Auf Bewährung

Lesedauer 16 Minuten

Auf Bewährung

Eine der hermeneutischen Prinzipien geht von der Vollkommenheit der Texte aus. Wenn wir jemanden lesen, dann sollten wir davon ausgehen, dass uns dieser Text etwas zu sagen hat und etwas zu geben vermag, was wir ohne ihn nicht hätten. Texte haben in diesem Sinne immer etwas Anstößiges. Texte, die uns in unserer „alten“ Meinung nur bestätigen, vermögen uns nicht viel zu geben. Sie sind wie ein bestelltes Schulterklopfen. Wir sollten aber davon ausgehen, dass der Andere in seiner anderen Meinung recht haben könnte.

Karl Raimund Popper

Nun kann ich nicht sagen, dass ich bei der Lektüre des viel gelobten Karl Raimund Popper, diesem Grundsatz wirklich gefolgt wäre. Schlimmer noch: ich glaubte vorher zu wissen, dass eine „ernsthafte“ Lektüre überflüssig sei. Alles, was ich von Popper wusste, speiste sich aus vorher entschiedener Gegnerschaft. Bei Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde brauchte „man“ nicht mal den Klappentext lesen, um zu wissen, dass auf den knapp tausend Seiten zwischen den Buchdeckeln nichts Bedeutsames stehen würde.[1] Jedenfalls nicht für einen aufrechten Linken, der man ja zu sein glaubte.

Freilich kommt „man“ als akademischer Philosoph an Popper dann doch nicht ganz vorbei – zum Glück. Ich musste mich, ob ich wollte oder nicht, also durch seine Logik der Forschung[2] zwingen. Und wie das so ist, ziehen starke Texte auch manchen „vorbehaltlichen“ Leser in ihren Bann. Die Idee, so musste der unwillige Doktorand eingestehen, war schon gar nicht so schlecht, aber …

Aber das mit den Feinden der offenen Gesellschaft, das ging gar nicht: Die von Popper im Titel ausgemachten Feinde hatte ich nämlich gelesen und für gut, was sage ich?, für maßgebend befunden. Was sollte ich also mit Poppers Auslassungen zu meinen Helden? Und ich gestehe, dass es weder bei mir im Bücherschrank steht, noch dass ich es bislang wirklich gelesen habe. Ein früherer Kollege drängte mich zur Lektüre – natürlich vor allem des Marx-Teils wegen; ich war aber vom „Zauber des Platon“ so angezogen, dass ich den Popperschen Entzauberungsversuch bald kopfschüttelnd und erbost wieder in die Philosophische Bibliothek zurückwarf – durchaus in der Hoffnung, dass es dort nicht mehr gefunden werden möchte.

