- und leidensfähigen Verwandten“ umgehen wollen.

Immer mehr Menschen ernähren sich nicht zuletzt aus Gewissensgründen vegetarisch oder vegan. Eine pflanzliche Ernährung gilt nicht nur als gesünder und ökologisch und sozial weniger verdächtig, sie scheint vielen inzwischen als ethisch geboten. Ist die Produktion pflanzlicher Lebensmittel aber ethisch neutral? Darf alles beim Alten bleiben, wenn wir unsere Lebensmittelindustrie von tierischen auf pflanzliche Produkte umstellen? Natürlich nicht und das behauptet auch niemand. „Pflanzenschutzmittel“ ruinieren Fauna und Flora; industriell betriebene Landwirtschaft in Monokulturen gefährden Böden, Grundwasser und Artenvielfalt; und der Einsatz von genetisch veränderten Arten (sogenannten Biofakten) sind ethisch nicht über jeden Zweifel erhaben. Das sind allerdings Fragen, die uns und unser Wirtschaften betreffen und nicht die Pflanzen selbst. Was wäre an ihnen zu schützen? Wenn wir das Fällen von Wäldern und alten Innenstadt-Bäumen beklagen, dann scheint es uns weniger um die Pflanzen selbst als vielmehr um uns gehen, um die Erhaltung unseres Lebensraums und der Bedingungen, die wir fürs Überleben brauchen (Sauerstoff, günstige Klimabedingungen und ausreichende Bio-Ressourcen). Gibt es aber analog zum Tierschutz auch Rechte von Pflanzen, die anzuerkennen und zu schützen sind? Das wäre neu.

Verlag Anje Kunstmann (2015)

Stefano Mancuso und Alessandra Viola deuten das in ihrem vielbeachteten Buch „Die Intelligenz der Pflanzen“ (2015) in der Einleitung und in ihren „Schlussfolgerungen“ am Ende des Buches an. Sie sprechen von einem „kühnen“ Schritt, Pflanzen als etwas zu verstehen, das „Würde“ hat und deren Rechte wir zu achten haben, vergleichbar denen von Mensch und Tier.

Würde“ so führen Mancuso und Viola aus, würde bedeuten, „dass Pflanzen unsere Achtung verdienen, dass wir ihnen gegenüber zu etwas verpflichtet sind. Halten wir Pflanzen allerdings nur für simple Objekte, für passive Apparate, die unweigerlich ihr Programm abspulen, oder für Organismen, die einzig und allein unseren Interessen dienen, ja dann muss ein Attribut wie Würde absurd und widersinnig klingen.“ (152) Tatsächlich kommen Mancuso und Viola ziemlich nahe an die Grenze des Widersinnigen heran: sie versuchen eine Neubewertung der Pflanzen indem sie ihre großartigen Leistungen herausstellen und tun dies in einer Form, die diesem Sinn ziemlich zuwiderläuft. Liegt die Würde eines Menschen an seinen großartigen Leistungen? Gnade unseren Babies und unseren Greisen! Haben wir Rechte, weil wir keine „simplen Objekte“ und „passiven Apparate“ sind, sondern vielmehr – glücklicher Weise – komplizierte und aktive! Na toll. Hat eine komplizierte Uhr Würde und ein „interaktiver“, „selbstregulierender Apparat“ wie eine moderne Klimaanlage oder ein moderner Containerhafen Rechte? Natürlich ist das nicht das, was Mancuso und Viola meinen. Aber was sie wirklich meinen, können sie nicht richtig sagen. Alles bleibt halbherzig und sie können den Wirrwarr der unterschiedlichen Argumentationsfäden nicht auflösen.

