Auf der Suche nach der verlorenen Bedeutung

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Anthonis van Dyck: Selbstbildnis, um 1620/21 und 1627 – (Wikimedia) – Alte Pinakothek, München – Vergrößern

Über van Dyck wollte ich nichts mehr schreiben. Spät hatte ich ihn entdeckt und mich in seine Maria aus van Dycks „Vision des Hermann-Josef“ (1630) genauso „verguckt“ wie ich mir „liebend gern“ einen solchen van Dyckschen Engel als Begleiter gewünscht habe. Die Attraktion der beiden war so groß, dass ich am Ende auch Hermann-Josefs Vision noch zu verstehen glaubte (->Visionen – wirklich nichts Neues). Das musste aber reichen. Mein neuer van Dyck sollte meinen alten van der Weyden nicht verdecken. Also: van Dyck Ausstellung in München ja, aber kein Wort drüber.

Aber es kam, wie’s kommen musste und vor allem so, wie es manche meiner Lieben gleich gesagt haben: ich kann meinen Mund nicht halten. Und das kam so …

Austellung mit „Röntgenblick“

Die Münchener van Dyck Ausstellung, die vom 25. Oktober 2019 bis 2. Februar 2020 in der alten Pinakothek zu sehen war, glänzte wie so oft bei „großen Ausstellungen“ durch „kleine“ Unaufmerksamkeiten. Nicht nur Männer fortgeschrittenen Alters halten es für ein Gebot der Höflichkeit ihren Besuchern einen Platz anzubieten. Nichts gegen Stehempfänge, sie regen zum small talk an. Große Dinge dagegen brauchen Ruhe und Aufmerksamkeit. Man muss sich bei ihnen niederlassen, um ihnen gerecht zu werden. Stellen wir uns vor, der Notar würde uns bei einem Grundstückskauf – und sei es nur eines Garagenstellplatzes – den Kaufvertrag im Stehen verlesen?! Die Ausstellungsmacher können uns freilich glaubhaft machen, dass man bei van Dyck mit noch größerer Sorgfalt zu(m) Werke gehen muss als beim schnöden Kauf eines Stellplatzes. Nun scheinen sie freilich auch zu glauben, dass genaues, ausführliches Betrachten zur Wahrheit der van Dyckschen Kunst nicht vorzudringen vermag. Was sie wirklich ausmacht, das entdeckt sich nur dem Röntgenbild, der chemischen Analyse von Leinwand und Farbe, gleichsam im naturwissenschaftlichen Experiment. Wer das Entscheidende selbst eh’ nicht erkennen kann, dem braucht man auch keinen Platz anzubieten; das hieße ja fast ihn auf einen Holzweg zu schicken und ihn dort auch noch festzuhalten.

Hermeneutik wird zur Radiologie, die Akademie zum Labor. Nur in wenigen Fällen traut uns die Kuratorin der Ausstellung zu, dass wir ihre Erkenntnisse „mit eigenen Augen“ nachvollziehen können. Stattdessen weist sie im Audioguide der Ausstellung immer wieder auf die aufwändigen Untersuchungen hin, die dank großem technischen Gerät viele neue „wissenschaftliche“ Einsichten über die Produktionsweise der Bilder zu Tage brachten.

Dabei ist der Audioguide durchaus „gut gemacht“. Die meisten Audioguides geben von Experten geschriebene Texte zum Besten, die von professionellen Stimmen vorgelesen werden. Es sind ver-lesene Expertisen, keine gesprochene Sprache. Die Kuratorin hingegen führt uns in lebendigem Vortrag durch die einzelnen Räume. Nicht nur eine gelegentliches „ähm“ mischt sich ein. Sie spricht direkt, ohne Druckkorrektur und mit spürbarem und einnehmendem Engagement für die Sache. So darf es sein, so soll es sein. Was sie uns aber mitteilt sind vor allem die Abenteuer der naturwissenschaftlichen Analyse von ihr bewunderter Kunst.

