Beschränkungen auf Basis sehr beschränkter Zahlen

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Bei Pandemien kommt es entscheidend darauf an, ihre Ausbreitung möglichst objektiv zu erfassen, um steuernd eingreifen und Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung ableiten zu können. Die PCR-Tests haben dabei seit Beginn der Corona-Pandemie eine entscheidende Rolle gespielt. Vergessen wir einmal alles, was über PCR-Tests und ihre zweifelhafte Rolle in der Pandemie zu sagen wäre, und gehen einfach mal von ihrer behaupteten Aussagekraft aus. Dann könnten wir von positiven PCR-Tests „irgendwie“ auf die Pandemielage und die drohenden Gefahren schließen. Stark ansteigende Testpositiv-Zahlen (Inzidenzen) zeigen dann z.B. eine starke Ausbreitung der „Infektionen“ an.

7 Tages Inzidenz

Die z.Z. maßgebliche Kennzahl, die sogenannte 7 Tages Inzidenz pro 100.000 Einwohner versucht dabei das Infektionsgeschehen in zweifacher Hinsicht zu objektivieren:

  • Bei den Tests wird es immer Testausreißer geben – ungewöhnlich hohe Positivraten an einem Tag folgen z.B. vergleichsweise niedrigen Werten am Folgetag.
  • Und es kommt ganz wesentlich darauf an, die Anzahl der positiven Tests in Relation zum „Messraum“ zu setzen. Werden 100 positiv Getestete gemeldet, dann sind daraus für München oder Berlin andere Folgerungen zu ziehen für Oberasbach oder Rügland.

Beide Aspekte werden durch die 7 Tages Inzidenz pro 100.000 Einwohner berücksichtigt. Die Testpositiven werden über 7 Tage aufsummiert und in Relation zu 100.000 Bürgern gesetzt. Wenn in Oberasbach mit 17.000 Einwohnern in den letzten 7 Tagen also 100 Bürger positiv getestet würden, dann ergäbe das eine 7 Tages Inzidenz von 100 * 100.000/17.000 gleich ca. 588 für München wäre es gerade mal knapp 7 und in Nürnberg immer noch nicht mehr ca. 19,3.

Steuerungspotential der 7 Tages Inzidenz

Es gab schon früh Bedenken, ob die Kennzahl wirklich ein gutes Steuerungsinstrument ist: die 7 Tages-Inzidenzen von Gemeinden oder Landkreise lassen sich nur schwer vergleichen und erlauben es kaum, bei unterschiedlicher Alters- und Sozialstruktur und Mobilität etc. effektive und effiziente Maßnahmen abzuleiten. Für eine kleine Gemeinde mit 4.000 Einwohnern, die auf Grund eines lokalen Ausbruchs in einem Pflegeheim auf 100.000 Einwohner hochgerechnet eine sehr hohe Inzidenz aufweist, ist ein Lockdown mit Schulschließungen und Ausgangssperren vergleichsweise sinnlos.

Eine Frage der Masse

Insbesondere wurde kritisiert, dass die Kennzahl stark von der Menge der Tests abhängig ist. Die Dosis macht bekanntlich das Gift und das heißt das Verdünnungsverhältnis. Wer tausende von Schürfungen braucht um zwei typische Goldnuggets zu finden, der wird nicht von einer „Goldgrube“ sprechen können. Erzielen wir das gleiche Ergebnis nach wenige Auswaschungen, dann dürfen wir – bei aller Zufälligkeit des Ergebnisses – ernsthaft über einen Erwerb der Schürfrechte nachdenken.

Auch die Zahl der positiven PCR-Tests lässt erst in Relation zur Anzahl der Testungen (und anderer Vergleichsdaten) richtig bewerten.

 

Kritik der Berechnung

Nun hat ein Mathematikstudent aus Bayern hat in einem kurzen Video die bisherige Berechnung der 7 Tages Inzidenz pro 100.000 Einwohner kritisiert und zugleich einen neuen Vorschlag entwickelt, der den Mangel der Berechnung vermeidet und zu realistischeren Abbildung des Infektionsgeschehen kommt.

