Das Böse – an und für sich

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Mark Rothko – Untitled (Black, Red over Black on Red) – Centre Pompidou, Paris – (Foto: Renaud Camus) FlickrVergrößern

Gibt es das Böse an sich? Die Antwort der Tradition ist zwiespältig. Nein, rufen die einen, wir können sie die gutgläubigen Optimisten nennen, die eher den alten Zeiten zugehören: „an sich“ gibt es nur das Gute, das Böse ist „nur“ die Abwesenheit des Guten. Gottverlassen kann das Böse nicht sein. Alles Streben strebt nach einem Gut und das Böse ist nichts als das verirrte Streben nach Gutem, das es am Leben hält.

Doch, doch, meinen vor allem in der Neuzeit die pessimistisch Bösgläubigen: das Gute ist fragil, sagen sie, das Böse stabil. Vom Guten an sich wollen sie lieber nicht reden. Was gut genannt wird, das hinge doch immer von den Umständen ab. Über Gift oder Heilmittel entscheide allein die Dosis, die sich wiederum an der Natur der Sache bemisst, die damit behandelt werden soll: was eine Maus umbringt das kitzelt den Elefanten. Das Gute liegt im rechten Maß und die rechte Mitte ist eben eine jeweilig andere. Sicher dagegen ist, dass es Dinge gebe, die immer verwerflich sind. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert galt z.B. die Folter als „schlechterdings“ böse, ganz gleich in welcher Absicht und in welcher Dosis sie zugedacht wird. Lassen wir mal dahingestellt, was genau in diesem Sinne unter Folter zu verstehen ist, so scheint es doch etwas zu geben, was sich dem graduellen Übergang von Tugend und Laster entzieht. Martin Seel hat für 111 Tugenden beredt vorgeführt, wie sich Tugenden in Laster korrumpieren und Laster zu Tugenden veredelt werden können: Willensstärke z.B. wird leicht zu Starrsinn und Mangel an ihr ermöglicht die Freiheit, neue Möglichkeiten zu entdecken. Aber auch das hat seine Grenzen: in gut aufklärerischer Tradition ächtet Seel die Grausamkeit als schlechthin schlechten Habitus, bei dem selbst ihm kein Übergang zur Tugend mehr formulierbar ist.

Die Folter ist (ein Beispiel für) das Böse an sich und die Hölle ihr Ort, ein gottverlassener Ort, eine No-Go-Area, die es auf der Landkarte des Sittlichen nicht gibt. Die Gottlosigkeit der Hölle geht so weit, dass dort (folgt man Dante) von Gott nicht mal gesprochen werden darf und wohl auch nicht kann: wenn es die Hölle überhaupt gibt, dann ist sie jedenfalls geist- und wortlos.

In einem starken Sinne, sind gottverlassene Orte undenkbar – ohne Gott kein Sein. Sie sind Nicht-Orte, die dem „Bösen an sich“ dort gedanklich Raum geben sollen, um das Gute hier zu befördern; sie sind gedachte Orte der Grausamkeit, an denen gefoltert wird ohne dem auch nur den Anschein des Guten zu geben. Die Höllenqualen dienen nicht zur Besserung, die gequälten Seelen sind verloren. Sie dienen nur der Verherrlichung derer, die sie bereiten oder als „begeisterte“ Zuschauer gerne bereiten würden. Die Vollkommenheit Gottes sichert die „vollkommene“ Folter (wenn wir von so etwas reden können und wollen): nach Epikurs beruhigender Beobachtung ist großer Schmerz kurz und dauernder Schmerz gering und mit der Dauer erträglich. Die Allmacht Gottes erwirkt nun, dass der Gefolterte unter der Folter nicht stirbt und die Qualen gleichwohl unermesslich schrecklich bleiben. Das „Böse an sich“ also dank der Vollkommenheit Gottes?!

Wer seinen Glauben verstehen will, kommt hier ins Grübeln. Der Glaube an Gott wie er sich in der christlichen Glaubenserfahrung ausgeprägt hat, scheint mit Intuitionen zu konfligieren, die die Hölle als Ort ewiger Verdammnis nahelegen. Das Lehramt der Kirche hat das schon früh befestigt. Die Gerechtigkeit soll siegen, Strafe muss sein. Wer sich von Gott abwendet, der hat die Folgen seiner Gottlosigkeit zu tragen. Früh schon wurde freilich fraglich, was „Abwendung von Gott“ bedeutet und welche Strafe dafür „angemessen“ und recht ist. Die Folgen der Vergehen müssen freilich nicht immer auf einen rachsüchtigen Gott weisen. Wer sich mit Plutonium vergiftet, der wird qualvoll sterben und kann seine Unachtsamkeit oder sein Unwissen beklagen. Tatsächlich wird er nicht nur sich, sondern noch Generationen nach ihm ins Verderben reißen. Kann er es aber wirklich unfair finden, dass Plutonium den Körper zersetzt? Wollen wir eine Klage gegen Gott anstrengen, weil er hätte sicherstellen müssen, dass der menschliche Körper strahlungsresistent ist und aufs Plutonium zumindest einen warnenden Disclaimer hätte aufbringen müssen? Wir können auf Heilkräfte hoffen, die uns zu Teil werden, oder auf Wunder, die die Naturgesetze außer Kraft setzen. Aber die Sache ist und bleibt naturgemäß gefährlich.