Von der Werkstatt zur Manufaktur

Natürlich geht es dabei vor allem um die Echtheit der Werke und die ist tatsächlich in vielen Fällen umstritten. Das liegt an der Produktionsweise, die im 17. Jahrhundert mehr und mehr um sich greift. In Rubens Werkstatt z.B. wurde arbeitsteilig produziert. So werden die großartigen Tiergestalten in einigen von Rubens Bildern einem Spezialisten dieses Sujets zugerechnet, der selbst als eigenständiger Meister gelten darf: Frans Snyders. Gleiches gilt für Landschaften, Architekturen, Ausschmückungen und Kleidungsstücke. Dafür gab es Vorzeichnungen, Blue Prints und Kompositionsanleitungen vom Meister, die den Gesellen helfen sollten, Kunst zu machen – vergleichbar den Aufbauskizzen à la IKEA fürs Doing Yourself.

Rubens Wunderkind

Van Dyck war in der Werkstatt Rubens großgeworden und galt dort als Wunderkind. Er übernahm früh Arbeiten für Rubens und war dabei so gut, dass wir Schwierigkeiten haben seine Anteile von denen Rubens zweifelsfrei zu unterscheiden. Er glich sich auch in seinen selbständigen Bildern zunächst so sehr an Rubens, seine Motive und seinen Stil, an, dass wir uns schwertun, van Dyck zu erkennen. Die zeigt Werke aus den frühen Jahren van Dycks, die das schön belegen und mit „Röntgenblick“ zeigen können, wie van Dyck Kompositionen („experimentierend“) so verändert hat, dass sie eine eigene van Dycksche Ausstrahlung bekamen.

Van Dyck führte später seine Werkstatt ähnlich. Was ein echter van Dyck ist und was der Werkstatt angehört, ist in vielen Fällen nicht leicht zu ermitteln. Die Münchener Ausstellung zeigt hier viel Aufschlussreiches. Ein der Werkstatt zugeschriebenes Bild konnte nun als „echter van Dyck“ ausgewiesen werden. Und zum Leidwesen der Besitzer konnten zwei ganzfigurige Porträts als Werkstattarbeiten enttarnt werden (– wir kommen darauf gleich noch zurück)

Copy & Paste

Die Frankfurter Rubens Ausstellung (8. Februar bis 21. Mai 2018) unter dem Titel „Kraft der Verwandlung“ zeigte, wie die Rubensche Kunst durch aemulation bestimmt scheint, durch die Wiederverwendung von Motiven, Perspektiven, Gesten und Körperhaltungen, die bei anderen Künstlern (vor allem den „Italienern“) entdeckt wurden. „Kraft der Verwandlung“ unter Einsatz von copy & paste: talent borrows, genius steals und verwandelt das Gestohlene in etwas Eigenes.

Die Münchener Ausstellung über van Dyck belegt seine geschickte Weiterentwicklung der Malerei zu einer Malmanufaktur, für die time-to-market und kundenorientierte Produktion ausschlaggebend sind: der „Kunde“ kann ein Porträt ohne lange „Sitzzeiten“ erwerben und aus einem Katalog von Mustervorlagen sein Bild von sich und seiner Persönlichkeit konfigurieren. Die Münchener Ausstellungsmacher zeigen z.B., dass vermutlich Bilder durch die Werkstatt schon so weit vorproduziert wurden (Draperie, Körperhaltung, Kleidung), dass schließlich (durch den Meister) nur noch der Kopf des Auftraggebers oder der Auftraggeberin „eingesetzt“ werden musste und Besonderheiten und spezifische Assessoires (eine Kette, ein Ring, ein Handschuh) hinzugefügt wurden.

Ist die Werkstatt nicht zur Hand, arbeitet van Dyck die Szenerie schnell, fahrig und flüchtig aus und konzentriert sich aufs Wesentliche und das heißt auf das, was zählt und bezahlt wird. Ein neues Verständnis von Kunst tritt hervor. Das Neue dieses (Selbst-) Verständnisses zeigt sich, wenn wir diese Produktionsweise mit einer „alten“ kontrastieren. Bei griechischen Tempeln z.B. waren Statuen und Friese auf den Rückseiten auch dann sorgfältig ausgestaltet und bemalt, wenn sie vom Betrachter niemals gesehen werden konnten – weil sie die Götter selbst präsent machen und nicht nur für bezahlende Besucher sichtbar sein sollten. Jetzt konzentriert sich der Künstler auf den entscheidenden Ausschnitt, auf den winning spot. Dort lässt er seine Kunst aufscheinen und liefert eine Erscheinung, die das Wirkliche an Glanz wirklich überstrahlt.