Neue Feinde der offenen Gesellschaft

Michael Esfeld

Und doch soll es jetzt darum gehen, um die „offene Gesellschaft und ihre Feinde“, genauer ihre „neuen Feinde“ – so nämlich ein Beitrag von Michael Esfeld, der zunächst im April 2021 im Liberalen Institut veröffentlicht und nun bei Free21 abgedruckt wurde. Michael Esfeld ist Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne und gehört seit 2009 auch der Leopoldina an. Er hat durch kritische Beiträge zur Corona-Politik auf sich aufmerksam gemacht und     z.B. in einem offenen Brief die „Ac-hoc-Stellungnahme“ der Leopoldina vom Dezember 2020 als einseitige politische Positionierung kritisiert, die „die Prinzipien wissenschaftlicher und ethischer Redlichkeit“ verletzt habe.[3] Wir können also ahnen, wo Michael Esfeld „neue Feinde“ ausmacht. Michael Esfeld sieht uns „heute wieder vor einer Weichenstellung zwischen offener Gesellschaft und Totalitarismus“ und die „neuen Feinde der offenen Gesellschaft kommen wieder aus dem Inneren der Gesellschaft mit Wissensansprüchen, die zugleich kognitiver und moralischer Art sind und die wiederum eine technokratische Gestaltung der Gesellschaft zur Folge haben, die sich über Menschenwürde und Grundrechte hinwegsetzt“. Das scheint mir etwas überdramatisiert und verdankt sich der Schematisierung, die er von Popper übernimmt: „Popper zufolge sind die intellektuellen (!) Feinde der offenen Gesellschaft diejenigen, die für sich reklamieren, das Wissen um ein gemeinschaftliches Gut zu besitzen. Aufgrund dieses Wissens nehmen sie für sich in Anspruch, die Gesellschaft technokratisch steuern zu können, um dieses Gut zu verwirklichen.“ Popper denkt dabei natürlich vor allem an Faschismus und Stalinismus. Die Stärke seiner „Feindanalyse“ ist dabei, dass sie nicht einfach von einem Zerrbild böser Mächte ausgeht, sondern seine Feinde durchaus gute und ehrwürdige Ziele haben und dennoch zu einer feindlichen Gefahr für die „offene Gesellschaft“ werden können. Man muss nicht Rassist oder Antisemit sein, um totalitär und ziemlich gefährlich zu werden, sondern kann im Gegenteil von der Gleichheit aller ausgehen und ihr Wohlergehen zum Ziel haben. So unterstellt Popper wohl – wie gesagt in Unkenntnis des Originaltextes – Marx humanistische Ziele, die allerdings durch den Anspruch auf wirkliches (absolutes) Wissen korrumpiert werden. Wer sich im Recht glaubt, so darf man wohl folgern, der geht leicht über Leichen, weil er so viele Leben retten will.

Michael Esfeld sieht diese Gefahr heute durch „eine Allianz aus Experten, Politikern und manchen Wirtschaftsführern“, die für sich in Anspruch nehmen, „das Wissen zu haben, wie man das gesellschaftliche bis hin zum familiären und individuellen Leben steuern muss“, um ein „höheres gesellschaftliches Gut – Gesundheitsschutz, Lebensbedingungen zukünftiger Generationen“ zu befördern oder zu wahren. Dafür sind sie sogar – so Michael Esfeld – bereit, Menschenwürde und Grundrechte zurückzustellen. In der gegenwärtigen Bindung der Grundrechte und -freiheiten an Freigaben durch Experten sieht er den Weg in den Totalitarismus: „die Ausübung von Freiheit und die Gewährleistung von Grundrechten hängt dann von einer Genehmigung ab, die eine Elite von Experten erteilt – oder eben verweigert“.

Risikobewertung

Natürlich bezweifelt Michael Esfeld, dass der Wissensanspruch der Experten berechtigt ist. Wie auch PzZ sieht er die Gefahrenlage durch die Corona-Pandemie anders als der Mainstream. Schon allein die Richtigstellung der Risikolage macht den Beitrag von Michael Esfeld lesenswert und zeigt, dass Kritiker der Corona-Politik keineswegs verschwörungstheoretische Corona-Leugner und totalitäre Rechte sind. Es gibt – und das ist beruhigend – durchaus auch kritische Stimmen in der Leopoldina und bei anderen renommierten Experten. Aber die Frage der richtigen Risikobewertung ist von der ethisch-rechtlichen Bewertung der Maßnahmen zu unterscheiden.

Ethik der Feinde der Feinde

Bei der ethisch-moralischen Beurteilung bewegt sich Michael Esfeld aber – mit Popper (!) – auf einer sehr wackeligen Grundlage, die mehr vom guten Geist als von guten Gründen lebt. Es hört sich meist so an, als sei der Anspruch auf Wahrheit, den er bei den Experten ausmacht, der Grund des Bösen, also die Ursache des Totalitarismus. Das ist aber keineswegs so. Ein kleines begriffliches Kunststückchen macht das schnell anschaulich: Popper selbst beansprucht natürlich für das, was er zum Totalitarismus und die Möglichkeit ihn zu vermeiden sagt, seinerseits eine „absolute“ Gültigkeit, die die „falschen“ (!) Geltungsansprüche der „Feinde“ gerade kritisch entlarvt. Bei Michael Esfeld wird auf die unbedingten Grundrechte und die unveräußerliche Menschenwürde verwiesen, die einen Anspruch auf Gültigkeit erheben, die ausdrücklich über die „totalitärer“ Wahrheitsansprüche hinausgehen und sie begrenzen sollen. Was sie kritisieren, müssen sie in gewissem Sinne selbst in Anspruch nehmen.