 

Um die „Qualität“ der Berechnung zu belegen, gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten:

  • die Berechnung mit einer Kontrollberechnung zu vergleichen
  • ähnliche Gegenstände, die zu ähnlichen Ergebnissen führen müssten, zu vergleichen

Wollen wir z.B. sehen, ob ein selbstprogrammierter Rechner „richtig“ rechnet, dann rechnen wir Testberechnungen selbst (oder mit Hilfe eines Taschenrechners) nach und vergleichen die Ergebnisse. Da dies im Falle der 7 Tages Inzidenz nicht möglich ist – es gibt aktuell meines Wissens keine Erhebungsalternative – greift der Studiosus zur zweiten Methodik und nutzt dabei eine Testhypothese:

Zwei Gemeinden nennen wir sie einfach Gemeinde A und Gemeinde B – statt Villarriba und Villabajo – teilen zwei Eigenschaften: Sie haben bei 50.000 Einwohner und eine unterstellte Infektionsrate von 1% der Bevölkerung.[1] Was sie unterscheidet ist die Anzahl der durchgeführten Tests (alle Zahlen natürlich auf Basis des 7 Tages Zeitraums): Gemeinde A führt 2.000 und Gemeinde B 5.000 Test durch. Berechnen wir die 7 Tages Inzidenz nach dem bisherigen Verfahren dann erhalten wir für die zwei Gemeinden deutlich andere Werte. Das ist insbesondere kritisch, weil mit den Werten einschneidende Maßnahmen wie Schulschließung etc. verbunden sind.

Berechnung nach aktuellem Vorgehen

Der findige Student, der inzwischen nicht müde wird zu beteuern, dass er keine Nähe zu den Querdenkern hat – eigentlich schade, dass er das beteuern muss –, hat nun ein Verfahren entwickelt, das diese Schwäche vermeidet und zu einem „realistischeren“ Bild der Lage kommt. Dabei wird auf zwei beim RKI verfügbaren Berechnungsgrößen zurückgegriffen:

  • Ein wichtige Berechnungsgröße ist der Anteil der positiven Tests an den durchgeführten Tests im jeweiligen Erhebungsgebiet. Diese Zahl wird vom RKI jeweils mitgeliefert. Sie besagt z.B. das z.Z. etwas 6% der durchgeführten Tests positiv sind, also sechs von 100 durchgeführten Tests. Bei gleicher Teststrategie zeigt ein Anstieg der Positivrate einen Anstieg der Infektion.[2] In der Modellberechnung wurde unterstellt, dass die Tests effizient sind und der Infektionsrate entsprechen, also bei 1% liegen. Das kann – wie wir gleich sehen werden – natürlich abweichen.
  • Die zweite, neu genutzte Berechnungsgröße ist die bundesweite Testabdeckung, d.h. der Prozentsatz der bundesweit getesteten Bürger (Anzahl im Zeitraum durchgeführter Tests/83 Mio Bundesbürger * 100) – alles natürlich im Durchschnitt. Zur Zeit werden ca. 1,5% der Bundesbürger durchschnittlich getestet. Damit wird eine „normalisierte“ Basis für die Bewertung der Testaktivität gewonnen. Würden die Beispiel-Gemeinden diesem Durchschnitt entsprechend testen, dann würden sie 750 Tests durchführen.

Auf Basis dieser neuen Berechnungsgrößen ergibt sich eine Berechnung, die nun das Infektionsgeschehen der beiden Gemeinden korrekt abbildet und durch die unterschiedliche Anzahl der Test nicht mehr verzerrt.

Alternative Berechnung mit realistischer Abbildung der Infektionslage

Das ist ein starkes Indiz, dass die Berechnung geeigneter ist und verhängnisvolle Fehler bei der Pandemiebekämpfung vermeidet. Die neue Berechnungslogik hat darüber hinaus noch einen weiteren Steuerungsvorteil: es „bestraft“ nicht das „fleißige“ Test und fördert umgekehrt die Testbereitschaft. Mehr Tests führen erstens nicht zu einer höheren Inzidenz. Bei höhere Testpositivquoten zeigen andererseits an, dass die Testaktivitäten ggf. verstärkt werden sollten und damit die Inzidenz wieder „normalisiert“ werden könnte.

Alternative Betrachtung bei unterschiedlichen Testpositivraten

Die 7 Tages Inzidenz ist also ganz wesentlich durch die Testpositivquote bestimmt und macht sich weitgehend unabhängig von der Anzahl der durchgeführten Tests. Das sind Vorteile, die ernsthaft erwogen werden sollten. Und nichts wäre wünschenswerter als dass von „berufener“ Stelle weitere Verbesserungsvorschläge in Richtung einer realistischen Abbildung des Infektionsgeschehens erfolgen würde.

Correctiv und andere Beschränkungen

Das – na, wie soll ich sagen – Wahrheitssicherungsorgan[3] (?) Correctiv hat sich nun mit dem Vorschlag befasst. Ich empfehle ausdrücklich die Lektüre. Man will zeigen, dass der „Inzidenzwert nicht ‚falsch‘ berechnet“, dass aber „dennoch an der Kritik grundsätzlich etwas dran“ ist. Schon länger und „immer wieder“ gab es „Kritik an der Fokussierung auf den Inzidenzwert“. Die auch oben angedeuteten Punkte finden sich bei Correctiv wieder. Das finde ich schön. Und was nun? Schließlich ist die 7 Tages Inzidenz im Moment – und wenn es nach der Regierung in Zukunft noch „stringenter“ – die entscheidende Kennzahl für die Politik des Schließens und Einsperrens. Auch darüber berichtet Correctiv.