Vieles davon hat van Dyck von Rubens und vieles wie dieser von Tizian übernommen. Und er hat es perfektioniert. Auch hier hilft ein Vergleich. Meister wie van Eyck, van der Weyden oder auch Dürer haben die Individualität des Dargestellten mit einer Präzision gemalt, dass wir sprachlos und völlig beeindruckt vor der Detailtreue und der Präzision der Abbildung stehen. Das Dargestellte scheint echt vor einem zu stehen. Es scheint! Denn betrachten wir zum Vergleich Bilder Tizians, dann fällt uns bei ihm sofort die Materialität, die „Echtheit“ des gemalten „Stoffes“ auf: die Kleider haben Schwere und eine stoffliche Oberfläche, die Haut der Personen ist nicht nur bemalte Fläche, sondern lebendiger Körper, organischer Stoff, leiblich. Von Tizian zu van der Weyden zurückgeblickt, wirken die Kleider der Figuren wie aufgemalt, sie gehören der Leinwand an, nicht dem Körper, der dargestellt ist und der selbst wie ein schwereloser, farbiger Schatten wirkt. Das ist sicherlich (leicht) überzeichnet. Diese Überzeichnung kann freilich die Besonderheit der „neuen“ Malerei hervorheben. Und wenn wir dann van Dycks „Stoffe“ angucken, Körper und Leiber, dann sehen wir die stoffliche Schwere und perspektivische Tiefe am „Stoff“ selbst. Die räumliche Tiefe wird nicht durch geometrische Linien erzeugt, die gleichsam über das Bild gelegt es (mathematisch) „vergittern“. Die „Tiefe“ entspringt den Dingen selbst.

Von all dem erfahren wir in der Ausstellung nichts. Nicht dafür werden uns die Augen und „Sinne“ geöffnet. Wir erfahren lediglich, dass die Tizian-Anlehnung durch die Verwendung italienischer Farben belegbar ist.

Bildnis Filips de Godines – Alte Pinakothek, München

Die Kunst Anthonis van Dycks besteht darin, etwas Unglaubliches in die Gesichter und Haltungen zu bringen. Er gibt mit seinem meisterlichen Schliff den dargestellten Personen einen besonderen Glanz. Im ganzfigürlichen Portrait Filips Godines glänzt die Kette und die Goldstickerei des Rocks fast dreidimensional. Der stoffliche Glanz und der lebendige Ausdruck des Gesichts zieht uns in Bann.

Es ist wie bei schlechten Actionfilmen die Story ist hohl, aber die Effekte großartig. Alles ist vor allem „gut gemacht“. Die Story wird von B-Schauspielern getragen, um die „special effects“ kümmert sich der Chef selbst. Am Ende kostet das auch das Geld und bringt mehr davon wieder ein.

Die Ausstellung gruppiert sich um die sehenswerte Sammlung von van Dycks Werken, die sich im Besitz der Alten Pinakothek befinden. Es sind so herausragende, glanzvolle und einzigartige Bilder wie das Selbstbildnis (1621/22 und 1627), das Martyrium des Heiligen Sebastian (1621/22), Susanna im Bade (1621/22) oder Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (1630). Leider verschluckt die Ausstellung mit ihrer Konzentration auf die technischen Aspekte, das was van Dyck uns zu sagen hat. Für Kunsthistoriker mag die Zusammensetzung der Farben von Bedeutung sein. Für die Ausrichtung unseres Lebens vermag die chemische Analyse nichts beizutragen.