Tatsächlich ist das eigentliche Übel nicht der Anspruch selbst, sondern das Verbot, ihn zu bezweifeln oder zu begrenzen. Nicht Wahrheit ist totalitär, sondern die Gesinnung, nur das „Eigene“ gelten zu lassen und es „auf Teufel komm’ raus“ für wahr zu erklären, weil es der guten Sache dient! Gefährlich ist es, am Falschen festzuhalten und sich einer Korrektur des Für-wahr-Gehaltenen nicht auszusetzen oder sie gar zu verbieten.[4]

Logik der Forschung

Popper hat einen Punkt, den Esfeld, wenn er ihn denn so sieht, nicht wirklich zum Ausdruck bringt. Poppers Kritik am totalitären Denken verdankt sich seiner Kritik an einer falsch verstandenen Wissenschaft, die er in seinem Hauptwerk Logik der Forschung formuliert. Als Wissenschaft gilt traditionell begründetes Wissen, also der „Nachweis“, dass eine Behauptung wahr und der behauptete Sachverhalt eine Tatsache ist. Die wissenschaftliche Begründung einer Behauptung bezieht sich auf ein „System“ von Sätzen und auf Sätze, die nicht gelegentlich und in einzelnen Fällen, sondern allgemein und für alle vergleichbaren Fälle gelten sollen.

Nun ist die Wahrheit solcher Theorien freilich schwierig zu erweisen. Popper zeigt das an nicht-analytischen „All-Sätzen“, z.B. der Form „Alle Schwäne sind weiß.“ Die Wahrheit solcher Sätze lässt sich nicht „zeigen“. Auch wenn viele unserer Beobachtungen darauf schließen lassen, so könnte sich z.B. in einem abgelegenen Winkel der Erde oder in 123 Jahren immer doch ein Schwan finden, der eine andere Färbung hat. [5] Solche Sätze lassen sich nicht verifizieren, sie können nur falsifiziert werden: ein Gegenbeispiel, also z.B. ein schwarzer Schwan, macht die Behauptung, alle Schwäne seien weiß, eben falsch. Dem entspricht andererseits, dass „‚Es gibt‘-Sätze“ nicht falsifizierbar, sondern nur verifizierbar sind. „Es gibt Einhörner“ kann nicht dadurch widerlegt werden, dass sich gerade keines zeigt. Es könnte sich irgendwo eben doch eines finden. „Es gibt schwarze Schwäne“ bewahrheitete sich als sie in Australien entdeckt wurden.

Mit verifizierten „‚Es gibt‘-Sätzen“ lassen sich also „All-Sätze“ falsifizieren. Die Wahrheit von „‚Es gibt‘-Sätzen“ beruht auf Beobachtungen, die in „Basissätzen“, so formuliert werden, dass eine einfache empirische Überprüfung möglich ist – im Wiener Kreis sprach man ursprünglich von Protokollsätzen. Für wissenschaftliche Theorien bedeutet dies, dass sich ihre Wahrheit nicht zeigen lässt, sie sich aber bewähren. Die Überzeugung „Und immer immer wieder geht die Sonne auf…“ wird ohne dass wir uns theoretisch sicher sein könnten (nicht nur metaphorisch) allgemein geteilt. „Theorien sind nicht verifizierbar; aber sie können sich bewähren.[6] Eine Theorie bewährt sich, indem sie sich gegenüber Falsifikationsversuchen verteidigen lässt. „Wir nennen eine Theorie ‚bewährt‘, solange sie diese Prüfungen besteht.“ Theorien sind mit „Basissätzen“ vereinbar oder unvereinbar und „die Unvereinbarkeit betrachten wir als Falsifikation der Theorie…[7]

Bewährung

Bei der Bewährung geht es weniger um die Menge der Sätze, die mit der Theorie vereinbar sind als vielmehr um die Vereinbarkeit mit „kritischen“ Sätzen, solchen, deren Gültigkeit für die zu prüfenden Theorie bedeutsam sind.