Auch die Abhängigkeit der Inzidenz von der Menge der Test wird grundsätzlich gesehen. Aber: es sei „nicht richtig“, den Anstieg der Fallzahlen „allein“ aus der Steigerung der Testaktivitäten zu erklären. Das ist natürlich vollkommen richtig und ziemlich trivial: es gibt eine Abhängigkeit von der Infektionsrate, die man dann schnell sieht, wenn man sie gegen Null laufen lässt. Ohne Infektionen keine positiven Tests so viel man sie auch bemühen mag.[4] Lungenkrebs kommt nicht „allein“ vom Rauchen, aber gut ist es nicht grad …

Also vielen Dank, Correctiv, für diese nicht grade richtungsweisende Correctur, was machen wir jetzt mit der „alternativen Berechnungsmethode“. Correctiv korrigiert, dass die Berechnung nicht „falsch“ sei und es „falsch“ sei, das zu behaupten. Hmm. Correctiv hat die Sache so verstanden als würde ein „Rechenfehler“ behauptet, also z.B. der Drei-Satz nicht richtig angewendet oder der natürliche Logarithmus mit dem dekadischen verwechselt worden. Gemeint ist freilich ein „Berechnungsfehler“ wie er z.B. unterlaufen kann, wenn man die Wohnfläche eines Einfamilienhauses berechnen will: hier darf man Keller und Dachräume nicht mit voller Quadratmeterzahl einberechnen, Balkon und Terrasse werden eigens berücksichtigt etc. Wer Keller und Dachgeschoss einfach ungekürzt dazu addiert betrügt den Mieter/Käufer, wer sie vergisst sich selbst.

Dr. Viola Priesemann

Was ist nun falsch an der „alternativen Berechnungsmethode“. Hier bemüht Correctiv Frau Dr. Viola Priesemann, ihres Zeichens Physikerin, eine fernsehbekannte Verfechterin …, na ja, Sie wissen schon, und das tut ja auch nichts zur Sache. Auch Frau Dr. Priesemann bestätigt, dass vermehrte Testaktivitäten zu höheren Inzidenzzahlen führen könne und deshalb „kurzfristig bestraft“, „da man dann mehr Infektionsketten entdecke“ – eine Behauptung, die natürlich noch belegt werden müsste, aber das tut jetzt auch nichts zur Sache. „Das Video greift [also durchaus] ein wichtiges Thema auf“.

Aber Frau Dr. Priesemann will die Sache „logisch“ angehen und twittert: „Das Video hört sich logisch an, macht aber eine falsche Annahme. Und also ist die Schlussfolgerung falsch.“ Obwohl sich für sie das Video „logisch“ anhört (!), sieht sie es dann doch kritisch. Gut als Metaphysiker sieht man die Sache mit der Logik etwas anders: Schlussfolgerungen sind falsch, wenn sie „falschen“ Ableitungsregeln folgen. Eine „fehlerhafte“ Begründung macht aber die „Schlussfolgerung“ nicht falsch, sondern unbegründet. Frau Dr. Priesemann scheint logisch verwirrt.

Was ist denn nun aus Sicht von Frau Dr. Priesemann falsch? Die Argumentation des Videos gehe, so Frau Dr. Priesemann, davon aus, dass Tests zufällig gemacht würden. Aber: „Das ist nicht der Fall. Menschen werden nicht zufällig getestet, sondern meistens [!], weil es einen Verdachtsmoment gibt“, nämlich z.B. Symptome, Kontakte und Schnelltests.[5] Man müsse zwei Kausalitäten [!?] unterscheiden:

„Was nimmt man als Kausalität?
Fall A: Es werden mehr Fälle gefunden, weil mehr getestet wird.
Fall B: Es wird mehr getestet, weil es mehr Verdachtsfälle gibt.
Am Ende spielen beide Beiträge eine Rolle… Aber im Video wird angenommen, dass wirklich allein und nur A zutrifft.

Die Berechnung gehe von dieser „falschen Annahme“ aus und „also ist die Schlussfolgerung falsch“. Geht die Argumentation tatsächlich davon aus, „dass wirklich allein und nur A zutrifft“? Man müsste sie wohl im Sinne der Strohpuppe von Correctiv (siehe oben) so formulieren:

A*: Es werden ausschließlich mehr Fälle gefunden, weil mehr getestet wird.

Also ich habe diese Annahme nicht benutzt. Und sie spielt tatsächlich auch gar keine Rolle. Und wenn „Fall B“ ebenfalls gilt, dann ist auch das etwas, was das Argument gar nicht betrifft. Aus welchen Gründen auch immer „mehr“ getestet wird (A oder/und B), spielt für die alternative Berechnungsmethode keine Rolle.