Wie steht es freilich mit ungetauften Kindern? Haben sie sich von Gott abgewandt? Und wie steht es mit den vielen Generationen, die nicht getauft werden konnten, z.B. weil der, auf den getauft wird, Jesus Christus, noch nicht erschienen war? In Dantes Divina Commedia herrscht hier vor rund 700 Jahren schon mächtiges Durcheinander: einige der Besten werden – weil ungetauft – nicht gerechtfertigt; andere schaffen es auf wundersame Weise doch (Rehab, Cato, Trajan).

Und können Strafen tatsächlich ewig sein ohne unsinnig zu werden und sich in einen regressus in infinitum zu verrennen? Strafe entsühnt. Sie hebt das Vergehen auf. Endlose Strafe hält das Verbrechen wach. Das Purgatorium hat einen Lethefluß des Vergessens, der durchs Verzeihen fließt. Traditionell war jeder Friedensschluss mit der gegenseitigen Zusicherung verbunden, das im Krieg Geschehene zu vergessen (zu ignorieren). Der Frieden sollte eine Lage schaffen, in der die alten Untaten nicht mehr möglich sind. Gelang das nicht, war der Frieden nicht echt. Wenn wir heute sagen, dass wir Auschwitz nicht vergessen dürfen, dann deshalb, weil wir nicht mehr glauben, dass wir zu einem echten Neuanfang in der Lage sind. Wir glauben uns in einer Lage, in der sich die Grausamkeiten immer wieder in neuer Form zeigen.

Verkehrte Welt. Die Aufklärung hatte die Höllendrohung als ideologische Sedierung kritisiert, die Gerechtigkeitsansprüche in die jenseitige Ewigkeit vertagt. Und nun behauptet gerade sie die Wirklichkeit der diesseitigen Hölle. Die ewigen Höllenqualen gelten den desillusionierten Aufklärern bereits technisch realisiert: in den Materialschlachten des „Großen Kriegs“ und der Vernichtung im Gas, in der Einsamkeit unwirtlicher Städte und ihrer menschlichen Verwahrlosung. Atheisten halten die Wirklichkeit der gottlosen „Hölle der Anderen“ nun den verweichlichten Christen entgegen, die immer noch an ihren barmherzigen Gott glauben wollen.

Ob wir es wollen oder nicht: es gibt Dinge, die so wie die Dinge stehen, nicht wieder gut gemacht werden können, wenn es einmal schlecht lief. Es gibt keinen Reset-Knopf fürs Leben, darin besteht seine Würde. Eine unendliche Umtauschaktion, die es erlaubt sich zwölf Lebenskleider zu bestellen, um im Anschluss elf mehr oder weniger getragen wieder zurückzusenden, ist zum Glück nicht vorgesehen.

Also geht’s hier und jetzt um Alles. Und dem ist bekanntlich das Nichts entgegengesetzt. Es ist möglich, wirklich möglich, dass das mit uns total schief geht. Das ist die Hölle. Es wird dann nicht Nichts sein, nur wir sind halt nicht mehr.

Hieronimus Bosch: Triptychon Der Garten der Lüste, rechte Tafel : Die HölleWikimedia

Einigen, zugegeben nicht wenigen in der Tradition schien es nicht ausreichend, verdammt und verloren zu sein. Die Gerechtigkeit verlange eine angemessene Strafe, meinen sie, also nicht nur endgültig, sondern langsam und schmerzhaft. Nicht einfach Todesstrafe, sondern Todesfolter, „nie endendes Töten“ sei versprochen. Wenn ihr an den Spielen in Rom Gefallen findet, mit den unzähligen Tier- und Menschenopfern, an dem Kitzel um Leben und Tod, an blutigem Gemetzel und Schmerzensschreien, dann, so Tertullian, kann ich euch mehr versprechen, viel bessere „Spiele“ im einstigen Höllenschlund. Ihr, die ihr jetzt schon Freude an diesen „kleinen“ sadistischen Spielen habt, wie werdet ihr euch dann erst freuen, wenn ihr die richtigen, die großen zu sehen bekommt (De spectaculis, Kap. 30). Wenn, ja wenn … Tatsächlich scheint dieser Wunsch bestanden zu haben und noch zu bestehen. In der Nachfolge Tertullians wurden die Schreckensszenarien immer noch übertroffen. Immer haben die Höllenvorstellungen etwas Allegorisch-Analoges, immer sind sie geprägt vom eigenen Lebensgefühl und den eigenen Befindlichkeiten. Dass die Schuldigen bekommen, was sie verdienen, geht meist mit der Sorge einher, der eigene Verdienst komme zu kurz. Das bestreiten auch die glühendsten Höllen-Befeuerer nicht: keiner war wirklich je da und kam wieder zurück – das wäre ja auch kein wirkliches Qualitätsmerkmal für eine echte Hölle! Und unsere Phantasie kann sich nur an unserer begrenzten Erfahrung orientieren: das göttliche „Pfählen“ und „Brennen“, „Stechen“ und „Häuten“ sind natürlich viel „vollkommener“ und „reiner“.

