Ovids Metamorphosen III: Verkehrte Welt – alles einmal unverhüllt

Lesedauer 9 Minuten

Im Ganzen eines Lebens kommt viel Glück und Unglück zusammen – niemand soll den Tag vor dem Abend loben. Wen wir grade noch ob seiner glücklichen Umstände beneiden mochten, finden wir nun bemitleidenswert. Seine Kinder haben sich gut entwickelt und sind der ganze Stolz des Vaters. Aber deren Kinder wird übel mitgespielt. „Den ersten Anlaß von Trauer in so viel Glück bot dir, Cadmus, dein Enkel, das fremdartige Geweih, das ihm auf der Stirn wuchs, und ihre Hunde, die das Blut eures Herrn sättigte.[1] Gleich der erste Satz erzählt die ganze Geschichte. Aber Spannung musste Ovid sowieso nicht aufbauen: jeder seiner „Leser“/Zuhörer wusste vom Schicksal des Cadmus-Enkel Actaeon. Beim Jagen im Wald trifft er auf Diana mit ihrem Gefolge, die an einer Quelle baden. Er sieht die Göttin unverhüllt und das wird ihm (natürlich) zum Verhängnis. Die Göttin verwandelt ihn in einen Hirsch, der schließlich den eigenen Hunden seiner Jagdgruppe zum Opfer fällt.

 

WIR LESEN OVID
Ovid – WikiCommons

Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.

Schuld oder Irrtum?

Was war sein Vergehen, für das er so hart bestraft wurde? Man könnte meinen, er hätte gar keins begangen. Ovid will jedenfalls keine Schuld bei ihm sehen: „Doch bei genauerem Zusehen wird man an ihm keine Sünde finden, sondern Fortuna die Schuld geben müssen.[2] Für das vorausgesagte Unglück des Cadmos macht das keinen Unterschied. Wäre der grausame Tod des Actaeon eine Strafe für eine schändliche Tat, dann wäre das Leid des Großpapa freilich ungebrochen – er müsste sich gar fragen, wie es mit Actaeon soweit hatte kommen können, dass er die Götter/Göttin gegen sich (zurecht) aufbrachte. Nun lässt das schreckliche Geschehen – so Ovid –Fortuna zuschreiben, wohl besser ihrem Abwenden oder eben dem Zufall. Wir müssen dem noch eigens nachgehen. Ovid meint mit fortuna die Macht von Widerfahrnissen, die mehr oder weniger „glückliche“ Folgen haben. Kein „Verbrechen“ oder „Frevel“ (scelus) soll von Actaeon vorgelegen haben,[3] vielmehr müsse man Fortuna „beschuldigen“, die das Aufeinandertreffen von Mensch und Göttin herbeigeführt hat, das so verhängnisvolle Folgen zeitigte.

Denn was für eine Sünde lag in seinem Irrtum (error)?“ Um welchen error soll es sich denn handeln? Das ist meines Erachtens – sachlich, vom Philologischen verstehe ich nichts – etwas „unglücklich“ übersetzt: quod enim scelus error habebat? fragt Ovid und alles liegt jetzt daran, was wir unter error verstehen wollen. Irrtum ist sicher nicht falsch – um Himmels Willen, wie könnte ich das bestreiten. error freilich bezeichnet einen Irrtum, der auf einem Herumirren, einer trügerischen Vorstellung oder Verblendung beruht. Wir irren, weil wir uns verirrt haben und von dem, worauf wir aus sein sollten, abkommen. Actaeon irrt im Wald umher, nachdem er mit seinen Jagdgenossen darin blutig zugange war.

Nun schützt Unwissenheit vor Strafe nicht und ein Irrtum kann tatsächlich schreckliche Folgen haben, ob man das nun als Strafe für eine Schuld oder einfach nur als Folge einer Fahrlässigkeit werten will: Wer in der Wüste einer Fata Morgana folgt, wird verdursten und wer auf See, seinen Durst mit Salzwasser stillen will, ebenfalls.