Also eine Ausstellung von Kunsthistorikern für Kunsthistoriker?! Dagegen ist natürlich nichts zu sagen. Man muss es nur sagen. Wir wissen jetzt über die physische Zusammensetzung, die ökonomischen Hintergründe und die Produktionsform viel mehr. Über die „kulturelle“ Bedeutung der Werke und ihren „ideellen“ Wert, über ihre Bedeutung für uns (heutigen) Betrachter können uns Physiker nichts sagen. Kann van Dycks Kunst etwas für unser Leben bedeuten? Darüber müssen sich dann Meta-Physiker den Kopf zerbrechen.

Porträts, immer nur Porträts…

Van Dyck wird als Porträtmaler groß. Vor allem in seiner englischen Zeit war er hauptsächlich das. Er wollte das nicht. Er ist es einfach geworden – durch sein besonderes Talent für Echtheit und Glanz und durch die Umstände, die in die er geriet und die in die er sich selbst begeben hat.

Zeit seines Lebens wollte er Historienbilder malen, Bilder, die über die Geschichte, die sie erzählen, Bedeutung mitbringen, bei denen es „um etwas geht“. In ihnen wird die Kunst zur Helferin der Wahrheit: sie lässt sie erscheinen; sie zeigt etwas Bedeutsames, etwas das „hinter dem Bild“ steht und durch das Bild nach vorne tritt. Kunst als ἀλήθεια, als erscheinende Unverborgenheit, als einnehmender Glanz der Wahrheit.

Der Übergang von Historien- und Portraitmalerei ist durchaus fließend. Natürlich gibt es auch „historische“ Darstellungen von Personen. Darstellungen von Göttern, Heiligen oder legendären Herrschern stellen zwar Personen dar, zielen dabei aber eher auf die typisierte Wiedererkennung der Dargestellten. Antike Götter oder Heilige werden an ihren Attributen erkannt. Sie sind Individuen. Aber der Übergang zum Allegorischen oder Symbolischen ist fließend.

Die Dargestellten sind Teil einer Geschichte, die ihnen die besondere Bedeutung gibt, die sie ins Bild setzen lässt. In diesem Sinne sind Helden und Herrscher der Abbildung würdig, Krethi und Plethi nicht. Die „moderne“ Portraitmalerei dagegen löst das Individuum aus der Geschichte. Es ist als solches „wertvoll“ und hat seine eigene (gleichsam natürliche) Würde ohne sie aus einer „kulturelle“ Geschichte beziehen zu müssen. Die Person hat Würde, nicht weil sie eine große Geschichte hat, sondern weil sie Person ist.

Die Individualität der Person abzubilden bedeutet zugleich, sie wiederzuerkennen. Man möchte seine Lieben bei sich wissen und im Herzen behalten auch wenn sie nicht da sind. „Ja, das ist Tante Hermine, wie sie leibt und lebt!“ Wir wollen nicht so etwas wie Tante Hermine, sondern sie selbst. Nur muss man dann eben Tante Hermine gekannt haben. Nur haben wir, die Betrachter, sie in der Regel nie gekannt geschweige geliebt.

Portät der Anna Wake – Alte Pinakothek, München – Wikimedia

Umgekehrt kann mir ein Portrait von einer Person gezeigt werden, die ich nicht kenne, die ich aber wiedererkenne, wenn ich sie treffe. Die Portraitmalerei hatte so auch den Zweck, heiratsfähige Paare zusammenzuführen. Man schickte ein Portrait der Braut, um sie für den Bräutigam attraktiv zu machen. Wenn wir heute Portraits von van Dyck betrachten, was kann uns „attrahieren“? Die Dargestellten sind tot. Vermutlich hätten wir sie sowieso nie heiraten können. Warum sollten wir sie also betrachten?

An ihnen könnte Typisches sein, etwas typisch Menschliches, eine wesentliche „Form“ oder Idee. Solche Formen müssen freilich nie wirklich individualisiert sein; ihre Realisierung ist exemplarisch. Götter, Heilige und biblische Helden sind Darstellungen ihres Auftrags, sie zeigen ihre „Vorbildlichkeit“, ihre Bedeutung, nicht ihre leibliche Individualität. Nur wenige Maler werden leibhaftig einen Engel gesehen und ihn „portraitiert“ haben, die in Verkündigungsszenen Gabriel oder in apokalyptischen Bildern des Jüngsten Gerichts Michael gemalt haben. Und typisch italienische Landschaften – und nicht die schlechtesten – können aus der Phantasie des Künstlers entspringen, der weiß, was italienische „auszeichnet“.

