Utopien sind Nicht-Orte, Un-Orte, irreale Schauplätze für irreale Szenarien. Sie haben oft wie auch bei Thomas Morus erster Utopia (1516) sozialkritische Motive. Sie spielen mit der Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit und sind dabei Traumgebilden ähnlich, die gegen die Realität der Wachen gestellt wird. Sie sichern sich mit ihrem Namen gegen das Missverständnis „echter“ politischer Kritik ab: den phantastischen Unwirklichkeiten dieser idealen Welten hängt kein realer Anspruch an. „Vom besten Zustand des Staates“ zu handeln und ihn dann auf eine unwirkliche Insel zu verbannen (so der Titel des Morusschen Dialogs: De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia), das wirkt wie Aufwischen zu wollen, ohne nass zu machen. Utopien setzen sich dem Vorwurf aus, eben nur das zu sein, nämlich utopisch, phantastisch und irreal. Utopien springen erzählerisch Jahrtausende zurück oder voraus, sind im besten Fall mythologisch oder unakademisch ausgedrückt märchenhaft, jedenfalls nicht „logisch“. In der politischen Theorie waren utopische Entwürfe deshalb immer einer realistischen Kritik ausgesetzt. „Utopisch“ wurde zu einem Werturteil für unrealistisch und unbrauchbar. Ein Utopie-Kritiker jagt den nächsten. Wer den idealen Staatsentwurf des Vorgängers nachhaltig diskreditieren will, der nennt ihn „utopisch“. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wird dann (wieder mal) das „Ende des utopischen Zeitalters“ (Fest) proklamiert. Einfachen Traumbilder hielten danach der komplizierten Realität nicht stand und könnten keine überzeugende Kraft mehr entwickeln. Ausgeträumt. Es lebe der Pragmatismus des Verwertbaren. Aber das „Ende der Utopien“ ist vermutlich nur ein vorläufiges Ende, dem bald ein weiteres Ende folgt.
„Nicht-Orte“
Marc Augé hat Utopien neu verortet. Er hat als „Ethnologe des Nahen“ in der Stadt „Nicht-Orte“ (2010) gefunden, denen jede emanzipatorisch-utopische Dimension abgeht. Es sind künstliche, geschichts- und identitätslose Räume, die sich in unseren Städten breit gemacht haben und sie in ihrer Struktur mehr und mehr prägen: Shopping Malls, Park-and-Ride-Wüsten, Fly-overs als flächenfressende Schnellstraßenknotenpunkte, die mit riesigen Brückenkonstruktionen leblose Räume überspannen. Städte werden geprägt durch „Transit-Räume“, die keine Kontakträume zur Kommunikation, sondern leb- und identitätslose „Orte“ der Nicht-Kommunikation, des Kommunikations- und Begegnungsaufschubs sind. Unüberwindliche Mega-Flughäfen in der Größe von Kleinstädten und Riesen-Bahnhöfe in den Zentren der Städte, die zu schier unüberbrückbaren Verkehrsschluchten geworden sind. Sie dienen der Verbindung und verhindern sie nachhaltig. Alles dient dem Zu- und Abfluss der Ressourcen der Stadt und verunmöglicht zugleich das Leben in ihr. Die Nicht-Orte sind keine akzidentiellen Eigenschaften moderner Urbanität. Es sind unwohnliche, lebensfremde Räume, Orte der Verwahrlosung und des Lebensentzugs. Es sind Wesenszüge der Welt der Weltstädte.
Die Stadt versprach eine Fülle von Lebensformen und -möglichkeiten, auch die alleine und unbehelligt vom Erwartungsdruck eingelebter Gemeinschaften leben zu können. Die versprochene Freiheit ist inzwischen Ideologie, falsches Bewusstsein. Die Freiheit wurde zum Zwang. Die neue Form städtischer Vergesellschaftung ist die Vereinzelung, die Augé mit einer „Ethnologie der Einsamkeit“ zu beschreiben sucht. Städte als Orte der freien Vergesellschaftung, der gelebten Gemeinschaft, werden zu Wüsten der Einsamkeit in Wohnsilos ohne Gemeinschaftsleben. Der Austausch wird zum Nachrichtenaustausch, vorzugsweise kurzen Nachrichten im SMS- oder Messaging-Plattform-Format. Milliarden von solchen Nachrichten überziehen als Wolken unsere Städte und vernebeln die Möglichkeit, sich wirklich zu begegnen.
Die Über-Lebensmittel werden aus Ressourcen-Bunkern bezogen und idealer Weise gleich über Lieferkanäle in die Wohnzelle geliefert. Wir leben in den Städten wie auf einer Südpol-Forschungsstation: Überlebenswohnraum ist idealerweise hygienisch und ergonomisch optimiert, die Ressourcen sind gesichert, die Netze verfügbar und die Unterhaltungsprogramme laufen. Draußen ist es finster und kalt. Das Fenster zur Welt sind die Bildschirme, in die wir tagelang glotzen und auf denen wir herumwischen. So glauben wir uns als globalisierte Welt-Städter unseren undigitalisierten, provinziellen Vorgängern weit überlegen.