Die Jagd des Menschen

Doch liegt die Sache wirklich so klar? Ovid jedenfalls kontrastiert die vermeintliche Schuldlosigkeit Actaeons mit der den Ereignissen vorausgehenden Jagd in drastischen „Farben“ so als wollte er selbst Zweifel sähen: „Es gab daselbst einen Berg; der war gefärbt vom Blut verschiedener Tiere.“ Mittags beendet man vorzeitig die Jagd, weil das Jagdglück großen Erfolg bescherte: „Netze und Eisen sind feucht, ihr Gefährten, vom Blut der Tiere, und der Tag hat uns genügend Glück gebracht.“ Die für die Jäger äußerst glückliche Jagd findet in der Nähe eines Tales statt, das „der hochgeschürzten Diana heilig“ war. Dort badet sie – selbst „vom Jagen ermattet“ – in einer reinen Quelle.[4] Ovid gefällt es, seinen Lesern/Zuhörern das Entkleiden der Diana zu schildern: das Lösen der Schuhriemen, das Abstreifen des Kleids und das Hochstecken des Haars, das so nichts mehr verhüllen kann, und das Übergießen mit geschöpftem Quellwasser aus „bauchigen Gefäßen“. Ein göttlicher Striptease, der zwar Dianas Jagd-Bogen entspannt, nicht aber die gespannte Beobachtung der (männlichen) Leser/Zuhörer.[5]Während sich dort Titania [Diana] im vertrauten Gewässer baden lässt, siehe da kommt der Enkel des Cadmos, der einen Teil seines Tagewerks aufgeschoben hat, durch den unbekannten Wald, den er mit zögernden Schritten durchstreift, in jenes Gehölz. So führte ihn das Verhängnis (sic illum fata ferebant).[6] Fortuna war den Jagenden hold, aber nun bestimmt der lebensbestimmende Zufall, das Fatum, auch das Los Actaeons. Er sieht, was er nicht „ungestraft“ sehen darf oder vielleicht besser gesagt, nicht folgenlos sehen kann – die unverhüllte Göttin.[7] In Ermangelung der Waffen, die sie abgelegt hat, besprengt ihn Diana mit Quellwasser, verwandelt ihn damit in einen Hirsch. Wieder erleben wir die Verwandlung aus der Perspektive des Sich-Verwandelnden. Seine Glieder verändern sich, er wird ungewöhnlich schnell und sieht seine neue Gestalt schließlich im Wasser: „Es flüchtet der Held, Autonoes Sohn, und mitten im Lauf wundert er sich über die eigene Schnelligkeit. Doch sobald er Gesicht und Geweih im Wasserspiegel erblickte, wollte er sagen: ‚Weh mir!‘, doch die Stimme gehorchte ihm nicht: Er stöhnte auf: Das war jetzt seine Stimme, und Tränen strömten ihm übers Gesicht, das nicht mehr das seine war. Nur das Bewusstsein blieb das alte.[8] Er sollte erleben, was denen geschieht, die die Göttin des Waldes, seiner Tiere und der Jagd unverhüllt sehen. Diana ist selbst eine Jägerin, in ihr zeigt sich das Jagen als eine natürliche „Kraft“. Diana unverstellt sehen, heißt selbst unter die Herrschaft der Jagd zu fallen, des Jagens und des Gejagtwerdens. Jäger zu sein, ist nur ein Teil der Jagd. Der Jäger braucht das Wild, das er jagen kann. Zum Erlebnis der Jagd gehört beides. Aus dem Jäger wird ein Gejagter – mit dem Unterschied freilich, dass er um seine Verwandlung weiß. Alles wird plötzlich anders wahrgenommen.[9]