In diesem Sinne sind auch Herrscherportraits keine Portraits im engeren Sinn. Sie sind Repräsentationen der Herrschaft. Der Herrscher zeigt sich dort, wo er selbst nicht sein kann. Sie leben von zugeordneten Machtinsignien und von der kunstvollen Präsenz, die der Künstler den Abbildungen zu geben vermag. Der Herrscher ist „da“ als wäre er da. Er beherrscht uns im Bild.

Die Portraitmalerei lebt weniger von der Gestaltung bedeutungsvoller Ideen als vielmehr von der Echtheit der Abbildung, der Lebendigkeit der Darstellung und der glanzvollen Inszenierung des abgebildeten Individuums. Das Portrait muss den Portraitierten so zeigen, wie er ist, ihn wo möglich im besten Licht zeigen und ihm schmeicheln. Es kann attraktive Züge hervorheben und die lange Nase oder die Glubschaugen vorteilhaft „relativieren“. Die Personen müssen aber erkennbar bleiben.

Betrachten wir die Portraits von Leuten, die wir niemals gekannt haben, werden wir die Portraits an ihrer „Kunst“ messen müssen, an dem Vermögen des Künstlers, eine Person lebendig erscheinen zu lassen, sie zu einem scheinbaren Gegenüber zu machen. Der Effekt des Bilds wird wichtiger als der Gegenstand, der abgebildet wird.

Der Auftraggeber schätzt an der Kunst des Malers ihre virtuelle Echtheit, die vermeintliche Lebendigkeit, den einnehmenden Glanz der Darstellung. Und dem Auftraggeber muss es gefallen. Er will sich so zeigen. Die Kunst des Malers wird zum Instrument der Selbstinszenierung.

Grenzfall des Portraits ist das Selbstbildnis. Im Selbstbildnis zeigt der Künstler sich in besonderer Weise: er zeigt sich als der, der sich zeigen kann: „Das bin ich aus eigener Hand.“ Der Künstler zeigt sich als jemand, der etwas kann. Neben dem frühen Selbstbildnis des vierzehn-, fünfzehnjährigen van Dyck (1613/14) finden wir in der Ausstellung auch das Selbstbildnis von 1620/21 bzw. 1627 (siehe Headerbild). Der knapp Zwanzigjährige zeigt sich dort als erfolgreicher Künstler mit Goldkette, die er von Herzog Ferdinando Gonzaga erhalten und 1627 als Beleg seines Erfolgs dem Bild hinzugefügt hatte. Gold für die kunstreiche Malerei, die das Gold so kunstvoll zeigt, dass wir es der Kunst selbst zurechnen. In beiden Selbstbildnissen blickt uns der Künstler fragend und erwartend an. Es ist nicht der Gestus des selbstbestimmten Künstlers, der einen Auftrag zur Weltgestaltung hat, der ihm direkt von Gott zugedacht ist (sola fide und sola gratia) wie er in Dürers Selbstbildnis von 1500 ausdrückt ist, dem vielleicht „größten“ Selbstbildnis, das jemals geschaffen wurde. Van Dycks Selbstbildnis ist durch etwas Befremdliches bestimmt, eine irritierende Un-Heim-lichkeit. Van Dyck zeigt sich als einer, der Großes zu schaffen vermag und uns zweifelnd ansieht, besorgt darüber, ob wir ihm den Auftrag für einen bedeutsamen Gegenstand dafür zu geben bereit sind. Wohin wird er von uns „geschickt“ werden, ins nächste Portrait oder in ein Historienbild?