Der Umstand, dass eine Theorie nicht falsifiziert wurde, heißt freilich nicht, dass sie als bewährt gelten darf. Es wäre ja reichlich trivial, wenn es für eine Theorie nicht irgendetwas gäbe, das sie berechtigt erscheinen liesse. Natürlich spricht dem Anschein nach sehr vieles dafür, dass die Sonne sich um die Erde dreht. Wer „Theorien“ bestätigen möchte, der wird uns vor Situationen führen, die ganz wunderbar mit seiner Sicht zusammenpasst. Ist es nicht wirklich augenfällig, dass Masken die Ansteckungsgefahr reduzieren. Man hustet ja jetzt nicht den Menschen an, sondern die Maske. Wer die generelle und signifikante Schutzwirkung von Masken in außerklinischen Lebensbereichen einer wissenschaftlichen Bewährung aussetzen will, der müsste z.B. nachweisen, dass empirisch kein signifikanter Unterschied bei der Infektionsrate durch die Nutzung der Masken auftritt – was ja an Beispielen wie North und South Dakota relativ leicht zu zeigen ist. Wer dagegen auf Aerosol-Wolken in Laborstudien verweist, der zeigt zugleich, dass er etwas völlig anderes meint und z.B. Aussagen zur Strömungsrichtung von ausgeatmeter Luft macht. Grundsätzlich gilt: Wer der Wirklichkeit gerecht werden will, der darf nicht nach Bestätigung, sondern der muss nach neuen Erfahrungen suchen, die alte Überzeugungen falsifizieren. Das ist der mitreißende Gedanke Poppers, den ich nun besser verstehen möchte als er selbst es tat.[8]

Bewähren ist mehr als (im Mainstream) unwidersprochen bleiben. Bewährung setzt sich einer ausdrücklichen Prüfung aus. Prüfen tun wir im methodischen Zweifel, ob das, was wir glauben auch wirklich zutrifft. Dass „alle Raben schwarz sind“ wird allerdings nicht dadurch bestätigt, das wir das selbe Wald- und Wiesenstück immer wieder nach einem weißen Raben durchstreifen ohne einen zu treffen. Die Welt ist halt größer als unser „Vorgarten“. Immerhin hätte man dann schon (zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten) nach einem nicht-schwarzen Raben gesucht und nicht nur die schwarzen gezählt. Das nämlich scheint in vielem die „Unlogik“ derer zu sein, die Wissenschaft als den Nachweis verstehen, dass sie mit ihren „Forschungen“ recht haben. Richtig wäre, nach der Falsifikation der eigenen Behauptungen zu suchen. Wissenschaft sagt etwas über die Wirklichkeit und ist deshalb durch diese falsifizierbar. Wissenschaft ist belehrbar und besteht gerade darin, sich belehren zu lassen. „Eine Theorie kann sich um so besser bewähren, je besser sie nachprüfbar ist.[9] Sie strebt – um es etwas paradox zu sagen – die Falsifizierbarkeit an. Eine Theorie darf nur dann als wissenschaftlich gelten, wenn sie mit empirischen Sachverhalten in Widerspruch geraten kann. „Alle Raben sind schwarz“ kann durch den Nachweis eines nicht-schwarzen Raben („Hier gibt es jetzt einen Raben, der nicht schwarz ist“) falsifiziert werden. Wer die Basissätze festlegt, die seine Theorie widerlegen, der sagt uns, was er wirklich behauptet.

