Deutschlandglotzen

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2018 gucken „die“ Deutschen 221 Minuten fern. Das sind fast vier Stunden und damit – wie Gerhard Stadelmaier wohl mahnend sagt – „ein Viertel ihrer Wachzeit“. Inzwischen dürften es noch mehr sein – Quarantäne Fernsehen, eben. Und natürlich bezweifelt er, dass es tatsächlich eine wirklich wache Zeit ist, die da Alters- und Generationsstufen übergreifend vor der Glotze verdämmert wird.[1]

„Warum sehen wir fern?“

Warum sehen wir fern?“, fragt Gerhard Stadelmaier gleich zu Beginn und antwortet „Offenbar, weil es uns nach Nähe verlangt.“ Fernsehen bringt das Ferne in die Ent-Fernung. Wir bringen was in die „scheinbare“ Nähe. Fernsehen liefert uns das, was wir „sehen wollen“, was wir uns als Ferne halluzinieren.

Es gibt über die allgegenwärtigen Soaps und Krimis bei Gerhard Stadelmaier einiges Aufschließendes zu lesen. Über die Rolle der Gerichtsmediziner z.B. – es sind vor allem Medizinerinnen ! – und den Umgang mit Leichen … hier sei nichts verraten. Natürlich sieht der Theatermann dabei vieles aus der Perspektive der großen Dramen und Komödien. Shakespeare, Tschechov und Ibsen sind hin und wieder ausdrücklich, zwischen den Zeilen aber immer dabei.

Die moderne Oma …

Es gibt einige Formate die Gerhard Stadelmaier besonders ins Herz geschlossen hat. Eines ist MOMA, das Morgenmagazin von ARD und ZDF. Moma, da schwingt wie Gerhard Stadelmaier schreibt, noch die Oma mit – halt vertraut Heimeliges ohne verstaubt zu sein. Die moderne Oma eben: Moma. Eine gemeinsame Selbstinszenierung der öffentlich-rechtlichen Qualitätsmedien. Immer im Paar wird moderiert, immer korrekt und natürlich modern. Unfassbarer Blödsinn – wenn man Gerhard Stadelmaier glauben darf. Schneefälle als Winterkatastrophen und Hitzewellen im Mai, das Tagesgericht ohne Salz und ein Morgen mit dem Zeitungsausträger. Und immer werden „für unsere Zuschauer wichtige Fragen“ angegangen – warum wird das nur so betont?: wieviel Wasser man im Alter – als MOMA ? – trinken muss oder ob man seinen „Hund vegan ernähren“ kann? Alles immer im völlig vernebelnden Mix – bei mehrfacher Wiederholung der wichtigsten (!) Beiträge: einmal von der Schönheit einer Kreuzfahrt in den norwegischen Fjorden und zwei Tage später, ein Bericht über eine „Expedition“ von Umweltforschern, jungen schmucken, richtig netten Leuten, die in den Fjorden Norwegens auf – natürlich – Besorgniserregendes gestoßen sind.

Ich selbst hab MOMA noch nie, wirklich noch nie geguckt. Meine kleine Tochter würde jetzt wohl fragen: „Haruuum? Haruuum hast Du das nicht geguckt?“ – Hmm, vielleicht einfach nur Glück gehabt? „Haruuum hast Du Glück g’habt? Haruuum?“ Für mich ist diese MOMA einfach schon gestorben.

… und natürlich der Horst

Horst Lichter

Hallo, ich bin der Horst!“ Nichts ist naheliegender als zu antworten: „Ich bin die Anneliese“ in dem nervösen „Wir-kennen-uns-ja-schon-lange“-Vertraulichkeitston, der eben die Nähe herstellen und die Fremdheit als völlig normal ent-fernen will. „Kommen Sie zu uns, wo Sie eh schon lange da sind…“ Bares für Rares ist Programm. Wir suchen etwas, das wir lange besitzen, dem fern-gesehen doch noch Wert zu geben ist. Das Fernsehen zeigt, wie wertvoll Nichtiges doch sein kann, wenn es erstmal auf Sendung kommt. In uns schlummern Schätze, denn das Gute liegt so nah: nachmittag- und gelegentlich auch abendfüllend.

Entmachtung der Politik – der gute Populismus

Und der Horst ist Gerhard Stadelmaier deshalb so wichtig, weil für ihn auch Anne Will, Maybrit Illner, Sandra Maischberger oder Frank Plasberg „Horsts“ sind. Hart, aber fair reimt sich medienkritisch auf Bares für Rares: es geht in beiden um nichts als Unterhaltung, die der Zuschauer daraus zieht, seine Meinungen von prominenten Profis bestätigt zu bekommen. „Verborgen wird im Schein-Offenen des Sendeformats und der Dramatis personae, dass im Ganzen nichts steckt als ein Tausch. Meinung gegen Meinung.[2] Nichts als „Bestätigung des unterschiedlich Vorgefassten“ eben.