Städte, Groß- und Weltstädte ziehen uns wie ehemals entgegen der Urbanitätsideologie aus wirtschaftlichen Gründen an. Der Massenzulauf der Mega-Städte (insbesondere auf der „Südhalbkugel“) gründet wie ehedem auch in Europa und den nordamerikanischen Staaten in der Not und den erhofften wirtschaftlichen Vorteilen. Landflucht ist nach wie vor Elendsflucht. Auch nach München, Hamburg und Berlin geht man, wegen des attraktiveren Arbeitsmarkts und der besseren (Selbst-)Vermarktungsmöglichkeiten. Die größeren Freiheiten und das immer wieder ins Spiel gebrachte reiche (kulturelle) Angebot der Städte, werden tatsächlich nur selten genutzt und dienen eher als werbewirksame Entourage. Der Münchener verweist gerne auf die Nähe zu den Alpen und damit über die Stadt hinaus. Die privativen Lebensräume haben sich aus dem Städtischen heraus verlagert.
Urbanisierung der Welt setzt auf grenzenlose Städte. Städte haben aber Grenzen und müssen sie haben. Grenzenlos ist nur der Warenverkehr und die „Daten-Verarbeitung“, nicht der gelebte Austausch von Menschen. Die Globalisierung führt zu einer Virtualisierung „städtischen“ Austausches und zu einem Stadt- und Weltverlust. Die Urbanisierung der Welt ist zugleich ein Weltverlust der Stadt. Das, was in der Stadt gesucht wurde, ging grenzenlos verloren. Die Welt-Städte, die immer mehr Stadt und die ganze Welt auf engstem Raum versprochen haben, haben ihr Stadtleben verloren. Sie sind zu Scheinwelt-Städten geworden und ersticken an sich selbst.
Lob des Fahrrads
Augé ist „auf der Suche nach der verlorenen Stadt“ nun nicht auf den Hund, sondern auf das Fahrrad gekommen. Mit seinem „Lob des Fahrrads“ (2016) verbindet er eine persönliche Liebeserklärung ans Rad mit dem Versuch, die Wohnlichkeit der Städte zurückzuerobern. Augés „Lob des Fahrrads“ ist zugleich eine Liebeserklärung an die Stadt, die Stadt und Rad ironisch-kritisch innig verbinden möchte. Es steht mit seiner paradoxen Pointierung in der Tradition der Lob-Reden eines Erasmus (Lob der Torheit, 1509) und eines Lessings (Lob der Faulheit, 1771) und meint es doch so spielerisch ernst wie Russell (Lob des Müßiggangs, 1935) und Brecht (Lob der Dialektik, 1931).
Seinen Ausgangspunkt nimmt Augé beim „Mythos Fahrrad“ und seiner Liebe zu ihm. „Man kann das Fahrrad nicht loben, ohne von sich zu sprechen.“ (7) Vom Rad zu sprechen, heißt von einer Selbsterfahrung sprechen, die sich mit ihm einstellt und die nach Augé mit Blick auf unser modernes städtisches Dasein von ausgezeichneter Bedeutung ist. Radfahren ist eine leibliche Erfahrung, eine die die Welt in ihrer Widerständigkeit und in ihrer Schönheit zugänglich macht. Radfahren ist Teil der Selbstbildung und Selbstermächtigung, es macht frei. Freiheit das heißt auch und vor allem sich frei bewegen zu können. Der Mythos vom Fahrrad ist damit verbunden:
- sozial und historisch mit der Bewegungsfreiheit, die das Fahrrad der Arbeiterklasse ermöglichte („damals als es die Arbeiterklasse noch gab“) und die es bei der Emanzipation der Frau gespielt hat;
- individuell in der Entwicklung der eigenen Kräfte und der Erweiterung der Bewegungsfreiheit, die sich uns als Kinder und Jugendliche mit dem Rad eröffnet haben: die eigene Balance zu finden, sich selbst fortzubewegen und neue Räume zu erschließen. „Durch das Rad entdeckt jeder ein wenig von seinem Körper, seinen körperlichen Fähigkeiten, und erlebt damit verbundene Freiheit.“ (7)
Radfahren ist eine „wirkliche“, leibliche Erfahrung, die die Entdeckung des eigenen Selbst und die der anderen als leibliche Mit-Fahrer und -Bewohner ermöglicht. Im rollenden Fortbewegen durch eigene Muskelkraft wird Lebensraum erschlossen, Aufstiege und Abfahrten sind existentielle „Bildungserlebnisse“.
Der Mythos des Fahrrads, in Filmen wie die Fahrraddiebe von Vittorio de Sica (1948) oder Tatis Schützenfest (1949) gefeiert und legendär bei der Tour de France mit ihren „Faustischen“ Helden Coppi und Anquetil wirksam, haben das städtische Lebensgefühl von Generationen geprägt. Das ist heute weitgehend verloren. Das Rad wurde im Zuge der Entwirklichung unserer Städte in die Freizeit verbannt und muss nun zur Belebung des städtischen Lebens wieder in die Städte geholt werden.