Verkehrte Welt

Der Hirsch, in den Actaeon verwandelt wird, ist nicht einfach ein Tier des Waldes, es ist ihm wesentlich zugeordnet und so ist der Hirsch auch eines der Attribute Dianas. Actaeon wird nicht in irgendetwas verwandelt, sondern in ein Wesen, das von den Menschen mit Vorliebe gejagt wird. Actaeon wird dem eigenen Jagdeifer ausgeliefert. Und so nimmt Actaeons Meute von Jagdhunden auch Witterung auf und verfolgt den verängstigten Hirsch als der Actaeon nun die Jagd zu erleben hat. „Als Gejagter flüchtet er durch die Gegend, in der er oft als Jäger seinen Hunden gefolgt war, wehe, er flieht vor den eigenen Dienern![10] Diese „verkehrte Welt“ enthüllt die Verkehrtkeit der erscheinenden: [11] wenn in der Satire Herr und Diener die Rollen tauschen, dann lachen wir zunächst über die vertauschten Rollen und die bisherige Ordnung zeigt sich selbst als lächerlich. Die Verfehltheit der Ordnung oder jedenfalls ihre keineswegs naturwüchsige Selbstverständlichkeit wird im Spiel sichtbar. Auch dort ruft der Herr den Diener irgendwann zur Ordnung, mit dem Spiel doch mal wieder aufzuhören. Aber das Spiel ist kein Spiel, sondern Abbild der brutalen Ordnung der Wirklichkeit, die jetzt auf der Bühne spielerisch ansichtig wird.

Auch Actaeon will rufen, „‚Actaeon bin ich, erkennt euren Herrn!‘ Doch die Worte gehorchen seinem Willen nicht, der Äther hallt wieder von Gebell.[12] Für Ovid wird der Todeskampf Actaeons wieder zu einem Meisterstück seiner Kunst, die Illusion Wirklichkeit werden zu lassen. Die Hunde, die wie Vertraute einzeln aufgeführt werden, schlagen ihre Zähne in Actaeons Hirschleib und „es fehlt schon Platz für weitere Wunden“ und der gejagte Actaeon „sinkt auf die Knie wie ein Schutzflehender und schaut bittend in die Runde, als wären seine stummen Blicke flehend erhobene Arme“. Natürlich erhört den Flehenden niemand. Im Gegenteil, Actaeons Jagdgefährten feuern die bissigen Hunde an und rufen nach Actaeon, von dem sie glauben, das er bedauerlicher Weise abwesend ist: „Sie klagen darüber, daß er nicht da sei, daß er zu spät komme, um das Schauspiel des Fanges zu genießen. O wie gern wäre er wirklich abwesend; doch er ist ja dabei. Wie gern wollte er das Wüten seiner Hunde nur mitansehen, statt es selbst zu spüren! Von allen Seiten umstellen sie ihn, vergraben die Schnauzen in seinem Leibe und zerfleischen den Herrn in der Truggestalt des Hirsches.[13]. Das Töten wird zum Genuss, zum „Schauspiel“ (spectaculum) für die Überlegenheit des Jägers über das Tier. Und Actaeon gesteht noch als Opfer ein, dass er dabei gerne als Täter aktiv gewesen wäre. Darin liegt eine tödliche Verirrung, eine Überhöhung des Menschen über seinen natürlichen Lebensraum.

Dichterische Verwandlung

Aber das alles hat bei Ovid nicht den tragischen Ernst des griechischen Mythos. Wenn wir dort selbst, die menschliche Existenz, unter den Schatten des Actaeons kommen und er zum Urbild einer Begegnung mit einer uns umgreifenden Macht wird, nämlich der olympischen Artemis, Zwillingsschwester des ebenfalls seine tödlichen Pfeile sendenden Apollons, zeigt uns Ovid, dass wir die alten Geschichten im „römischen“ Aggiornamento spielerisch aufgreifen und die „verkehrte Welt“ uns dichterisch ausmalen können. Sich den Rollentausch vorzustellen, bringt uns manchmal zum Lachen und manchmal zum Gruseln, und jedenfalls zeigt es, dass alles auch anders sein könnte.

Ja, „es gibt“ diese Götter – zumindest werden sie in der dichterischen Präsentation lebendig gehalten – und auch sie haben es gar nicht so leicht. Diana zeigt sich fast hilflos beschämt als sie auf das Menschliche trifft. Auch die unberührte Natur illusioniert. Diana erlebt ihre Nacktheit am Menschen und fühlt sich in einer Grotte geschützt, die freilich – entgegen dem Anschein – „nicht künstlich ausgestaltet ist“ (arte laboratum nulla): „Die Natur hatte in freier Schöpferlaune ein Kunstwerk vorgetäuscht…“.[14] Müsste der Dichter sie bestrafen? Dazu fehlt ihm vermutlich die „Jungfräulichkeit“. Vor allem verbietet seine Eitelkeit, sich über das simulare, die „Nachahmung“ durch die etwas ungelenke Natur zu ärgern.