Frau Dr. Priesemann scheint den Sinn des Arguments und die „Logik“ der Berechnung nicht richtig ver… vermittelt bekommen zu haben. Ob zufällig getestet wird oder nicht, spiegelt die Testpositivquote wieder. Wir brauchen da nicht über Kausalitäten zu spekulieren. „Shut up and calculate“ wird gemeinhin dem Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman zugeschrieben. Die Zahlen werden sprechen. Und diesmal etwas realistischer.

Die Sache ist unglaublich einfach. Wir haben alles, was wir brauchen. Es geht ein Problem an, dass auch Frau Dr. Priesemann ein Anliegen zu sein scheint (?). Die Zahlen, die wir jetzt haben, sind – da stimmt auch Correctiv ein (!) – nicht geeignet die Grundrechtseinschränkungen, das Einsperren unserer Kinder und Alten, das Vernichten von Existenzen zu begründen. Was gibt es da noch zu überlegen? Eine bessere Idee? Wir warten Frau Dr. Priesemann. Wir warten.

„An“ und „mit“

Seit einem Jahr wird von „an“ und „mit“ COVID-19 gesprochen. Dieser kleine Unterschied wurde von Querdenkern unter Beschimpfung durch die Qualitätsmedien „erstritten“. Aber seit einem Jahr sprechen wir nur so. Wir differenzieren nicht. „An“ und „mit“, dieser zugestandene Unterschied wird nirgends praktisch relevant. Wir sperren die Kinder, die Alten, die Wirtschaft, uns alle ein ohne diesen Unterschied irgendwie zu berücksichtigen. Es wurde nie versucht, ihm auf die Spur zu kommen. Wir wissen jetzt, dass PCR-positiv, keine Infektion anzeigt, OK, dass die Inzidenz mehr als problematisch ist, dass … ich will mich ja nicht wiederholen.

Aber wir tun nichts. Nichts – außer Grundrechtswidriges.

Exkurs

Für die falsche Schlussfolgerung wäre die „falsche Annahme“ gerade nicht entscheidend. Aber vermutlich ist Frau Dr. Priesemann nur gedanklich ein bisschen verwirrt. Sie scheint der bekannten Äquivokation von Ausdrücken mit „-ung“ aufzusitzen. Solche Ausdrücke bezeichnen nämlich oft sowohl den Vorgang als auch das Resultat des Vorgangs: die Teerung der Straße bezeichnet eben sowohl den Arbeitsvorgang als auch den fertigen Straßenbelag. Und bei „Berechnung“ war sich – wie gerade gesehen – ja auch Correctiv nicht sicher, ob es nun den Berechnungsvorgang oder das Ergebnis der Berechnung meint. Bei Schlussfolgerung scheint nun Fr. Dr. Priesemann (erstaunlicher Weise?) diese Verwirrung zu nutzen: sie spricht einmal vom Ableiten und einmal von dem Ergebnis der Ableitung. Das eine ist richtig oder falsch (unkorrekt), das andere ist wahr oder falsch (nicht wahr, den Tatsachen nicht entsprechend). Aus falschen (unwahren) Annahmen, kann richtig geschlossen werden. Und andererseits gilt, dass eine falsche (nicht „logisch“ korrekte) Ableitung, die Behauptung nicht falsch sondern „nur“ unbegründet macht. 

Man kann sich selbst public relaten, ein bisschen rumexperimentieren und mit Zahlen spielen – man kann aber einfach auch mal nachdenken. Nee, stop, bei Markus Lanz geht das nicht. Und da sind Sie ganz gerne mal, Frau Dr. Priesemann. Logisch, oder? 

[1] Bei der Infektionsrate ist die Größe fürs Argument fast bedeutungslos. Sie kann irgendwo zwischen 0 und 100 liegen. Bei Werten über 10 kommt man aber schnell zu völlig unrealistischen Infektionsszenarien.

[2] Natürlich kann der Anstieg auf ein zielgerichteteres Testen zurückzuführen sein.

[3] Correctiv nennt sich selbst „Medium“ und „Recherchezentrum“.

[4] Die Falschpositiven mal ausgeschlossen, die Correctiv … na lassen wir das.

[5] Die Massentest an Schulen und am Arbeitsplatz, an Flughäfen und Teststationen, die sind wohl dem Kriterium „Kontakt“ zuzurechnen, oder? Und ging es bei den „testen, testen, testen“-Programmatikern – ich weiß jetzt gar nicht ob da auch Frau Dr. Priesemann…? – nicht gerade um asymptomatische Fälle. Legt man sich da plötzlich was zurecht? Nee, oder?