Mancuso und Viola wollen vor allem eins zeigen: Pflanzen sind anders und vor allem viel erstaunlicher als man denkt. Und das ist – zumindest für den Laien, der ich bin – der wirkliche Gewinn der Lektüre. Man staunt tatsächlich über das, was Pflanzen ausmacht und was sie vollbringen. Das Buch beschreibt in seinen Kernkapiteln durchaus einnehmend, für den Laien verständlich und mit viel Liebe zur „Sache“ die faszinierenden Leistungen der Pflanzen und unsere große Abhängigkeit von ihnen. Der blaue Planet ist eigentlich ein grüner, kein „Planet der Affen“, einer der Pflanzen. Sie haben im Laufe der Evolution erstaunliche Überlebensfähigkeiten entwickelt. Dazu gehören auch Dinge, die wir traditionell nur Tieren und Menschen zusprechen: Sie haben alle Sinne, die wir haben (und viele unserer tierischen Verwandten). Sie können sehen, riechen, schmecken, fühlen und hören. Ok. Pflanzen können alles, was Mensch und Tier können und noch viel mehr. Sie haben fünfzehn weitere Sinne: sie können z.B. einen Sinn für Feuchtigkeit und einen Gravitationssinn. Sie können sprechen, mit Tieren und untereinander kommunizieren und haben sogar Internet und zwar ein viel besseres (u.a. 135ff.)! Und vor allem können sie Photosynthese. Sie haben sogar Charakter! Es gibt „ehrliche und unehrliche“ Pflanzen, solche die „tugendhaft“ (kein Quatsch!) sogar „sehr tugendhaft“ (110) sind und andere die „lügen und betrügen“ und vor gar nichts zurückschrecken, „um zu kriegen, was sie wollen“. Also haben sie wohl auch einen Willen und können sich „schrecken“!? Die Zuordnung von solchen menschlichen und tierischen Fähigkeiten bleibt meist etwas sehr „analogisch grobschlächtig“ und folgt dabei dem oft kritisierten Muster: „Warum haben die Menschen vorstehende Nasen?“ – „Damit sie Brillen tragen können!“ Dass Pflanzen mit Tieren sprechen wird z.B. damit begründet, dass Tiere auf Geruchsstoffe von Pflanzen reagieren. „Wie es den genialen Geschöpfen gelingt“ das alles zu tun, ist noch nicht – vorsichtig formuliert (!) – in allen Einzelheiten bekannt. Aber Mancuso und Viola spekulieren schon mal. Und da sie das tun, ist das auch erlaubt.

Richtig düster wird’s, wenn sie zum Herzstück ihrer These von der „Intelligenz der Pflanzen“ kommen. Was ist darunter zu verstehen und wie könnte die Zuschreibung begründet werden? Wie an vielen Stellen, greifen Mancuso und Viola auf eine wahrhaft wissenschaftliche Methode zurück: sie lassen sich durch Konversationslexika inspirieren. Was müssen wir nochmal unter „sehen“ verstehen? Schlag nach bei Brockhaus wäre zu einfach. Mancuso und Viola greifen lieben zu Meyers Großem (!) Lexikon. Bei dem, was es heißt „intelligent“ zu sein, ist die Sache laut Mancuso und Viola deshalb noch schwieriger, weil „es so viele Definitionen von Intelligenz gibt wie Forscher, die man fragt“. Das mag richtig sein. Der Leser – also ich zumindest – wäre schon dankbar gewesen, wenn tatsächlich wenigstens einige der Bedeutenden gefragt und die Gründe für ihre Unterschiede erläutert worden wären. Stattdessen machen Mancuso und Viola es lieber selbst (geht schneller?!) und definieren: „Intelligenz ist die Fähigkeit zur Problemlösung.“ (122) Da wäre jetzt so viel nachzufragen … aber lassen wir das.

Kommen wir gleich zu einem Meisterstück ihres philosophischen Dilettantismus und des völligen Mangels wissenschaftlich-methodischen Reflexion, durch die sich das Buch immer wieder „auszeichnet“: Mancusos und Violas Begründung der Intelligenz der Pflanzen. Sie greifen dabei auf das Turing-Experiment zurück. Wenn eine intelligente Leistung so simuliert werden kann, dass sie als Simulation nicht mehr zu erkennen ist, dann darf die Simulation intelligent genannt werden. Sollte es also bei intelligenten Leistungen von Menschen (oder Tieren) und vergleichbaren Leistungen bei Pflanzen im Blindversuch keinen sichtbaren (!) Unterschied geben, dann darf ihnen die Intelligenz nicht abgesprochen werden.

