Aus dem Dachsbau

Lesedauer 4 Minuten

Nicht quatschen – spielen

KiWi 2019

Dirk von Lotzow ist indiskutabel. Das ändert auch kein indiskutables Buch. Aber mit so vielen Tocotronic-Zeilen im Kopf, die mich seit 1993 begleiten und sich seither tief in mein Selbstverständnis eingegraben haben, kam ich um diese gesammelten Auswürfe „Aus dem Dachsbau“ wohl nicht herum. Zugegeben, ich hab’ nicht alles von A bis Z gelesen und zugegeben, ich war voreingenommen. Kann der denn schreiben, hat der denn eine Idee? Aber Idee muss doch auch nicht. Die alphabetische Ordnung macht ja klar, dass die dargebotenen Texte keine innere Ordnung haben, die man verpassen oder missverstehen könnte. Wer liest schon eine Enzyklopädie? Schlägt man in ihr einmal nach und findet nichts, was einem etwas sagen könnte, stellt man sie schnell zurück.

Also fang ich mit A wie „ABBA“ an. Ein kurzer Text der mir nichts sagt und nur auf eine Pointe zuzustreben scheint: „ABBA. From A to B and back again.“ Müsste man nicht „… and Back Again“ mit zwinkerndem Emoji schreiben? Aber das würde uns vermutlich spießig unterfordern. Das Emoji soll wohl vom Leser von selbst ausgewählt werden – es gibt ja so viele; let’s see if we find the coolest!? Mit „Alexander“ wird eine Jugendfreundschaft beschrieben. Alles ist so wie wir’s uns gedacht und von anderen Bands schon gehört haben. Doch darum geht’s ja nicht. Es geht um Alexander: „1996 stirbt Alexander mit sechsundzwanzig Jahren an einem Gehirntumor. Wir waren fast zwanzig Jahre befreundet.“ Ein starker erster Satz. Ich werde sofort in den Text gezogen, verliere mich aber bald darin. Ich möchte Alexander sehen und sehe dann nur Umstände, die mich auf die Tootronic Vorgeschichte setzen (ach ja, bei eurer „ersten richtigen Tour“, bei der Alexander den Manger gab und in „Süddeutschland“ endete, war ich damals in Erlangen (!) auch schon dabei). Und es kommt wie’s kommen muss: die Songfetzen, die mir bei „Alexander“ durch den Kopf gehen finden ihr zwangsläufiges Finale: „Bei seinem Begräbnis spiele ich ‚Gott sei Dank, haben wir beide uns gehabt‘“. Der erste blieb dann auch fast der letzte starke Satz.

Hätte ich das Buch nicht geschenkt bekommen und ich es stattdessen mit Jean Pauls Schulmeisterlein Wutz gehalten, dann hätte ich – ich würde drauf wetten – auch ein A wie „Alien“ und eines wie „Apokalypse“ beigesteuert. „Als kleiner Junge dachte ich lange Zeit, meine Welt werde von Aliens beherrscht“, hätte ich als unglaublichen (?!) ersten Satz wohl nicht gewagt. Die Lektüre von Science-Fiction- und Horror-Romanen, sorry: „Stories“ (!), hätte ich vermutlich schon hinbekommen und die Filmreferenzen aus Unkenntnis einfach gegoogled. Kurzum: mein lesendes Schulmeisterlein konnte nichts wahrnehmen was es aufhorchen ließ. Allenfalls beim der Referenz-Photographie vom Spielplatz als vermeintlichem (?) Landplatz der UFOs, konnte es nicht vorhersagen. Obwohl? Wer einmal auf einem Spielplatz war und über Aliens schreiben will? Egal. Unvorhersehbar freilich ist die Photographie zu A wie „Apokalyse“: ein verwildeter, zugewachsener Weg. Der Text dazu lebt von der „lyrischen“ Kürze: „Die Apokalypse endet meist im Gemüsegarten.“ Nun gut, da wär’ mein Schulmeisterlein nie draufgekommen. Chapeau. Vom „Aufruhr“ dem letzten A bleibt dann nur hängen, dass Dirk Cola Zero trinkt. Er weiß, dass uns Fans das schockt und erklärt es tocotronisch: „Alles ist entschuldigt, alles ist erlaubt.

Dirk von Lowtzow – Wikimedia

Auch gleich zu Z zu springen. Hej, nur ein Text zur „Zeit“ – aber ein langer. Es geht, wer hätte das vermutet, um kindliche „Langeweile“, „High Noon“ und „No exit“. Zum letzter schreibt Dirk, könnte das ein „High Light“ sein 😉 und eine spannende Wende zum Schluss sein?: „Doch dann geschah etwas, das du nicht für möglich gehalten hättest. [Natürlich duzt Dirk mich. Ich zögere ein bißchen, ob das nicht Ludwigs Vorrecht ist, muss aber gestehen, dass ich ihn ja auch mit ‚Du, Dirk …‘ anspreche] Als du in Verzweiflung lagst [!], in der sechsunddreizigsten Stunde der Nacht [!!], und kein Trost und kein Schlaf und keine Gnade sich einstellen mögen, begegnete dir ein furchtloser Meister der Zeit.“ Natürlich bestimmt aus Deutschland! und kommt deshalb „gleich zur Sache“: „Schreib alles auf“ und wiederholt es „etwas lauter: ‚Schreib alles auf.‘“ So wär’ auch das geklärt.

Natürlich hab’ ich auch bei Dirk am Ende noch den Seite 69 Test gemacht. Die Seite 69 ist die letzte eines etwas längeren Texts. Also gucke ich was der Seite 69 folgt. Oh weh ein Gedicht. Ich hab’s gelesen, will aber nicht darüber sprechen. Also doch zurück auf Seite 63 zu G wie „Geburtstag“. Nein, ich frage jetzt nicht mehr mein oder ihr/Dein Schulmeisterlein, ich lese einfach. Den bislang besten Text. Der dreiundvierzigste Geburtstag führt den Autor zurück nach Hamburg. Eine Ewigkeit früher, aber am selben Tag, den 21. März – ist das nicht gemeinhin Frühlingsanfang? – hat sich Hubert Fichte dort angesiedelt. Er beschließt sein Grab zu besuchen. Und während dieses Gangs zurück zu Fichte begegnet uns auch Alexander wieder und ihr erster Hamburgbesuch. Wer war noch mal Hubert Fichte? Ich hatte ihn vor Jahrzehnten auch mal gelesen. Aber was? Ich google und finde, ach ja, die „Geschichte der Empfindlichkeit“, die wohl zu einer Schule werden sollte. Ein guter Exit Point, finde ich: ich sollte mir Fichte mal wieder angucken, Hubert oder Johann Gottlieb, egal. Im enzyklopädischen „Dachsbau“ kann ich ja bei Gelegenheit mal wieder nachschlagen.

Was ist also am Ende zu sagen? Beim Konzert rufen wir mitteilsamen Frontmänner und -frauen zur Ordnung: Nicht quatschen, spielen! Beruhigend wäre „Aus dem Dachsbau“ für uns Konzertgänger nur, wenn mit den rund 80 Texten um A und Z, die zukünftigen Konzerte auch 80 Songs stark wären. Dann könnte man dieses Gequatsche gut ertragen. Die längeren Pausentexte könnte man dann ja für’s Bierholen nutzen.

Die Links dieser Seite wurden zuletzt am 01.04.2019 überprüft.


© 2019 Heinrich Leitner | Bildnachweise