Politische Bewährung

Das alles ist natürlich im Detail reichlich kompliziert und vielleicht im Einzelnen nicht haltbar. Die Idee freilich gut und richtungsweisend: Die Logik der Forschung wird bei Popper zum politischen Programm. Auch politische Ansprüche müssen sich kontinuierlich bewähren und das heißt der Falsifikation aussetzen. Sie müssen ausdrücklich dazu ermuntern, anderer Meinung zu sein und die Ansprüche „intelligent“ zu bestreiten. Intelligent heißt dabei nicht, dass keine dummen, „unwissenschaftlichen“ Fragen gestellt werden dürfen. Fragen sind nicht dann „dumm“, wenn sie in den Augen von Professoren „kritisch“ sind. Fragen sind dann dumm, wenn sie die in Frage stehende Behauptung nicht wirklich (ernstlich) in Frage stellen und das heißt entscheidend angriffen. Intelligent ist ein Zweifel dagegen dann, wenn er auf den Kern der Behauptung zielt. Und was die Behauptung eigentlich behauptet zeigt sich, wenn man auf ihre „Grenzen“ guckt und das heißt auf das, was sie falsch macht.

Dumm ist der Mainstream, weil er keine (neuen) Fragen stellt und sich auf alte Antworten verlässt. Wir dürfen freilich von der herrschenden Meinung nicht erwarten, dass sie sich in einem starken Sinne der Bewährung stellt. Politische Herrschaft lebt von der selbstverständlichen Akzeptanz. Ziel der Herrschaft ist es, sich selbst als unangefochtene Normalität zu zeigen. Autorität – auch im besten Sinne – sucht nicht den Widerstand gegen sich selbst zu wecken. Genau das ist es aber, was Popper mit der Übertragung der Logik der Forschung auf die Logik der Politik fordert. Die Autorität der Partei, der Klasse, der herrschenden Eliten oder einer technokratischen Verwaltung muss sich der Falsifikation stellen. Eine „offene Gesellschaft“ ist nach Popper eine, die sich selbst zum Widerspruch ermuntert.

Die „Logik der Forschung“ versucht durch methodische Verpflichtung auf Falsifikationsregeln der menschlichen Schwäche zu begegnen, in den eigenen Gedanken verstrickt zu sein, auf den eigenen Erfolg zu fokussieren und das eigene Produkt besonders zu lieben. Politisch wird diese menschliche Schwäche zur Gefahr, wenn sie sich gegenüber Kritik immunisiert. Dieser Gefahr versuchen „offene Gesellschaften“ durch Gewaltenteilung und gegenseitige „Falsifikation“ zu begegnen. Die „vierte Gewalt“, Presse und Wissenschaft, wäre demnach dazu aufgerufen, kritische Fragen aufzuwerfen und die politischen Positionen auf die Probe zu stellen. Wie gefährlich ist COVID-19? Wer stirbt an oder mit? Ist der PCR-Test tatsächlich ein „Gold-Standard“ und kann er Infektiosität bzw. Erkrankung wirklich verlässlich nachweisen? Wie wirksam sind Maßnahmen von Lockdown, Masken und Social Distancing? Die Leitmedien und die Öffentlich-Rechtlichen haben sich fast ausschließlich darauf beschränkt, „Fakten“ zu liefern, die die „herrschenden“ Ansprüche bestätigen – doch, doch die Sonne ist wieder mal im Westen untergegangen und im Osten wieder auf, also doch einmal um die Erde herum!? Es blieb meist den „Alternativ-Medien“ vorbehalten, solchen Hinweisen nachzugehen oder ausdrücklich zu suchen, die geeignet sind, die Ansprüche der politischen Führung ausdrücklich auf die Bewährungsprobe zu stellen oder zu falsifizieren. Solche Versuche der Falsifikation wurden und werden als gefährliche Leugnung von Dunkelmännern und Verschwörungstheoretikern verleumdet.