Fehlende Bildung ist noch kein Charaktermakel. Man sollte halt kein Buch schreiben oder nur über Sachen, bei denen man sich auskennt. Der Professor für Botanik an der Universität Florenz aber versucht sich an philosophischen Dingen und dilettiert. (Bei Viola der Wissenschaftsjournalistin ist das wenigstens Beruf.) Und wenn man dann schon keine Zeit zum Studieren der Texte hat, dann könnte man wenigstens selbst mal ein wenig nachdenken?!

Das Turing-Experiment ist ja nun doch schon ein paar Jahre alt und seither wurde ausführlich diskutiert, was es belegen kann und was nicht. John Searle hat 1980 (!) in einem auch nicht ganz unbekannten Aufsatz (Mind, Brains, and Programs) die Beweisfunktion relativiert, um nicht zu sagen vernichtend kritisiert. Er schlägt vor, den Versuchungsaufbau durch ein Gedankenexperiment etwas zu ergänzen: in einem Raum sitzt, sagen wir, ein weder finnisch noch chinesisch sprechender Deutscher, dem über Zettel finnische Wortkarten gegeben werden und er dank einer vorbereiteten Übersetzungsliste die korrekten chinesischen Wortkarten zurückreicht. Würden wir sagen, er spräche Chinesisch oder Finnisch oder hätte übersetzt? Wohl nicht. Der Turing-Test hat mit Blick auf die von Mancuso und Viola gestellte Frage einen Design-Fehler: Wie immer sich die Probanden in den getrennten Zimmern auch schlagen mögen, einer konnte tatsächlich etwas und der andere hat es (nur) simuliert. Etwas kann aber nur simuliert werden, wenn es die Leistung wirklich gibt. Die Simulation ist eine Simulation einer Leistung, nicht aber die Leistung selbst. Sie ist Simulationsleistung. Die Simulation „lebt“ oder besser gesagt ist abhängig von der Leistung, die eben nicht simuliert ist, sondern echt. Eine Computersimulation ist eine Simulation – das virtuelle Leben nicht das echte, selbst wenn wir es manchmal nicht ganz einfach unterscheiden können. Die augmented reality von Computersimulationen bietet eben mehr und zugleich weniger: sie hat ein künstliches Mehr – wir können Dinge, die wir (sonst) eigentlich nicht können – um den hohen Preis eines entscheidenden Verlusts, dem der Realität. Der Computer rechnet nicht, er simuliert das Rechnen, und „er kann“ das, weil wir diese Simulation durch unsere Leistung mechanisiert haben, die des Rechnens und die vielleicht noch wichtigere Leistung, die Simulation zu ermöglichen. Wenn wir wissen wollen, ob die Rechenmaschine funktioniert, müssen wir „nachrechnen“ und gucken, ob seine „Mechanik“ zu richtigen Ergebnissen führt. Mechanisch leitet sich im Übrigen vom Griechischen mechanike her, und bezeichnet eine List und Kunstgriff, um u.a. Leute wie Mancuso und Viola in die Irre zu führen?! (Ich vermute, das kann man auch im Großen Meyers nachlesen?)

Das Turing-Experiment ist schon von Experimentaufbau auf etwas anderes aus. Es zielt darauf ab zu entscheiden, wann eine Funktion (effektiv) richtig, nämlich ergebnisgleich, abgebildet wurde. Aber es kann natürlich die „künstliche“ Intelligenz, die der Experimentierende hinter der einen Tür versteckt hat, nicht zu einer natürlichen machen. Aber von all dem hat Mancuso und Viola entweder keine Ahnung oder sie wollen es uns – sicherheitshalber – vorenthalten, damit in uns nicht zu viele Zweifel erwachsen, die unsere (nicht pflanzliche) Intelligenz dann am Ende überfordern?