Michel Foucault hatte sich in Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1975, dt. 1976) auf Jeremy Benthams Panoptikum bezogen, nämlich die Idee eines idealen Gefängnisses: „Ein kreisförmiges Gebäude mit Zellen entlang der Außenwand und einem Wachturm in der Mitte, der von den Zellen durch eine ringförmige, leere Zone getrennt war. Wichtig war, daß alle Zellen nach innen hin nur vergittert und so vom Wachturm aus jederzeit einsehbar waren, der Wächter im Turm aber von den Insassen nicht gesehen werden konnte. So konnte kein Insasse jemals sicher sein, ob er beobachtet wurde oder nicht.“ Heute ist – so der ehemalige F.A.Z. Redakteur Gerhard Stadelmaier,– das Fernsehen zum Panoptikum geworden, zur „globalen Verwahranstalt freiwillig sich ausliefernder Gefangener“, der „User“ oder „Fernsehkonsumenten“. Dort sehe man „Handlungen ohne Konsequenzen“, „Worte ohne Widerworte“, „Lügen ohne Widerlegung“. Es gehe um eine „Selbstvergewisserung“, dass alles so normal sei, wie es sich im „Fernsehen“ zeige.

Gerhard Stadelmaier vergleicht die Polit-Runden mit einem sozialpädagogischen Stuhlkreis. Die Plasbergs und Wills versammeln „Meinungslieferanten“, die sie wie oberlehrerhafte Gouvernanten zu ihren vorgefassten Statements „herausfordern“: „Das Thema ist heute…

Anne Will

Anne Will „eine der tonangebenden Gouvernanten-Primadonnen“ „gleichsam die Abfrage-Königin eines nationalpolitischen TV-Stuhlkreises, in den sich alle, die in der politischen Öffentlichkeit eine Rolle spielen wollen, ohne Murren einzureihen haben, um schülerhaft dazusitzen und erst dann zu antworten, wenn sie gefragt werden[3]

Die „Leistung“ der „moderierenden“ Gouvernanten ist „im Wesentlichen Ablenkung“. Immer, wenn es dramatisch werden will, wird „eine Art Fernchor“ aufgerufen, der die Diskussion mit diffus zusammengetragenen Berichten wieder erstickend „ausrichtet“. Alles dient der „Bestätigung des unterschiedlich Vorgefassten“: nie hat sich jemand verunsichern oder überzeugen lassen. Alles ist „Verkündigung“ im Quiz-Show Format.

Die Fragen, vermeintlich offen gestellt, unterstellen aber Optionen bei denen einige von vornherein als blödsinnig zu erkennen sind. Der Gewinn wird in Quoten und Gouvernanten-Kommentare auszahlt. Politiker werden zu Unterhaltungsdarstellern: „das Medium pfeift… und der Minister tanzt“. [4] Es heißt „Farbe bekennen“, Frau Bundeskanzlerin. Und mit „Was nun“ wird sie aufgefordert einen Halbsatz zu ergänzen: „Dass Markus Söder ein guter Kanzlerkandidat der CDU wäre…“ vollendet sie souverän mit „… lese ich in der Zeitung“. Einmalig. Was braucht es da noch ein Parlament, wenn man die Talkshow gewinnt.

Corona Fernsehen

Gerhard Stadelmaier hat seinen Selbstversuch in der Tradition eines Morgan Spurlock (Super Size) oder eines Michael Moore (Bowling for Columbine und Michael Moore in TrumpLand) 2020, also in „Corona-Zeiten“, unternommen. Das hat seine Spuren hinterlassen.

ARD-Brennpunkte, die als „Sondersendungen“ urplötzlich ins Programm genommen wurden, weil die eingetroffene Katastrophe einfach nicht vorhersehbar war. ARD-Extra und “heute-Spezial“, sie zelebrieren was das Fernsehen am meisten liebt: Katastrophen. „Und natürlich war jedes ‚Spezial‘ ganz und gar unspeziell“ und die Spezial-Show sollte nur noch einmal versichern, „dass der Zuschauer ‚bei uns, den Öffentlich-Rechtlichen‘ die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit vermittelt bekomme“ – was jetzt als „Fakten“ bezeichnet wird.[5]Freilich war alles, wovon im ‚Spezial‘ die Rede war, schon vorher ausführlich in den ‚heute‘ oder den ‚Tagesschau‘-Nachrichten vorgekommen.“ Aber die dramatisierte Wiederholung ist die eigentliche Botschaft.