Das Martyrium des Heiligen Sebastians …

Martyrium des Heiligen Sebastian – Alte Pinakothek, München – Zeno

Eines der beeindruckenden Historienbilder der Münchner Sammlung ist Das Martyrium des Heiligen Sebastian (1621/22). Der heilige Sebastian war ein römischer Soldat, der sich als Christ bekennt und damit ins Martyrium geht. Von der Ausstellung erfahren wir, dass dieses Motiv recht beliebt war, weil es erlaubte, den nackten männlichen Körper zu zeigen. Hmm. Der Hinweis ist vermutlich nicht ganz falsch. Er ist aber im Entscheidenden irreführend. Den männlichen Körper konnte man auch mit anderen Motiven darstellen, mit Jesus am Kreuz oder mit antiken Göttern. Die vermeintliche, kunsthistorische „Erklärung“ ist mehr eine Ausrede fürs eigene Befremden als eine Aufklärung, die zu echtem Verständnis führt. Sie redet uns Bedeutung aus, indem sie das Werk auf taktische und technische Bedingungen seiner Entstehung reduziert. Wer Verständnis ermöglichen will, der muss sich fragen, auf welche Frage das Bild eine Antwort sein kann.

Sollen wir uns mit Sebastian identifizieren? Sollen wir – seinem Vorbild (und diesem Bild von ihm) folgend – für unsere Überzeugung ins Martyrium gehen? Sebastian der „vorbildliche“ Held unseres eigenen Lebensentwurfs? Um die Ecke gedacht: ja.

Van Dyck rückt uns zunächst nicht in die Nähe Sebastians, er stellt uns ihm gegenüber. Wir sind nicht in der Rolle des leidenden Helden, sondern der leidigen Täter. Sebastian blickt uns an und macht uns mit diesem Blick nicht zu einem seiner Begleiter. Er macht uns zu Mittätern. „Ihr wisst was ihr tut. Mein Sein ist Anstoß, meine ‚Bestrafung‘ durch Euch ist die perverse ‚Würdigung‘ meines Daseins“, scheint er zu sagen. – Wenn wir das Bild sehen, sollen wir uns nicht am Heiligen ein Beispiel nehmen. Und nicht der Fehler unseres Urteils, die Erbärmlichkeit unserer Bewertung wird gezeigt. Sebastian will nicht anders gesehen werden als er ist; er will in dem, was er ist, gewürdigt werden.

Auffällig ist seine körperliche Schönheit. Es ist die Schönheit des männlichen Körpers – nicht das Soldatische oder Heroische an ihm. Das ist irritierend. Und das Schöne am Mann scheint irgendwie verdächtig. Schönheit effeminiert. Männliche Schönheit wirkt irgendwie schwul.

Wir können uns darin täuschen, ob jemand schwul ist oder nicht. Tatsächlich tun wir das sehr häufig. Aber erst wenn wir Schwule mit Giftpfeilen unserer Bosheit beschießen, wird das Urteil gefährlich. Wie ist das mit der eigenen Herkunft? „Ingolstadt? Ach, echt? Ich dachte Du kommst aus Erlangen. Weiß auch nicht wie ich darauf kam?!“ Das macht keinen Unterschied. Was sollte „schlecht“ daran sein, aus Erlangen statt aus Ingolstadt zu kommen – beides ja im „guten“ Bayern. Der „Fehler“ ist nicht nur verzeihlich, er ist völlig egal.

Ob Sebastian schwul oder Christ ist, das sollte in diesem Sinne egal sein. Ist es aber nicht. Sebastian bekennt sich als Christ. Das ist er. Das kann schon nerven, wenn daraus ein großes Ding gemacht wird und mit dem demonstrativen Bekenntnis alle anderen zu minderbemittelten Idioten herabgesetzt werden. Das wollen wir Sebastian mal nicht unterstellen. So zeigt van Dyck ihn uns nicht. „Ich bin so und so wie ich bin, bin ich nicht einer von Euch. Ich bin anders“, scheint er zu sagen. „Seht ihr’s? Völlig anders.

Sebastian wirkt wie ausgestellt, auf dem Markt zum Verkauf, einem Sklavenmarkt nicht für Arbeiter im Bergwerk oder Steinbruch. Eher für Liebhaber schöner Körper. Und wir, die Betrachter, werden zu Marktteilnehmer, die schon mal die Münzen zählen, ob’s zur Versteigerung reicht. Wieder meine ich – wie schon im Begleiter Mariens in der „Vision des Hermann-Josef“ – den Maler selbst zu erkennen. Van Dyck sieht sich selbst im Sebastian. Schönheit, der perfekte Glanz, steht zum Verkauf.