Wirklich ärgerlich – aber nicht untypisch ! – ist freilich die Ignoranz, mit der die Tradition bedacht wird. Eine Neubewertung setzt ja voraus, sich von der alten Sicht der Dinge abzusetzen. Die Pflanzen anders zu verstehen, ist zugleich eine Kritik an der Tradition. Das ist den beiden Autoren wichtig und wird im Buch vielfach wiederholt: Die Tradition hat das Wesen der Pflanzen falsch verstanden, ihre wunderbaren Leistungen nicht wahrgenommen und sie vom Blickwickel der Tiere und natürlich des Menschen sträflich abgekanzelt. Erstaunlich ist nun, auf welche Vorgänger sich die Kritik von Mancuso und Viola richtet. Es sind gerade die falschen: sie kritisieren ausgerechnet den Teil der Tradition, der mit einer Philosophie des Lebendigen das Lebendige als Lebendiges zu verstehen und es nicht ins leblos Mechanische aufzulösen suchte. Allemal seit Descartes und der Aufklärung (insbesondere französischen à la Diderot und d’Alembert) bis zur modernen Biologie wurde die Sicht aufs Lebendige durch eine Reduktion auf mechanisch-chemische Vorgänge geprägt. Tiere – geschweige denn Pflanzen – wurden als mechanisch-bio-chemische Automaten verstanden, denen ein Innenleben, eine Seele abgeht und die deshalb auch keine Rechte beanspruchen können. Die mechanisch-technische Erklärung der Naturwissenschaft löst das Lebendige ins Tote auf und macht es völlig unzugänglich. Das prägt die Biologie weitgehend noch heute. Eine Sache verstehen ist der modernen Naturwissenschaft in einer berühmten Formulierung von Thomas Hobbes to „imagine what we can do with it when we have it“. Nicht die Sache selbst, ihre Simulation zu eigenen Zwecken ist ihr Antrieb. Das gilt nicht zuletzt für Darwins Evolutionstheorie, die Leben gänzlich auf physikalisch-chemische Prozesse reduziert und denen die beiden Autoren sich herzlich verbunden wissen.

Aristoteles (384–322 v. Chr.) – Wikimedia

Ihr Feindbild ist Aristoteles und die aristotelische Tradition, die sie allerdings gründlich …, na ja, wenn wir höflich bleiben wollen, missverstehen? „Der antike Philosoph und Naturforscher hielt Pflanzen für seelenlos…“ und da die Seele bei ihm die „Ursache aller Bewegung“ sei (150) galten die Pflanzen dem „aristotelischen Denken“, das „unsere abendländische Kultur über Jahrhunderte geprägt hat“, „lange Zeit für bewegungsunfähig und ansonsten keiner weiteren Beachtung“ würdig. „Erst mit der Aufklärung und seinem Einfluss“ konnte sich die Botanik von diesen Vorurteilen befreien. Das heißt nun wirklich den Bock zum Gärtner machen!

Wo soll man bei solcher Ignoranz anfangen? Dass die Seele für Aristoteles nicht „Ursache aller Bewegung“ ist? Das ist zwar falsch, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Denn der Schluss der sich darauf aufbauen soll, ist es sowieso. Natürlich sind Pflanzen beseelt und bewegen sich (ein kurzer Blick in De Anima, eines der großen Werke der abendländischen Tradition belegt das; die Autoren führen De Anima selbst an – wir hoffen, dass sie es nicht gelesen haben, denn ansonsten …): Bewegung ist die etwas sperrige Übersetzung des griechischen „kinesis“, die neben der Ortsbewegung alle Zustandsveränderungen bezeichnet also z.B. auch Wachstum, Qualitätsänderungen, Entstehen und Vergehen umfasst. Wer wollte ohne auch nur ein Wort von Aristoteles gelesen zu haben ernsthaft unterstellen, er hätte das Wachstum und die Zustandsänderungen von Pflanzen nicht bemerkt? Und natürlich geht das Wachstum auch mit einer Veränderung im Raum einher: die Pflanze wird eben größer. Pflanzen „bewegen“ sich, aber sie sind örtlich verwurzelt. Na gut, das kann man schon mal überlesen.