Schon früh war es verdächtig, sich die Hölle allzu genau auszumalen. Schon in grober Annäherung stellen sich natürlich viele „interessante“ Fragen. Thomas widmet sich in einer der letzten Quaestiones seiner Summa Theologia wohl nicht ganz ernst gemeint mit der Frage, ob die Verstorbenen ob ihrer Unkörperlichkeit denn überhaupt durch Feuer und Würmer gepeinigt werden können und ob sie noch Tränen vergießen können (ST III, q. 97) Was wäre auch gewonnen, wenn wir wüssten, dass die Verdammten ihren Schmerz tränenlos erleiden müssten? Sich mit der Höllenmechanik zu beschäftigen, führt immer mehr in sie hinein. Sie setzt sich dem Vorwurf der Neugier aus. Neu- und Wissbegier ist dadurch gekennzeichnet, dass das Wissen, auf das sie abzielen, keinen Sinn hat und das heißt eben für das Leben und sein Gelingen nichts bedeutet, das natürliche nicht und vor allem nicht für das übernatürliche, das sich im christlichen Heilsversprechen auf Erlösung kundtut. Statt richtungsweisendes Wissen bekommt man nichtssagende Informationen. Die Höllentemperatur kann man googlen, die Liebe zur Weisheit nicht.

Mehr als dass es ernst um uns steht, muss man nicht wissen. Halt doch! Wenn’s ernst um uns steht, dann sollte man was machen, etwas Richtiges und sollte sich auf das Ziel konzentrieren. Das findet sich nicht mit Blick auf die Hölle. Und auch die Höllen-Angst, etwas falsch zu machen, zeigt einem nicht den Weg.

Das Dogma von der Hölle besagt somit: das Leben des Menschen ist von der realen Möglichkeit ewigen Scheiterns bedroht, die darin gegeben ist, dass er frei über sich verfügen und sich so frei Gott verweigern kann.“ (Kleines Theologisches Wörterbuch von Karl Rahner u. Herbert Vorgrimmler, 1976) Ganz ähnlich spricht auch der (offizielle) Katechismus der Katholischen Kirche von der Hölle als dem „Zustand der endgültigen Selbstausschließung aus der Gemeinschaft mit Gott“ (KKK, 1033). Das und genau das ist das Böse, die Hölle. Nichts sonst. Etwas, das zu Nichts zerfällt. Und Nichts ist nichts, es ist nicht, es „ist“ allenfalls Nicht-Sein.

Die Hölle ist das Gegenbild zu dem, was wir eigentlich wollen – „im Grunde“ und naturgemäß (wie Robert Spaemann gesagt hätte). Dem Heil steht das Unheil entgegen. Aber es „steht“ dem nicht entgegen wie ein Ding dem anderen, es „steht“ überhaupt nicht selbständig, es „ist“ nur an dem und für den, dem sein Leben misslingt. Die Heillosigkeit bestimmt sich wie schon das Wort signalisiert aus der Negation des Gelingens.

Die Hölle ist der „Gedanke“ des Scheiterns und nach einer klugen Bemerkung Hegels gibt es kein endloses Scheitern. Sie ist der Gedanke, dass wir endgültig verfehlen, was wir wirklich wollen. „Endgültig“, weil unser Leben befristet ist und „verfehlen“, weil es in unserer Natur liegt, sie in unserem Leben durch unser Leben allererst zu verwirklichen. Tatsächlich geht es bei Himmel und Hölle nicht um Gerechtigkeit, sondern um Realität. Der „allgemeine Heilswille Gottes“ und die tatsächliche „Möglichkeit ewiger Verlorenheit“ wird christlich „unverrechnet“ bekannt – „jedoch ohne beide als gleichermaßen mächtig zu behaupten“ (Rahner/Vorgrimmler). Leben muss geführt werden und darin können wir scheitern. Und das Versprechen aufs Gelingen wurde glaubhaft gegeben. Darauf gilt es sich zu konzentrieren. Alles andere liegt eh’ nicht in unserer Hand.

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