Wie wir leben wollen, das bedeutet heute in einer urbanisierten Welt wie wir in der Stadt leben wollen?! „Das Leben zu ändern, das bedeutet heute zuallererst, die Stadt zu verändern.“ Und die neue alte Stadt, in der wir eine Bleibe und ein echtes Wohnen finden können, ist nach Augé eine aus Rädern, eine Stadt der Fahrräder. Das ist augenzwinkernd und nicht ohne Ironie, aber mit großem Ernst gesagt. „Das Städtische breitet sich allenthalben aus, aber wir haben die Stadt aus den Augen verloren und wir verlieren uns selbst aus den Augen.“ (59) Das Fahrrad könnte („vielleicht“) den Stadtbewohnern helfen, „sich ihrer selbst und der Orte, an denen sie leben, wieder bewusst zu werden“: „Wir brauchen das Fahrrad, um uns wieder auf uns selbst und auf die Orte, an denen wir leben, zu zentrieren.“ (59f.)
Wie die Stadt sich durch den weitgehenden Umstieg des Individualverkehrs verändern und ihrer ursprünglichen Idee gestärkt würde, beschreibt Augé einfallsreich, witzig und einnehmend. „Lassen wir also unserer Phantasie freien Lauf“ (75) und ordnen den städtischen Verkehr völlig neu – ausgerichtet am Fahrrad. Das würde „die städtische Geographie revolutionieren“ (84) und das gesamte städtische Klima ändern: „Man atmet [wieder, HL] besser. Man riecht wieder den Duft der Kastanienbäume im Frühling und den der gerösteten Kastanien im Herbst“ und natürlich auch all die anderen „vielfältigen Düfte, die man, ohne es zu bemerken vergessen hatte. Man spürt wieder den Duft der Blumen, der Früchte, der Muscheln und Fische auf den Marktständen, die von frischer Wäsche oder Eau de Cologne und den der Luft selbst …“ (87) In dieser paradiesischen Stadt-Landschaft kommt „Heiterkeit“ zurück und verbreitet sich nicht nur im Stadtverkehr „allgemeine gute Laune“, so dass „die Verkehrspolizisten kaum noch Arbeit haben“ (88). Natürlich wird auch die Jugend gewonnen und findet nichts cooler als das Leben mit Rad.
Das alles ist nicht ganz ernst gemeint und deshalb umso ernster zu nehmen. Radfahren stärkt die Lebenskräfte und deshalb schielt Augé augenzwinkernd auf die Stadt, deren Lebenskräfte wieder stärkt werden müssen. Augé möchte „Straßen [wieder; HL] in soziale Räume verwandeln“ und „den städtischen Lebensraum neu gestalten“ (9) und die „Stadt als Ort des Lebens“ (70) zurückzugewinnen. Die lebendige Stadt hat wie alles Lebendige Grenzen. Sie reichen soweit wir wie in städtischer Gemeinschaft leben können und das ist eben „etwa irgendwie“ so weit wir unbeschwert radeln können.
Marc Augés Ziel einer „Transformation der Stadt“ (56) bedarf vieler Ideen und Initiativen, die weit über Augés Eloge auf das Fahrrad hinausweisen. Stadtentwickler aller Couleur bemühen sich darum, der Stadt ein neues, emanzipatorisches Leben einzuhauchen: durch Stärkung der Stadtteilkultur z.B. durch Partizipation und offener Begegnungsplätze (Verkehrsberuhigung, Bürgerbüros und selbstverwaltete Stadtteil-Kulturläden, Etablierung einer lokalen Commons-Economy und Urban-Gardening Initiativen). „Es gibt viel zu tun, und nicht alles, was getan wird, ist gut.“ (103) – Man kann zweifeln, ob wir wirklich eine „essbare Stadt“ anstreben sollten. Die Paulus-Botschaft, „wir finden hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebr. 13, 14) bekommt hier eine völlig neue Bedeutung. Die zukünftige, nach dem ausgiebigen Mahl, müsste dann eine „nachwachsende“ sein, die allerdings – falls sie wieder aufgegessen wird – auch keine heimatliche Bleibe verspricht.
Auch das Fahrrad wird nicht das „Ende des Kapitalismus“ einleiten, nicht den Weltfrieden sichern oder die Klimakatastrophe verhindern. Das „Lob des Fahrrads“ ist keine Heilsbotschaft. Es ist eine ironisch phantasievolle Anregung, erfahrbare Wirklichkeit in die Städte zurückzubringen und das Wohnen in Städten neu zu begründen. Die „Rückkehr der Utopie“ nach dem „Ende der Utopien“ ist eine „Rückkehr zur Realität“ (103). Es ist eine im Blochschen Sinne „konkrete Utopie“, die heiter mit Möglichkeiten spielt und vor allem auf eins setzt: wirkliche, leibliche Erfahrung und menschliche Begegnung. Es ist nur eine Utopie, „aber dass eine Utopie ihren Ort gefunden hat, das ist schon etwas.“ (103) Das letzte Wort aus Brechts Lob der Dialektik dürfen wir – leise lächelnd – wohl auch mit Blick auf Augés Utopie deklamieren: Und aus Niemals wird: Heute noch!“
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