Wir folgen Hypothesen, wenn die Kosten ihres Für-wahr-Haltens kleiner sind als die Kosten ihrer Falsifikation. Sie der Falsifikation auszusetzen ist aber weder ehrenrührig, unsinnig oder Zeichen einer verkommenen Gesinnung. Die Gründe eine Falsifikation zu versuchen können anstößig sein und müssen uns nicht gefallen – z.B. wenn sie dazu dient, dem „beneideten“ Theoretiker eins auszuwischen und sich selbst besser ins Rampenlicht zu stellen. Aber aus welchen Gründen auch immer die Falsifikation unternommen wird, sie gelingt oder sie scheitert und zeigt uns etwas besser, wie die Dinge wirklich liegen.

Forschung braucht Querdenker – Freiheit auch

Querulanten – Nein danke!

Dabei gibt es keine „Logik“ für Theorieentwicklung – gute Einfälle entspringen unterschiedlichen Quellen. Sie sind unerwartet und verlangen nach „Querköpfen“, die bislang unhinterfragte Dinge überdenken. Für die Forschung sind „Querdenker“ nötig, die gegen den Mainstream vorgeschlagene Hypothesen auf die Probe stellen und neue, bislang ungeahnte, ja absurd scheinende zur Bewährung freigeben. Davon auszugehen, dass die Erde um die Sonne „kreist“ und dies nicht mal auf einer perfekten (vollkommenen) Kreisbahn, sondern auf einer erstmal unerklärlichen Ellipse – wie kann man das tun? Solche Dinge führen fast immer zur aggressiven Ablehnung der Leopoldinas dieser Welt und zu einer besorgten „politischen Reaktion“. Der „spekulative Unfug“ eines Semmelweis wurde „psychiatrisch behandelt“ – vermutlich nur weil es damals eben so wenige Drostens gab …

„Follow the Science“

Nun ist der Umstand, dass 70, 80 oder noch mehr Prozent der Bevölkerung den Corona-Maßnahmen folgen, kein Indiz für Totalitarismus. Wissenschaft ist andererseits nicht demokratisch. Die demokratisch legitimierten Ansprüche mögen richtig oder falsch sein, sie sollten sich der Bewährung stellen. Nicht Ansprüche auf Wahrheit sind böse, sondern das Sich-Verschließen gegen Falsifikation. Eine Herrschaft der Angst, die nach Michael Esfeld „gezielt geschürt“ wurde, verhindert das.

Aber hier zeigen sich die Grenzen der „Logik der Forschung“. Zwei-Drittel-Mehrheiten setzen zwar Recht, haben aber nicht per se Recht. Rassistische Gesetze bleiben rassistisch und falsch, obgleich sie mit überwältigender Mehrheit beschlossen und umgesetzt werden. Gegen eine Diktatur der Mehrheit sollen Grundrechte schützen, die der Mehrheit entzogen sind. Die Erfahrung des Nationalsozialismus, der ja der demokratischen Weimarer Republik entwuchs, ging ins Grundgesetz mit der Formulierung unantastbarer Grundrechte ein. Aber auch sie müssen verstanden, angewandt und verteidigt werden. Wenn der Souverän, in demokratischen Staaten meist eine parlamentarische Mehrheit, der Ansicht ist, einer Gruppe von Menschen zum Wohle anderer Rechte zu nehmen, dann ist der Hinweis auf Grundrechte meist nicht sehr wirksam. Apartheit-Systeme haben die Welt jahrhundertelang beherrscht. Dass Frauen und Farbigen keine gleichen Rechte zugesprochen wurde, beherrschte nicht nur den Populismus, sondern war auch in Verwaltung und Recht, Medien und „Wissenschaft“ vorherrschend. Sollten wir uns also tatsächlich wundern, wenn die „Logik der Forschung“ auch heute nicht die „Logik“ der herrschenden Meinung entspricht?