… und der Susanna

Susanna im Bade – Alte Pinakothek, München – Zeno

Ein anderes Meisterstück der Münchener Pinakothek, Susanna im Bade (1621/22), gibt der Kuratorin die Möglichkeit, über die technische Erläuterung hinauszugehen: es darf natürlich wieder als eine Gelegenheit gelten, den nackten Körper zu malen, diesmal den weiblichen – tatsächlich wird er von van Dyck kunstvoll verhüllt, was die Wirkung der Nacktheit sogar noch steigert; und wieder findet sich darin natürlich viel Tizian. Nun aber sieht die Kuratorin etwas Bedeutsames, das darüber hinaus und uns (heutige) Betrachter direkt angeht: die Sexualisierung des Blicks und die Ohnmacht der Opfer lässt sie einen Bezug zu MeToo herstellen. Sie greift damit etwas auf, was sie vermutlich bereits im Katalog der alten Pinakothek zu dem Bild so formuliert hat: „Das Erschrecken der Susanna, die Geilheit der Ältesten, die sie bedrängen, die Berührung der spinnenartigen Hand, die sie erschaudern lässt, das Drohen und die falsche Strenge des Jüngeren, der ihr das Tuch entreißen will, mit dem sie ihre Blöße bedeckt. Van Dyck zeigt sich als großer Erzähler mit Sinn für Psychologie …

Das ist vielleicht etwas platt, aber immerhin. Ich bin mir nicht sicher, ob damit wirklich der Kern der „Botschaft“ gefunden wurde, die im apokalyptischen Buch Daniel formuliert wird. Ich glaube z.B. nicht, dass die beiden Alten von van Dyck besonders „geil“ dargestellt wurden. Mit dem Hinweis auf „das Drohen und die falsche Strenge“ kommen wir ihm vielleicht etwas näher. Vor allem wissen wir noch nicht recht, was der Betrachter sehen und was er an Einsicht gewinnen soll, was der Grund für die Rückwendung zur biblischen Geschichte ist. Sei’s drum. An diesem Versuch der bedeutsamen Verständigung zeigt sich vor allem, dass er notwendig ist und man ohne ihn, dem Werk nicht gerecht wird.

Auf der Flucht

Ruhe auf der Flucht nach Ägypten – Alte Pinakothek, München

Das dritte große Bild der Ausstellung, das ich herausgreifen will, ist die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (1630) Wieder eine Historienmalerei, eine Geschichte, die etwas Bedeutsames erzählt. Worin liegt ihre Bedeutung? „Seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts war das Thema der Ruhe auf der Flucht nach Ägypten insbesondere in den vom Klerus und Laien gleichermaßen geschätzten privaten Andachtsbildern ein beliebtes Sujet“, heißt es ganz typisch in der „Erläuterung“ eines Ausstellungskatalogs. Warum? Zu welchem Andenken liefert es Anlass? Hilft der Hinweis auf die neue Rolle der Familie als Motiv der Gegenreformation weiter? Ich versteh’s nicht – und würd’ ich’s verstehen, dann wär’s nur historisch. Sei’s drum.

Die Sache liegt anders. Die „Ruhe auf der Flucht“ (des Lebens) ist ein kritischer Punkt. Sie bietet den durchaus verstörenden Anlass, über die eigene Flucht nachzudenken. Das Kind schläft. Josef und Maria können und müssen sich besinnen. Wir sehen den besorgten Josef, der fast entschuldigend nach vorne weist und vermutlich zum Aufbruch mahnt. Er weiß um die Erschöpfung und die Müdigkeit und drängt doch, Mutter und Kind in Sicherheit zu bringen. Maria hingegen ist „skeptisch“ und blickt melancholisch auf die wegweisende Hand. Es ist der hilflose Blick von unten zu den Wünschen, denen sie sich von oben ausgesetzt sieht. Warum sollte es nicht hier enden, warum sich nicht ergeben und in Ruhe sterben und – so dürfen wir vielleicht ergänzen – dem geliebten Kind das Kreuz ersparen. Josef ist nicht nur der betroffene Hüter der Familie; seine Wegweisung vollzieht den himmlischen Auftrag und bringt den Sohn ans Kreuz. Über dem Bild liegt diese Melancholie und sie teilt sich dem Betrachter mit. Vor dem Bild „Ruhe auf der Flucht“ selbst zur Ruhe gekommen, besinnt er sich aufs eigene flüchtige Leben. Wir bleiben vor ihm stehen und schauen. Und was wir sehen, sind wir selbst.

