Alea iacta est

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Gaius Julius Caesar – WikiCommons

Schon wieder der Rubikon. Vor der riskanten Entscheidung ihn 49 v. Chrs. zu überschreiten soll Gaius Julius Caesar lange gezögert und schließlich den Befehl zur Überkehrung gegeben haben: alea iacta est.

Diese Entscheidung war kritisch und mit unabsehbaren Folgen. Wir erwarten, dass dabei Chancen und Risiken sorgfältig abgewogen und bewertet werden. Man darf freilich vermuten, dass Caesar den Gefahren anders begegnete als wir das mit Blick auf ein modernes Risikomanagement erwarten. Wir bewerten Risiken (oder Chancen) als mögliche zukünftige Schäden (Nutzen) mit Blick auf ihre Höhe und ihre Wahrscheinlichkeit. Ziel ist sie zu kalkulieren, um dann so kalkulierte Risiken eingehen oder abwehren zu können, d.h. die Schadenshöhe zu begrenzen und/oder ihre Eintrittswahrscheinlichkeit zu reduzieren. Blicken wir 2000 Jahre zurück nach Rom, dann zeigt sich, dass natürlich vieles von dem, was wir als Gefahr betrachten, den Römer nicht schrecken konnte. Vulkanausbrüche oder der Brand von Häusern und Stadtteilen wurden nicht „proaktiv“ als Gefahren wahrgenommen. Einen Katastrophenschutz aufzubauen oder den Brandschutz zu institutionaliseren kam niemanden in den Sinn. Sollte es dazu kommen, dass der Vesuv ausbrach (siehe Pompeji) oder ein Brand um sich griff, nahm man Reißaus, löschte und baute wieder auf.

Risikogesellschaft

In modernen „Risikogesellschaften“[1] dagegen wird alles zum Risiko. Sie ist besetzt („preoccupied“) von der Frage, welche Gefahren in Zukunft drohen könnten. Sie werden „kalkuliert“ und Politik wird weitgehend zum Risikomanagement.

Zurück zu alea iacta est. Wir verknüpfen damit üblicher Weise den Sinn, eine Entscheidung sei unumkehrbar getroffen und habe so folgereiche Auswirkungen, dass nicht mehr diskutiert zu werden brauche, ob sie richtig oder falsch sei. Das verkennt freilich den römischen Sinn. Seine eigentliche Bedeutung ist vielmehr – wie Mary Beard in Anlehnung an Nicholas Purcell[2] sagt – aleatorisch.

Im Auge der Gefahr

Alea iacta est – ist tatsächlich gar nicht so einfach zu verstehen. „Die Würfel sind gefallen“ – das müsste nämlich im Plural iacta sunt heißen. Alea ist aber das Würfelspiel, in dem Würfel geworfen werden. Und das Würfeln hatte für die Römer große Bedeutung. Es war eine römische Obsession. Wenn Römer würfeln, dann hoffen sie auf Glück. Kein Römer hätte versucht, seine Chancen zu kalkulieren. Dass ein sechsseitiger Würfel die Chance von 1 zu 6 gibt eine bestimmte Zahl zu würfeln, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Der Reiz besteht eben darin, dass man nicht weiß, wie’s kommt und sich dem Glück überlässt.

Alea iacta est steht für einen spezifisch römischen Umgang mit Unsicherheit und Gefahren. Die Welt ist ein Würfelspiel. Das ist keine resignative Schicksalsergebenheit. Es ist ein aktives „Management“ der Gefahren „by looking in the eye of danger itself“.[3] Dort, wo man den Ausgang nicht weiß, ist der Würfel ein guter Ratgeber und man weiß, dass gewinnen und verlieren einen Wurf weit entfernt sind. Das eigene Leben und Handeln fügt sich dem ein.[4]

Würfeln statt Orakeln

Delphi – WikiCommons

Der Würfel „entscheidet“ über Sieg und Niederlage, Verlust oder Gewinn. Bei Dingen, die der eigenen Beherrschbarkeit weitgehend entzogen sind, macht es guten Sinn, sich dem Entscheid des Zufalls zu überlassen: alles andere wäre Selbstbetrug. So kann Mary Beard von Stelen berichten, die zu römischer Zeit vor allem im Osten des Reichs in Handelsstädten auf dem Marktplatz standen und nummerierte „Sprüche“ eingemeißelt hatten. Sie gaben Fragen einen Sinn, die mit einem Würfelspiel verbunden waren. Es gab ausfeilte Bücher für einzelne Typen von Fragen, die Würfelergebnisse handlungswirksam machen sollten. Betrachten wir folgendes Szenario: ein Kaufmann möchte wissen, wohin und auf welchem Wege er geladene Ladung bringen soll. Er würfelt sechs Mal und hat dabei das Ergebnis 245154. Er wendet sich dann an eine Auswertungsliste (ggf. auf einer Stele), die dem kaufmännischen Erfolg gewidmet ist und sucht dort nach der 23, nämlich der Summe seiner gewürfelten Werte, und findet dann: „Nimm den kürzesten Weg zum Erfolg und zögere nicht.“ Während er unter 24 gefunden hätte, er solle nach neuen Verbündeten suchen und neue Angebote prüfen.