Das „Zauberwort, das nicht nur in der Politik, sondern vor allem im Fernsehen eine große Rolle spielt, ist ja das Wort ‚Wissenschaft‘. Alles, was Wissenschaft ist, wird im deutschen Fernsehen … verehrt und geglaubt[6] Allerdings müsste man besser sagen, was sich „als Wissenschaft“ dem „breiten Publikum“ darstellen lässt: auch was als Wissenschaft gelten darf verkündigen die öffentlich rechtlichen Volkssender. Von offenen Punkten, kritischen Fragen und Widersprüchen ist da natürlich nicht die Rede: Es gibt nur vergangenes Falsches („früher wurde vielfach angenommen …“) und gesendete Wahrheit („heute ist sich die Wissenschaft darin einig …“). Das gilt natürlich vor allem für die „Weltbedrohung“, die schlimmste Krise seit dem WWII. „Das Fernsehen zeigte in jenen Tagen paradoxerweise nicht, was fern und fremd und neu und unheimlich“ war, denn es selbst hatte „vor allem das Unheimliche eingebürgert …. Oder zynischer gesagt: Man hatte sich an den Ausnahmezustand als die ‚neue Normalität‘ trotz der gravierenden Einschränkungen gewöhnt wie noch an jede Krise. Mit Hilfe der täglichen Repetition im Fernsehen, das auch eine gewaltige Gewöhnungsmaschine ist.[7]

Wenn im heute journal nach der Verlesung der neuesten Zahlen der PCR-Tests durch Marietta Slomka, Gerhard Stadelmaier nennt sie die „faktensortierende Aufsichtsführerin“, zur Vertiefung auf die nachfolgende Sendung mit dem unverfänglichen, nichts präjudizierenden Titel „Konsequent gegen Corona – Können wir schon lockerlassen?“ verwiesen wird, dann dürfen wir uns auf einiges gefasst machen. Journalismus vom Feinsten eben. Rares für Bares. Es wundert dann auch niemanden mehr, dass „das Fernsehen“ „ganz ungeniert im Namen der Nation“ „kollektiv emphatisch ‚Danke‘“ sagt – „unseren“ Krankenschwestern und Pflegern und allen die …

Die „Demokratieabgabe“

„Fernsehen“, das ist „eine gewaltige Gewöhnungshilfsmaschine“. Und so was kostet. Immer wieder erwähnt Gerhard Stadelmaier mit kritischem Unterton die „Zwangsabgabe“, die „altmodisch ‚Rundfunkgebühr‘ genannt“ wird, aber „eigentlich eine Steuer“ ist. Wofür? Ein WDR-Chefredakteur hat sie einmal „eine Demokratieabgabe“ genannt.[8] Eine Demokratiesteuer also, vergleichbar der Tabak- oder Weinbrandsteuer? Ja, Demokratie gibt es nicht umsonst, sie muss schon „erkauft“ werden – zumal eine, die viel Show braucht, um sie glaubhaft und erträglich zu machen.

Kopfschüttelnd lässt uns Gerhard Stadelmaier kopfschüttelnd zurück: das darf doch alles gar nicht war sein. Ist es aber. Weil „wir“ es so wollen. Wir werden mit dem bedient, was wir wünschen. Fernseh-Gucken ist die besteuerte Trostlosigkeit. Das Ferne rückt uns nicht näher, so dass wir etwas sähen, was wir sonst nicht gesehen hätten. Und schon gar nicht bereichert es uns. Das wir aus der Ferne sehen, sind wir selbst. Nur wissen wir jetzt, dass alles das, wir eh’ schon glauben, richtig ist und gut. Alternativlos eben. „Hab ich schon mal gesehen – im Fernsehen …“ So ist die Welt, die Politik, unser Leben.

 

 

[1] Wer nun auf die Jugend hofft, weil die ja jetzt „Internet-Gucken“ statt Fernsehen, der ist vermutlich ein hoffnungsloser Optimist, will sagen, einer der die Hoffnung verloren hat, weil er alles „voll OK“ findet. Das Internet macht alles noch ausdrücklicher: die billigen Soaps werden noch billiger und die anspruchsvollen sind es, weil sie anspruchsvoll „teuer“ gemacht sind. Die Information kommt aus der Info-Blase, der ich mich mit jedem Klick einverleibe und ihre Informationsqualität entspricht der Anforderung eines Tetris-Spiels: kurz und schmerzlos und schnell wiederholbar. Spiel mich noch einmal – es ist doch sonst auch nichts los.

[2] S. 87.

[3] S. 39.

[4] S. 95.

[5] S. 44

[6] S. 43.

[7] S. 51.

[8] S. 98.

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