Mach-Art

Statt solche Bilder zu malen, war van Dyck den Weg der Portraitmalerei gegangen. Er hat hunderte von Portraits von den Reichen und Schönen gemalt; er hat sie so gemalt auch wenn sie es nicht immer waren. Die „Ruhe auf der Flucht“ führt schließlich nach Ägypten, ins fremde Land, aus dem man einst aus der Unterdrückung geflohen. Nun ist es selbst der rettende Rückzug.

Van Dyck war „ein Unternehmergenie“, kann man in einer Besprechung der Ausstellung in der Neuen Zürcher Zeitung (2. Januar 2020) lesen . Man kann zweifeln, ob es so etwas gibt wie ein „Unternehmergenie“ – gibt es auch Waffenhändlergenies oder Sklavenhaltergenies? – und ob diese „Auszeichnung“ dem Genie van Dyck gerecht wird, so zeigt das doch, in welche Richtung sich die Kunst entwickelt. Mit der Ausweitung des Markts ergeben sich neue Produktionsbedingungen. Die Produktion von Kunst wird selbst zur Kunst, die Produktion zu optimieren. Die Werkstatt wird zur Manufaktur, bei der es vor allem auf die perfekte Machart ankommt.

Das ist vielleicht exemplarisch an der Portraitmalerei zu sehen. Statt der Darstellung bedeutsamer Einheit des Vielfältigen, explodiert die Darstellung ins Individuelle, je Verschiedene. Individuum est ineffabile. Portraits versuchen die Einheit einer individuellen Lebensgeschichte ins Bild zu setzen. Sie tun dies im Rückgriff auf etwas Allgemeines, historische oder typisch menschliche Charakterzüge. Aber sie sind vor allem am unverwechselbaren Einzelnem ausgerichtet, das neben abertausend anderen steht. Die Einheit eines Wesens gibt es hier nicht und erscheint lediglich als Abstraktion und willkürliche Verkürzung. Das, was gezeigt wird, ist dies Besondere und Individuelle, das selbst auf keine Bedeutung „hinter“ oder „über“ ihm sich bezieht. Je besser sich das Individuelle zeigt, je lebensechter und „realistischer“ es dargestellt wird, desto besser ist es gemacht. Für die „Alten“ war der Himmel pures Gold, schließlich wurde er blau und bekam echte Wolken mit irdischen Kräften und ging schließlich verloren.

Darin liegt vielleicht eine „Dialektik der Perfektion“. Desto mehr das Bild sich dem, was es darstellt zum Verwechseln ähnlich macht, desto mehr verliert es an Bedeutung und vervielfältigt die Gegenstände. Das „alte“ bedeutsame Bild hält etwas fest, was sich sonst im Wechsel der Erscheinungen verliert. Es gibt gegenüber der Unbeständigkeit der Erscheinungen und dem Verlauf der geschichtlichen Dinge die Einheit einer Ansicht, die Ansicht einer Gestalt. Wenn die Bilder sich vervielfältigen, „realistisch“ werden und am Ende laufen lernen, verlieren sie ihre Bildfunktion.

Van Dyck scheint mir einer zu sein, der diese „Dialektik der perfekten Kunst“ geahnt hat. Als Wunderkind der Kunst wollte er die Dinge in ihrer Unverwechselbarkeit, in ihrer stofflichen Wirklichkeit perfekt abbilden und war dabei auf der Suche nach der Bedeutung, die in ihr verloren zu gehen drohte.

Die Links dieser Seite wurden zuletzt am 10.02.2020 überprüft.


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