Die Frage, ob Actaeons Verwandlung und sein grausames Ende nun angemessene Strafe (für einen Frevel, scelus) oder unglückliches Missgeschick (error) sei, greift Ovid beim Übergang zum nächsten Unglück für das Haus des Cadmos wieder auf: „Das Echo ist zweispältig: Den einen schien die Göttin über Gebühr grausam; andere loben sie und nennen sie eine würdige Vertreterin der strengen Jungfräulichkeit.[15] Unberührt vom menschlichen Gesetz (nomos) und seinen (ethischen) Gebührlichkeiten zeigt sie sich in ihrer „Reinheit“ – das dürfte wohl die griechische Version sein. Aber hier Ovid will sich nicht festlegen: „Beide Parteien finden Gründe.[16] Und der Dichter fühlt sich geehrt.

 

Demnächst

Juno findet’s gar nicht gut, wenn andere Kinder von „ihrem“ Juppiter bekommen. Zur Strafe soll er es einer Sterblichen mal richtig besorgen. Ja, meine lieben Leser (und nicht: Leserinnen!), das müsste jetzt doch ein guter Cliffhanger sein, oder?! 

 

 

 

[1] Primo nepos inter tot res tibi, cadme, secundas /causa fuit luctus alienaque cornua fronti / addita vosque, canes satiate sanguine erili

[2] At bene si quaeras, fortunae crimen illo, / non scelus error habebat?

[3] Michael von Albrecht übersetzt scelus mit Sünde und gibt dem ganzen damit – nicht zu Unrecht – einen „religiösen“ Hintergrund: es geht um das Verhältnis der Menschen zu den Göttern.

[4] Sie kontrastiert dem blutüberströmten Berg.

[5] Wozu solcher Voyeurismus führen kann wird er uns gleich in aller Deutlichkeit beschreiben.

[6] III 173ff: dumque ibi perluitur solita Titania lympha, / ecce nepos Cadmi dilata parte laborum / per nemus ignotum non certis passibus errans / pervenit in lucum: sic illum fata ferebant.

[7] Diana ist sine veste und wird posito velamine gesehen.

[8] Fugit Autonoeius heros / et se tam celerem cursu miratur in ipso. / ut vero vultus et cornua vidit in unda, / “me miserum!” dicturus erat: vox nulla secuta est. / ingemuit: vox illa fuit, lacrimaeque per ora /non sua fluxerunt; mens tantum pristina mansit.

[9]Was tun? Nach Hause ins Königsschloß zurückkehren oder sich im Wald verstecken? An dem einen hindert ihn die Furcht, an dem andern die Scham“(Quid faciat? repetatne domum et regalia tecta / an lateat silvis? pudor hoc, timor impedit illud.) Da haben wir ihn wieder, den pudor, diesmal kämpft er nicht mit dem Begehren (amor) oder dem Zorn (ira), sondern mit dem timor.

[10] III 228f.: Ille fugit per quae fuerat loca saepe secutus, / heu famulos fugit ipse suos.

[11] So die berühmte Formulierung Hegels im Kapitel über Kraft und Verstand, Erscheinung und übersinnliche Welt in seiner Phänomenologie des Geistes von 1807: die Erscheinungen der wirklichen Welt sind flüchtig und in ihnen zeigt sich die „verkehrte Welt“ der Gesetze (der Erscheinungen), die den Erscheinungen wiederum nicht gerecht wird.

[12] III 230 f.: “Actaeon ego sum, dominum cognoscite vestrum!” / verba animo desunt: resonat latratibus aether.

[13] III 245ff.: et abesse queruntur / nec capere oblatae segnem spectacula praedae. / vellet abesse quidem, sed adest; velletque videre, / non etiam sentire canum fera facta suorum. / undique circumstant mersisque in corpore rostris / dilacerant falsi dominum sub imagine cervi.

[14] III 158f.: arte laboratum nulla: simulaverat artem / ingenio natura suo

[15] III 253ff.: Rumor in ambiguo est: aliis violentior aequo / visa dea est, alii laudant dignamque severa / virginitate vocant

[16] III 255: pars invenit utraque causas

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