Dieses Verfahren unterscheidet sich grundlegend von den Orakeln, die bei den Griechen sehr beliebt waren. Der lydische König Kroisos z.B. wandte sich an das Orakel von Delphi, um sich Rat zu holen, ob er in den Krieg gegen die Perser ziehen solle und erhielt die „dunkle“ Antwort, die wie meist vieles offenließ: „Wenn du den Halys überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören.“ Was Caesar der Rubicon, das ist der Halys für Kroisos. Wir ahnen natürlich sofort, dass der delphische Spruch gefahrvoll ist. Das Orakel erfüllt sich anders als von Kroisos erhofft: die Lyder werden besiegt und ins Großreich von Kyros II. integriert. Das delphische Orakel cachiert nur die Unsicherheit und spiegelt in gefährlicher Weise falsche Sicherheit wider.

Das ist nicht der Sinn des römischen Würfelspiels. Es gibt relativ klare und entschiedene Antworten auf Fragen, die der Spieler hat. Dem Spieler ist die Unsicherheit der Situation und der Antwort durchaus bewusst.[5] Das Leben ist ein Würfelspiel, der wirtschaftliche, politische und militärische Erfolg wird regiert durch den Zufall. Wenn Caesar also sein „alea iacta est“ spricht, dann weiß er, dass er nicht mehr Herr der Situation ist. Er entlastet sich durch alea iacta est. Er hat es wohl mit großer Wahrscheinlichkeit als „gebildeter“ Römer griechisch gesagt (ἀνερρίφθω κύβος) und konnte damit auch ausdrücken, wo das griechische Vernünfteln endet und die römische Entschlossenheit, sich der Gefahr zu stellen, beginnt.

Evidenzbasiertes Vorgehen

Risikomanagement kann nur dann erfolgreich und vernünftig betrieben werden, wenn die Risiken abgeschätzt und mit Maßnahmen hinterlegt werden können. Die Maßnahmen müssen auf ihre Wirksamkeit geprüft und gegen Alternativen bewertet werden. Insbesondere dürfen sie keine größeren Schäden hervorrufen als die, die sie beherrschen wollen. Das gilt für die Maßnahmen wie für die Risiken selbst. Der Fokus auf ein bestimmtes Risiko ist selbst ein Risiko. Das bedeutet zugleich, dass ein Risikomanagement dieses Typs nur dort sinnvoll ist, wo diese Bewertung „evidenzbasiert“ möglich ist und nachgehalten werden kann. In komplexer Unübersichtlichkeit ist das nicht der Fall. Andernfalls wird Risikomanagement zur Ideologie und Wissenschaft zum Ersatzorakel.

Und wieder haben wir etwas von den Alten gelernt – auch wenn es unser Handeln leider nicht bestimmt. Aber das ist – wie so vieles – wohl „Corona-bedingt“…

 

[1] So der programmatische Titel eines Buchs von Ulrich Beck: „Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne“ (1986).

[2] N. Purcell, Literate Games, Past and Present (1995).

[3] Cf. Mary Beards Vortrag zu „Risk and Humanities“ in Cambridge am 2. April 2020 im Rahmen der Darwin College Lecture Series: https://youtu.be/HApOSJRAVfU.

[4] Wer bei der Auswahl seiner „Führung“ auf Los und/oder Zufall setzt, der muss sich in diese Fügung fügen: z.B. indem er die Rechte der „erwählten“ sachlich und zeitlich oder Vorbedingungen für die Teilnahme am Losverfahren setzt. Er nimmt Herrschaft als etwas, das sich ereignet und dem man gerecht werden muss, die freilich nicht per se gerechtfertigt und dem geschichtlichen Zufall enthoben ist ( – das wäre, modern gesprochen, Ideologie).

[5] Man vertraut nicht auf die Weisheit der Bücher oder der Orakel. Es sind allenfalls übliche Handlungsoptionen, die Sinn machen, deren Gültigkeit für den fraglich Fall aber nicht gesichert werden kann.

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