Im Übrigen findet sich die Besonderheit der Pflanzen, die Mancuso und Viola hervorheben, dass sie anders „organisiert“ sind als Tiere und deshalb auch dann überleben, wenn ihnen Teile verloren gehen, bereits bei Aristoteles. „Indes scheinen die Pflanzen auch geteilt weiterzuleben…“ (De Anima 411b19f). Das liegt daran, dass ihre Organe anders sind als die tierischen. „Organe sind auch die Teile der Pflanzen, aber ganz einfache, wie das Blatt als Schutz der Fruchtschale, und die Fruchtschale als Schutz der Frucht. Die Wurzeln sind analog dem Munde; denn beide nehmen Nahrung auf. Wenn man nun etwas Gemeinsames von jeder Seele sagen soll, so ist sie wohl die erste Vollendung eines natürlichen, organischen Körpers. Daher darf man auch nicht fragen, ob die Seele und der Körper Eines sind, wie auch nicht, ob das Wachs und die Figur (Eines sind)…“ (De Anima 411b30ff.) Das müssen Mancuso und Viola wohl auch „überlesen“ haben.

Erstes Prinzip des Lebens ist Ernährung und Wachstum. Das wird der pflanzlichen, vegetativen Seele zugerechnet. Natürlich ernähren sich auch Tiere und Menschen und haben damit Anteil an der vegetativen („pflanzlichen“) Seele. Das Wesen der Pflanzen, ihre Form, ist als solches Teil der tierischen und menschlichen Seele. („denn ohne das ernährende Vermögen gibt es nicht das wahrnehmende…“: De Anima 415a2; cf. auch 434a22ff.) Wir verdauen und bilden Muskeln aus. Zum Glück. Und je genauer wir diese „seelische Tätigkeiten“ beschreiben, desto größer wird unser Staunen über die komplexe Ordnung dieser Prozesse – auch wenn wir nicht davon sprechen (müssen), dass unser Darm sieht, riecht, hört oder spricht oder ein überaus intelligentes Internet betreibt.

Die Brücke, die Darwin geschlagen haben soll, indem er die Verwandtschaft von Pflanzen mit Tier und Mensch behauptet und ihre Bewegungen entdeckt und untersucht hat, war schon lange gebaut, bevor sie durch die moderne Wissenschaft eingerissen und zwielichtig wiederaufgebaut werden soll.

Unstrittig ist, dass Aristoteles nur einen Bruchteil dessen wissen konnte, was wir dank Professor Mancuso und seinen Kollegen heute über Pflanzen wissen. Er hat sich in vielem vermutlich auch geirrt. Seine große Leistung allerdings, die weit über die Botanik à la Mancuso hinausgeht, ist das, was das Lebendige ausmacht, wirklich bestimmt zu haben. Leben ist das Sein des Lebendigen. Es ist nicht etwas, das zum Körper des Lebendigen irgendwie hinzukommt, sondern es in seinem Sein formt. Pflanzliches Leben ist ein Teil des Lebens, das uns in Tieren und Menschen schutzwürdig scheint. Aristoteles gibt damit anders als Mancuso und Viola einen echten Ansatzpunkt für die Frage, ob Pflanzen Rechte zugesprochen werden müssen. Für die Zuordnung von Rechten wäre vermutlich der Nachweis der Empfindungs- und Leidensfähigkeit von Bedeutung. Das gerät den beiden Autoren im Eifer über die pflanzlichen Hochleistungen immer wieder aus dem Blick.

Als „gut lesbar“ wurde mir das Buch auch empfohlen. Irgendwie stimmt das und irgendwie nicht. Mancuso und Viola wissen nicht so recht, was sie nun eigentlich sagen wollen. Pflanzen sind erstaunlich anders als wir bisher dachten und das heißt nun aber, dass sie in vielem Tier und Mensch vergleichbar sein sollen. Sie sind ganz anders – z.B. haben sie eine andere „Organisationsform“ – aber wenn sie die (aristotelische) Tradition von den Tieren unterscheidet, dann ist das ein Sündenfall.