Follow the Science“ ist nicht die Aufforderung, den Wahrheiten der Wissenschaft und ihren herrschenden Meinungen zu folgen, sondern der strikten Regel zur Falsifikation. Es gilt der Wirklichkeit dadurch nahe zu kommen, dass sich unsere Theorien bewähren, in dem wir sie der Bewährung und damit der Falsifikation aussetzen. Wer sagt, dass es nun aber genug ist, bestimmte Fragen nicht gestellt werden sollten oder gar die eigenen Vorstellungen als alternativlos versteht, der zeigt zumindest ein „anderes“ Wissenschaftsverständnis. Unerwünschte Fragen als dumm oder gefährlich zu erklären, ist die eigentliche Gefahr für eine „offene Gesellschaft“.[10]

Qualitätsmedien

Die Rolle der Medien darf dabei nicht unterschätzt, aber auch nicht dramatisiert oder mystifiziert werden. Es handelt sich bei ihrem Schweigen und ihrer willfährigen Unterstützung (meist) nicht um eine besonders perfide und hoch-intelligent geplante Verschwörung. Sie sind einfach Teil der herrschenden Meinung, die sich selbst bestärkt. Warum sollten unter ihnen mehr von denen sein, die früh erkennen, dass nicht die Erde und ihr eigener Standpunkt, der Mittelpunkt der Welt ist, um den alles „kreist“. Von welcher Seite bekommt man Schulterklopfen, wie Aufmerksamkeit und kauffreudige Kundenzufriedenheit? Sie verstehen sich selbst als Teil des großen Ganzen für dessen Gut einiges zu opfern ist. Das Gemeinwohl, das über alles geht, das ist – nach Popper – freilich die entscheidende Gefahr für die „offene Gesellschaft“.

Grenzen der Logik

Nicht die Politik hat die Mehrheit der Wähler hinter sich hergezogen oder gar propagandistisch manipuliert. Die Mehrheit der Bevölkerung – angestachelt durch Medien, die sich als Sprachrohr der Mehrheit verstanden – haben die Politik vor sich hergetrieben. Die herrschende Meinung ist eben meist die Meinung der Herrschenden[11] – andernfalls würden sie nicht lange herrschen. „Vorsichtige“ wurden zu immer härteren, immer gewaltsameren Maßnahmen gedrängt. Alle haben sich gegenseitig bestärkt. An Christian Drosten, oh, pardon, Prof. Dr. Christian Drosten natürlich, sieht man schön, wie ihn die Welle mitriss, die er durch ständige Wiederholung von herrschenden Sorgen selbst mit ausgelöst hat.

Die Grenzen der „Logik der Forschung“ markieren auch die Grenzen der „offenen Gesellschaft“. Die „Forschung“ folgt ihrer „Logik“ nur in einer „offenen Gesellschaft“, die mehr braucht als Falsifikation. Sie braucht einen Begriff von Wahrheit und Recht, der über die Forschung hinausgeht. Grundrechte „bewähren“ sich nicht und ihre Geltung ist die Voraussetzung, dass wir uns über die „Wahrheit“ von Theorien verständigen können. Auf der „Logik der Forschung“ und ihrer Bedeutung für eine „offene Gesellschaft“ zu beharren ist sicherlich nicht falsch – und die Gefahr, die von ihren Feinden ausgeht ist offensichtlich. Die großen Feinde waren immer die, die glaubten der Menschheit etwas Großes bringen oder sie gar retten zu müssen. Darin hat – es fällt mir nicht leicht, das zuzugestehen – Popper vermutlich recht. Das enthebt uns nicht, über die Grundlagen der „Logik der Forschung“ und über das nachzudenken, was wir „gutes Leben“ und eine „offene Gesellschaft“ nennen. Und dabei ist auf Platon, Hegel und Marx wohl nicht zu verzichten. Da bin ich mir absolut sicher.