Die Autoren haben den Pflanzen einen Bärendienst erwiesen, weil sie uns die Pflanzen nahebringen wollten, uns aber in einem unglaublichen Wirrwarr zurückgelassen haben. „Aus Liebe zu den Pflanzen“, so ein anderer Buchtitel von Mancuso (dt. 2017), versuchen die Autoren in uns die Liebe zu wecken, indem sie Pflanzen als Leistungsträger beschreiben. (Lieben wir unsere Töchter, weil sie besser Latein können als wir selbst?) Aber Liebe macht manchmal blind vor allem wenn man selbst nur auf einem Auge sieht.

Mancuso und Viola schwanken hin und her. Die Pflanzen sind toll, viel toller als wir bisher dachten. Das finde ich auch und ich verdanke diesem Buch durchaus die Anregung, die wunderbare Welt der Pflanzen in Zukunft anders zu betrachten. Und natürlich werde ich auch der Empfehlung folgen, Darwins „Das Bewegungsvermögen der Pflanzen“ von 1880 zu lesen. Ich bin mir sicher, dass ich darin einen unglaublichen Reichtum von Wahrnehmungen finde – auch wenn sie vermutlich nicht immer richtig interpretiert werden.

Freilich scheint den Autoren ihre Botschaft nur vermittelbar, wenn sie schwere Kategorienfehler einbauen und Leistungen, die Tieren oder Menschen zugerechnet werden, nun auf die Pflanzen übertragen. Damit wir die Pflanzen richtig cool finden, müssen sie intelligent und „Phytocomputer“ sein?! Die Forschung führt zu „bisher unvorstellbaren Anwendungstechnologien“! Da haben wir’s. Es gilt „das pflanzliche Internet“ (kein Scherz!) zu nutzen – natürlich über copy & paste, ähm, oder besser völlig unnatürlich: „Auch die Entwicklung eines Phytocomputers rückt in greifbare Nähe. Seine Algorithmen beruhen auf Kalkulationssystemen von Pflanzen (unconventional computing)“ (151) Das Artensterben wird beklagt, weil mit ihnen Dinge gehen, „von denen die Menschheit hätte profitieren können“ (152)

Die Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH) – man spreche den Titel des Gremiums mal laut nach und lasse ihn sich auf der Zunge zergehen – hat 2008 ein wie Mancuso und Viola sagen „vielbeachtetes Dokument“ veröffentlicht mit dem Titel „Die Würde der Kreatur bei Pflanzen. Die moralische Berücksichtigung von Pflanzen um ihrer selbst willen“. Wie diese Würde begründet werden könnte und wir um ihrer selbst willen (übrigens ein aristotelischer Ausdruck!) moralisch verpflichtet sein könnten, davon können wir bei Mancuso und Viola nichts lesen. Das übersteigt bei Weitem ihre … ähm … Erfahrungen. Stattdessen hören wir, dass wir auf dem „grünen Planeten“ Erde die Pflanzen zum Überleben brauchen: „Leben ohne sie: ein Ding der Unmöglichkeit“. Das ist bisher vielleicht in seiner ganzen Bedeutung nicht zureichend bewusst geworden, aber wirklich neu und überraschend ist es nicht. Aber genau deshalb sollten wir uns ihnen zuwenden, von ihnen lernen und das heißt vor allem sie zu (be-)nutzen lernen. Dann geht’s plötzlich nicht mehr um das erstaunliche Wesen der Pflanzen, das wir vermeintlich so lange verkannt haben – also genauer die ignoranten Biologen à la Mancuso; sondern es geht um die menschliche Nutzung. Besteht die Würde der Pflanzen also darin, unser Überleben zu sichern?

Die Würde der Pflanzen ist wohl besser – und vielleicht nur – auf einem Weg zu finden, der von Aristoteles seinen Ausgangspunkt nimmt. Mit ihm können wir entscheiden, wann und wie wir zwischen Leben und gutem Leben unterscheiden können und müssen. Pflanzen können – wie Mensch und Tier – gedeihen. Es kann ihnen gut und es kann ihnen schlecht gehen. Was das für sie und für uns bedeutet, darüber müssen wir wirklich nachdenken – ganz egal wie „intelligent“ sie nun sein mögen.

Die Links dieser Seite wurden zuletzt am 14.06.2019 überprüft.


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