[1] Eigentlich waren es vier Buchdeckel, nämlich zwei Bände: der erste zu The Spell of Plato (1945; 1957 in deutscher Übersetzung als Der Zauber Platons) und der zweite – und damit war über den Titel schon entschieden, was wir Guten davon halten mussten – zu The high tide of prophecy: Hegel, Marx and the aftermath (ebenfalls 1945 im englischen Original und dann 1958 auf deutsch: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen).

[2] 1934 mit dem Untertitel Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft erschienen – was etwas beruhigend war, denn die Erkenntnistheorie der Naturwissenschaft interessierte mich vergleichsweise wenig, so modern sie auch sein mochte, und galt für eine „revolutionäre“ Gesellschaftstheorie als weitgehend uninteressant.

[3] Siehe dazu Wissenschaft und Aufklärung in der Corona-Krise ebenfalls als Beitrag des Liberalen Instituts veröffentlicht.

[4] Falsch kann etwas nur sein, wenn ein Wahrheitsanspruch mit ihm verbunden ist.

[5] Tatsächlich galten schwarze Schwäne als Fiktion und als Beispiel für Dinge, die grundsätzlich möglich, aber nicht wirklich sind. In diesem Sinne spricht Juvenal in einer seiner deftigen Satiren von schwarzen Schwänen: sie seien so selten wie es schöne, fruchtbare und keusche Frauen gäbe, nämlich gar nicht zu finden. Allerdings wurden schwarze Schwäne dann im 17. Jahrhundert in Australien entdeckt und als Sensation nach Europa gebracht.

[6] Raimund Popper, Logik der Forschung, 1984, S. 198.

[7] Nun wäre es ja „einfach“ (und) schön, wenn wir bei Basissätzen die Wahrheit sichern könnten, die Theorien abgehen. Aber natürlich ist das nicht möglich. Auch die Behauptung von Basissätzen ist grundsätzlich fallibel. Auch Basissätze sind falsifizierbar.  Allerdings gilt die Nachprüfung, auf die sich die Forschungsgemeinschaft der Wissenschaftler verständigt hat, als unproblematisch(er). Hypothesen gelten als falsifiziert, wenn („kritische“) Basissätze unter vereinbarten Bedingungen empirisch bestätigt werden: So wurde „Alle Schwäne sind weiß“ durch die „Beobachtungssätze“ „Das hier ist ein Tier, das der Gattung Cygnus zugeordnet wird und deren natürliches Obergefieder schwarz ist“ falsifiziert.

[8] Auch das ist eine hermeneutische Maxime der Interpretation: mit Blick auf die eigene Wirkungsgeschichte kann ein Gedanke „wirksamer“ werden als zunächst vermutet.

[9] A.a.O., S. 214. Die Sache ist natürlich kompliziert: wenn sich Hypothesen durch beobachtbare Sachverhalte, die durch Basissätze ausgedrückt werden, falsifizieren lassen, dann kommt alles darauf an, wie wir solche Basissätze verstehen (wollen) und welche als Falsifikation der Hypothese gelten dürfen oder sollen. Der Umstand, dass das Zimmerthermometer gerade 20,8 Grad anzeigt, widerlegt (vermutlich) auch dann nicht die Quantenmechanik, wenn das Thermometer wirklich (exakt) die Temperatur misst. Es gibt eine ganze Reihe „Basisprobleme“ (so das Kapitel V der Logik), die sich mit der Falsifikationstheorie stellen und weit über das von Popper untersuchten Probleme hinausgehen. Nicht umsonst nimmt der „Anhang“, der sich auf die Diskussion der Popperschen Logik seit ihrem Erscheinen 1934 bezieht, in meiner Ausgabe von 1984 mehr als die Hälfte des Buches ein.

[10] Dumme Fragen sind ja per se ungefährlich, weil sie am Thema vorbei gehen und die Theorie nicht wirklich in Frage stellen. Dumme Fragen sind harmlos, weil sie auch Dummen die Möglichkeit geben, sie zu beantworten.

[11]Die Originalstelle in der Deutschen Ideologie heißt: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht…. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten materiellen Verhältnisse, also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.“ (MEW 3, 46)